Édouard Louis Das Ende von Eddy S. Fischer 2015
208 Seiten
18,99 €
„Das Ende von Eddy“ ist der Debutroman des jungen Franzosen Édouard Louis, der gebürtig Eddy Bellegueule heißt und um dessen Autobiografie es sich bei diesem Werk eigentlich handelt. Das Buch erzählt die tragische und schockierende Geschichte des jungen Franzosen, der in seinem Heimatort diffamiert und auf grausamste Weise misshandelt und gedemütigt wird. Es behandelt jedoch nicht nur die Homosexualität des Protagonisten bzw. Autors, sondern auch den Umgang mit den im Norden Frankreichs immer noch erstaunlich konservativen Geschlechterrollen. Eddys Leidensweg beginnt damit, dass er anders geht als die anderen Jungs im Ort, anders als seine doch so „männlichen“ Brüder, und damit, dass er eine hohe Stimme hat. All diese Äußerlichkeiten lassen ihn von klein auf zum Gespött der Leute im Ort werden, die ihn auslachen und mit seinen Eltern über ihn reden. Als er das alles mitbekommt, versucht er krampfhaft seine äußere Erscheinung zu ändern. Als wäre all das nicht schon schlimm und traumatisierend genug, so wird es noch schlimmer, als herauskommt, dass er schwul ist und zwei Klassenkameraden anfangen, ihm aufzulauern und ihn zu misshandeln. Sie treten ihm in den Bauch, bespucken ihn und zwingen ihn die Rotze abzulecken, beschimpfen ihn aufs derbste und lachen ihn aus. Und das an jedem Tag seiner Schulzeit. Diese Misshandlungen finden statt, nur weil Eddy anders liebt, anders als sie es tun wollen, von Können kann nicht die Rede sein. Zu tief sitzt der Hass auf Schwule, auf alles was nicht so ist wie sie, also wie die „echten, harten Kerle“ im Ort. Nach Jahren der Unterdrückung und der Misshandlung gelingt es ihm irgendwann aus diesem Kaff zu verschwinden, er geht auf eine weiterführende Schule in einer anderen Stadt. Er lässt sein Leben als Eddy hinter sich und beginnt ein neues Leben, sein Leben als Édouard Louis.
Soviel zu dem Roman, welcher mich zutiefst erschüttert, aber auch gleichzeitig aufgrund seiner schonungslosen Ehrlichkeit sehr berührt hat. Schockierend ist, dass selbst in den 90er Jahren und dem 21. Jahrhundert Homosexualität in Frankreich, wenn auch im Hinterland, so sehr missbilligt wird. „Das Ende von Eddy“ ist gewiss keine Coming-Out-Story, es ist auch kein Ratgeber oder etwas dergleichen, sondern ein Buch voller Gefühl über den Mut, der zu sein, der man sein will. Ich habe in letzter Zeit viel Literatur zu diesem Thema gelesen und frage mich, ob es in unserer heutigen Gesellschaft, wo Homosexualität in vielen Ländern akzeptiert oder zumindest toleriert wird, ob es dort überhaupt noch nötig ist, sich zu outen. Warum soll die Frage danach, ob jemand Homo-, Hetero-, A-, Bi-, Trans- oder sonst wie sexuell ist, im Alltag überhaupt noch eine Rolle spielen? „Das Ende von Eddy“ gibt einen schockierenden, aber höchst authentischen Einblick in die Welt der jungen Homosexuellen in Frankreich und regt zum Nachdenken darüber an, was noch getan werden muss, damit alle Menschen, egal welche Sexualität sie leben oder welchem Geschlecht sie angehöre, so leben können, wie sie es wollen.
Crimeflair
Crimeflair ist Praktikantin im Archiv und betreibt einen eigenen Blog
Für mich ist das Bikini Kill-Fanzine ein ganz besonderes Riot Grrrl-Fanzine. Ich liebe die gleichnamige Band Bikini Kill einfach bis heute für Songs wie „Rebel Girl“ oder „Suck my left one“ und drei der Bandmitglieder sind auch für dieses Fanzine verantwortlich. Allein deshalb bin ich schon ein Fan dieses Zines. Mir bedeutet dieses Heft aber auch deshalb so viel, weil ich mich als Feministin mit den dort vertretenen Riot Grrrls-Forderungen und –Idealen, nämlich den Feminismus aus den Hörsälen der Universitäten auf die Bühnen in den Clubs zu holen, auch persönlich identifizieren kann.
Neben der Musik waren die Zines das zentrale Kommunikationsmedium zur Vernetzung und zum Austausch der Riot Grrrls untereinander. Auch wenn die Hochphase der Bewegung Anfang der 1990er Jahre in der kleinen nordamerikanischen Stadt Olympia bereits längst vorüber ist, so bleiben die Themen, die im Bikini Kill #2 behandelt werden, bis heute (leider!) aktuell. Das Heft beschäftigt sich auf kritische Weise mit brisanten Themen wie Geschlechterrollen, Homophobie, sexuellem Missbrauch/Belästigung, Vergewaltigung, Fatshaming oder Sexismus in der Musikwelt. Das sind Themen, die sich auch in Zeiten von #aufschrei und antifeministischen Backlashs in den Medien und der Gesellschaft unschöner Kontinuitäten erfreuen. Umso mehr freut es mich, dass bedeutende Riot Grrrls wie Kathleen Hanna und Kathi Wilcox auch heute noch aktiv sind und weiterhin gegen gesellschaftliche Missstände anschreien. Revolution Grrrl Style Now!
Schwule oder lesbische Charaktere in Serien und Filmen sind mittlerweile nichts Neues mehr. Schwule oder lesbische Paare oder generell homosexuelles Begehren sind in die Plots vieler hochwertiger Formate eingeflossen, findet sich aber auch schon seit längerem in Mainstream-Soap-Operas. Auch im Bereich der explizit queeren Filme und Serien ließe sich hier eine lange Liste anführen. Ganz zu schweigen von schwulen, lesbischen oder queeren Musiker*innen im Pop- und Subkulturbereich. Und auch wenn Homofeindlichkeit, sei es in Form von verbalen Anfeindungen, lückenhafter rechtlicher Gleichstellung oder gewaltsamen Übergriffen, immer noch ein mehr als ernst zu nehmendes Thema in der Gesellschaft ist, ist es für Politiker*innen, Fernsehmoderator*innen oder Musiker*innen heutzutage kein wirklicher Karrierebruch mehr, sich als homosexuell zu „outen“.
Im Bereich der Sichtbarkeit und Wahrnehmung von transsexuellen Menschen in der Popkultur wie auch in der Gesamtgesellschaft sieht die Sache dahingehend noch ganz anders aus. Auch die Bekämpfung von Transfeindlichkeit steht oftmals im Schatten ihres „großen Bruders“, dem Kampf gegen Homofeindlichkeit. Das Anliegen dieses Textes ist aber sicher nicht diese beiden Formen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gegeneinander auszuspielen. Vielmehr ist es momentan sehr spannend zu beobachten, wie das Thema Transsexualität und Transgender in verschiedene Bereiche der Popkultur Einzug hält.
Sicherlich kann dahingehend angemerkt werden, dass es schon einige Filme gibt, die sich mit den Themenfeld Geschlechteridenität generell bzw. Trans- oder auch Intersexualität beschäftigen. XXY, Transamerica, Boys don’t cry sind dafür zum Teil preisgekrönte Beispiele, allerdings der auch nicht mehr ganz neuen Art.
Trailer Transamerica:
Neue Serien, die Trans zum Thema machen
Der größte Entwicklungssprung findet sich da eher bei Fernsehserien der vergangenen beiden Jahre, jedenfalls bezogen aus den US-amerikanischen Markt. Mit Orange is the New Black und Transparent wurden gleich zwei Serien zu Überraschungserfolgen, die sich dem Thema Transsexualität/Transgender auf unterschiedlichen Ebenen widmen. In dem Netflix-Serienhit Orange is the New Black verkörpert die Schauspielerin Laverne Cox die Rolle der Sophia Burset, eine transsexuelle Figur, die als Gefangene in einem New Yorker Frauengefängnis ihre Strafe verbüßt.
Laverne Cox über ihre Rolle und generell über die komplexen Figuren in Orange is the New Black:
Jenji Kohan besetzte die transsexuelle Figur der Sophia Burset in Orange is the New Black bewusst mit einer transsexuellen Person und setzte damit ein Zeichen für die Transcommunity. Denn es wurde immer mal wieder Kritik laut, auch in Bezug auf einige der oben genannten Filme, dass die Rollen in der Regel mit Schaupieler*innen besetzt werden, die nicht selbst transsexuell/transgender sind. Ähnliche Kritik gab es auch bei der Besetzung von Jared Leto in dem Film Dallas Buyers Club, in dem Leto die HIV-erkrankte Transfrau Rayon verkörpert. Die Kritik verstärkte sich noch, nachdem Leto 2015 für diese Rolle den Oscar gewonnen hat.
Bei allen berechtigten Kritikpunkten und den Leerstellen bei der Repräsentation von Transmenschen in diesen neuen Serien, ist es wichtig zu sehen, dass Drehbuchautor*innen und auch Sender (in diesem Fall nicht klassische Kabel- oder Privatsender, sondern Internetstreamingdienste wie Netflix und Amazon Prime) überhaupt solche Serien konzipieren und in Produktion geben. Sie tragen dadurch dazu bei, dass der Tabuisierung von Transsexualität und Transgender in der Gesellschaft entgegengewirkt wird, und sorgen für mehr Sichtbarkeit von Transmenschen und ihren auch ganz alltäglichen Problemen.
In Transparent entscheidet sich die Serienfigur nach vielen Jahren „in the closet“ fortan als Frau zu leben. Dort setzt die Serie an und begleitet Moira Pfefferman bei ihren ersten Alltagshandlungen und -situationen als Frau in der Öffentlichkeit, inklusive der damit verbundenen Diskriminierungen. In einer Szene steht Moira mit ihren beiden Töchtern in einem Kaufhaus vor den Toiletten, die nur zwischen Männer und Frauen unterscheiden. Die Unsicherheit von Moira, welche Toilette sie in diesem frühen Stadium der Transformation nehmen soll, ist sicher ein gut nachvollziehbarer Moment. Neben solchen Situationen und den Reaktionen der Öffentlichkeit geht es in Transparent aber auch um die persönliche Ebene, sprich zeigt sie den Umgang der Familie mit Moiras Entscheidung, als Frau zu leben, in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit. Mit Verwunderung, Irritation und Unsicherheit und erst langsam wachsender Akzeptanz reagieren vor allem Moiras drei Kinder. Das die gesamte Familie von Dysfunktionalität und charmanten Egozentrismen geprägt ist und diese Aspekte durch den großartigen Cast mit viel Witz transportiert werden, hat sicherlich dazu beigetragen, das Transparent eine so breite Öffentlichkeit erreicht und bereits viele Preise (Golden Globe Award, GLAAD Award) gewonnen hat.
Trailer der ersten Staffel Transparent (deutsche Version):
Musik und Trans
Auch in der Musikwelt ist das Thema Transsexualität und Transgender eher eine Randnotiz. Umso schöner ist es, dass ausgerechnet im doch stark männerdominierten und heteronormativen Punk- und Hardcore-Bereich diesbezüglich Bewegung reinkommt. Denn mit Mina Caputo, den meisten sicherlich eher als Keith Caputo von Life of Agony bekannt, und Laura Jane Grace von der Punkrockband Against Me! gibt es aktuell gleich zwei Beispiele, die Vorbildcharakter haben und die Sichtbarkeit von transsexuellen Menschen in der Musikwelt erhöhen. Laura Jane Grace ist außerdem die Hauptprotagonistin der Webserie True Trans. Dort werden nicht nur die Etappen, wie sie von Tom Gable zu Laura Jane Grace wurde, gezeigt, sondern es geht auch um die Geschichten von mehreren anderen transsexuellen Menschen, die in kurzen Episoden über Liebe, Familie, Akezptanz und Ablehnung, Suizidgedanken, Geschlechtsumwandlung, Diskriminierung und Empowerment sprechen.
Die erste Episode von True Trans „Growing Up“:
Interview mit Mina Caputo:
Trailer zu The T-Word auf MTV, moderiert von Laverne Cox:
James Franco als Tausendsassa zu bezeichnen ist sicher keine Untertreibung. So scherzte auch Anke Engelke bei der Eröffnung der 65. Berlinale jetzt nicht ganz zu Unrecht, dass Franco wohl den Weltrekord halten würde, als Schauspieler mit den meisten Filmen. Denn ob vor oder hinter der Kamera, ob in Hollywood-Blockbustern oder Independentproduktionen: Das filmische Schaffen von Franco, mit gerade mal 36 Jahren, ist enorm. Doch Franco nur auf Filme zu reduzieren, würde seinem umtriebigen Wesen nur ansatzweise gerecht werden. Er ist, oder besser gesagt, möchte doch viel mehr sein als nur ein Schauspieler. Seine Ausflüge in die Regiewelt, Literatur und auch sein Tun als Drehbuchautor und Filmproduzent scheinen ihm da jedoch nicht zu genügen. Vor allem die Kunst hat es ihm angetan. So ließ er sich von Marina Abramovic, der berühmten Performance-Künstlerin, zu einer in Blattgold gehüllten Statue umwandeln und macht auch selbst Kunst. Im Rahmen seiner Ausstellung Gay Town, die 2013 in Berlin gezeigt wurde, beschäftigte er sich mit Fragen von Männlichkeit, Homosexualität und Homophobie und den Starkult um seine eigene Person.
Doch trotz seines vielschichtigen Künstlerdaseins ist der Filmstar Franco dabei doch immer noch seine berühmteste Rolle. Und er ist Berlinale Dauergast. Auch in diesem Jahr ist er wieder mit drei Filmen vertreten. Wie so oft bei Franco, bewegt sich auch diesmal einer der Filme im LGBTI-Kosmos. Denn Franco spielte schon des Öfteren homosexuelle Rollen, wie z.B. in Howl oder in Milk. In I am Michael spielt Franco den Gayrights-Aktivisten Michael Glatze, der sich Ende der 1990er Jahre in San Francisco für schwule und lesbische Jugendliche engagiert hat und später die Zeitschrift Young Gay America gründete. Das Spielfilmdebut des Regisseurs Justin Kelly beruht auf einer wahren Begebenheit und zeichnet das Leben und vor allem den Wandel des Michael Glatze nach, von einem durch Queer Theory geprägten Gayrights-Aktivisten hin zu einem christlichen Fundamentalisten, der Homosexualität später radikal ablehnt.
Doch wie kommt es zu dieser widersprüchlichen Metamorphose? Das versucht der Film durch das Gegenüberstellen verschiedener Zeitebenen und Lebensphasen von Michael nachzuzeichnen. Am Anfang sehen wir ihn, wie er einem jungen Mann gegenübersitzt, der ihn fragt: „Warum hat Gott mich schwul gemacht?“. Michaels Antwort: „Es gibt keine Homosexualität, das ist eine falsche Identität. Wenn du zu Gott finden willst, dann kehre auf den Pfad der Heterosexualität zurück“. Eine verstörende Anfangsszene. Danach springt der Film zehn Jahre zurück und zeigt ebendiesen Michael Ende der 1990er Jahre in San Francisco. Er lebt offen schwul mit seinem Freund zusammen, nimmt ab und an andere Männer für einen Dreier mit nach Hause, konsumiert Drogen, feiert ausgelassen in Technoclubs und arbeitet für ein schwules Magazin names XY. Doch brutale Übergriffe auf Homosexuelle bringen ihn dazu, sich gegen Homophobie zu engagieren. Er hält Vorträge an Schulen und startet ein Filmprojekt, in dem er quer durchs Land reist und junge queere Amerikaner_innen porträtiert. Er möchte mit der Dokumentation die „Gay Youth of America“ sichtbar machen, ihr eine Stimme geben und dem ganzen Hass und den Hate Crimes gegenüber Homosexuellen Empowerment und ein Wir-Gefühl gegenüberstellen. Durch seine Leidenschaft, Eloquenz und sein Charisma wird Michael schnell zu einem Vorbild in der Gay Community.
Doch durch plötzlich auftretende, unerklärliche Brustschmerzen, die Panik und existentielle Ängste in ihm hervorrufen, erfolgt ein Bruch in Michaels Leben. Er befürchtet unter demselben genetischen Herzfehler zu leiden, an dem auch sein Vater starb. Ärzte bescheinigen ihm zwar vollkommene Gesundheit, doch Michael ist weiterhin geplagt von Panikattacken und geradezu besessen von die Idee, dass er bald sterben wird. Er zieht sich in seiner Verzweiflung immer mehr zurück, sucht für seinen erschütterten Lebensmut Halt und Antworten in der Bibel, beschäftigt sich mit dem Leben nach dem Tod und beginnt heimlich zu beten. Vor allem die Suche nach seinem wahren Ich treibt ihn fortan um und die Frage, welchen Weg er einschlagen muss, um dieses Ich freizulegen. In dem Spannungsfeld zwischen seiner gelebten Homosexualität und dem immer stärker aufkeimenden Glauben bewegt sich der Film daraufhin und begleitet Michaels Weg in den religiösen Fundamentalismus. Er trennt sich von seinem Freund, versucht mit Frauen zu schlafen und besucht letztlich eine Bibelschule, um Priester zu werden. Er bloggt fortlaufend über seinen Findungsprozess und dem damit verbundenen Ringen um Erkenntnis und verkündet schließlich, sich nicht mehr als schwul zu identifizieren und setzt obendrauf, dass er schon immer „ein heterosexueller Mann war, der nur ein homosexuelles Problem hatte.“
Der Film trifft sehr gezielt in die Magengrube, denn diese atypische Wesensveränderung von Michael Glatze schmerzt in vielerlei Hinsicht. Seine religiösen Aussagen im Film zu Homosexualität verstören und machen fassungslos und wütend, da sie in so großem Kontrast zu dem „alten“ Michael stehen. Tragisch erscheint zudem auf der persönlichen Ebene, wie seine radikalen Entscheidungen viele Menschen in seinem Umfeld verletzen. Es ist ein sehr subjektiver Film, der zugleich liebevoll und schonungslos die bisherigen Lebensphasen des Michael Glatze und die Suche nach seiner sexuellen Identität nachzeichnet. Es ist das Porträt eines extremen, fast schon schizophren wirkenden Einzelfalls und auf gar keinen Fall generalisierbar. Die Figur des Michael wirkt durch den Handlungsverlauf am Ende definitiv nicht mehr als Sympathieträger, doch schafft es der Regisseur zugleich, ihn nicht zu diffamieren. Die Machart des Films lässt hoffen, dass die Gefahr eher gering sein wird, dass er von homophoben Strömungen für ihre Anti-Gay-Agenda instrumentalisiert werden wird.
Auf der Metaebene behandelt der Film zudem Fragen der Identitätsfindung, die uns alle betreffen und bei denen das Verhältnis von Sexualität und Religion zueinander immer wieder neu verhandelt werden muss. Nicht nur unbedingt im Privaten, sondern generell im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn auch fernab fanatischer religiöser Rhetorik à la „If you are gay you go to hell“, zeigt sich unter anderem in Fragen der rechtlichen Gleichstellung von LGBTI in vielen liberalen Gesellschaften immer noch die stärke Prägung durch ein wertkonservatives, christliches Weltbild.
Der Film ist noch am Samstag auf der Berlinale zu sehen, mit etwas Glück gibt es vielleicht noch Tickets. Der reguläre Filmstart steht noch nicht fest.
Donna P. Hope Man Vibes – Masculinities in the Jamaican Dancehall Ian Randle Publishers (Jamaica) 2010
256 Seiten
24,95 $
„Bad Man nuh dress like Gyal“. Dieses Mantra jamaikanischer Dancehallkultur, Männer ziehen sich nicht wie Frauen an, schien unumstößlich und mit ewiger Gültigkeit versehen. Doch kurz nach der Jahrtausendwende trugen sich seltsame Dinge zu auf der kleinen Karibikinsel: Männer, echte Männer, Dancehallstars, die Ohrringe trugen, sich die Haut bleichten, die Hosen enger trugen als die meisten Frauen es je taten.
Wie konnte es soweit kommen? Donna P. Hope hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht. Sie ist Dozentin am Karibischen Institut der University of the West Indies für das weltweit wohl einzige Fach Reggaestudien. Schon in ihrer Doktorarbeit beschäftigte Hope sich mit Identitätsbildung in Jamaika und speziell in der Dancehall. In diesem Buch, Man Vibes – Masculinities in the Jamaican Dancehall, befasst sie sich detailliert mit den diesen Bereich dominierenden männlichen Protagonisten. Anhand von Interviews mit Dancehallfans aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten sowie mit Hilfe von Liedtexten beleuchtet sie die vielfältigen Facetten des Männlichkeitsbildes in der Dancehall.
Dancehall ist dabei mehr als eine Disco, ein Ort, wo getanzt und getrunken wird. Hier werden in Form von Auftritten von Artists, sozialer Interaktion und durch bestimmte Lieder mit ihren Inhalten Identitäten geprägt, verhandelt und verändert. Während bis in die Achtziger hinein das Idealbild des jamaikanischen Mannes vorwiegend durch die Uptown wohnende Oberschicht geprägt war, konnten die unteren Schichten im Zuge der wachsenden Popularität der Dancehall ihre Vorstellungen stärker verbreiten. An vielen Punkten überschneiden sich die beiden Bilder, teils sind jedoch gravierende Abweichungen zu beobachten.
War früher der wohlhabende Familienvater mit Job eher das Ideal, setzten Dancehallstars den „Gyallist“ entgegen, den Mann, der Sex mit möglichst vielen Frauen hat und dies auch in seinem Nachwuchs manifestiert. Die biologische Funktion der Vaterschaft, der Mann als Quelle neuen Lebens, der seinen Samen pflanzt, dient zur Aufwertung des Mannes und wird klar über die soziale Funktion – Fürsorge, Zärtlichkeit, Zusammengehörigkeit – gestellt. Es entsteht so eine Entfremdung vom Vater und exzessive Verbindung mit der Mutter, beziehungsweise Tante oder Oma, die eine prägende Funktion für die Identität der Männer besitzt.
Hope betont, dass das Männlichkeitsbild fast ausschließlich von Männern selber definiert wird. Neben der Dominanz über Frauen sind die erwähnte Promiskuität sowie eine strikte Heterosexualität die wesentlichen Merkmale dieser Idealvorstellung. Dies beinhaltet auch eine starke Ablehnung jeglicher Homosexualität, ein Thema, das außerhalb Jamaikas in den letzten Jahren zu heftigen Angriffen auf Dancehallmusik führte und in deren Folge Reggae zu „Murder Music“ mutierte, die auf eine Stufe mit Nazirock zu stellen sei.
Hope sieht eine fast schon pathologische Angst der jamaikanischen Männer vor allem Weiblichen als Ursache für die Abneigung gegen Schwule. Dem „Delilah Komplex“ (nach der biblischen Geschichte von Delilah, die ihren Mann Samson verriet) folgend, werden Homosexuelle als Verräter gesehen, die eine Gefahr für männliche Hegemonie darstellen. In Hopes Augen ist Homophobie nichts anderes als Frauenphobie. Das Aufkommen vermehrter „Batty Boy“ Lyrics sieht sie als Reaktion auf die zunehmend öffentlicher werdende Wahrnehmung von Homosexuellen in Jamaika, während zuvor eine stillschweigende Duldung von Homosexualität herrschte, solange sie nicht offen ausgelebt wurde.
Der Kreativität der Dancehallartists hat der Konflikt jedenfalls nicht geschadet, statt direkter Angriffe auf Schwule lässt beispielsweise Wayne Marshall wissen, er werde gewiss kein „Ass tronaut“, der zum „Ur Anus“ fliegt. Queen Ifrica lässt Zweifel an der Frauen /Homophobie These aufkommen, wenn sie als weiblicher Rasta singt: „I dont want no fish (Gay) inna me ital dish“.
Donna P. Hope hat ein sehr interessantes, wissenschaftlich gehaltenes Buch verfasst, wobei an manchen Punkten ihre akademische Distanz zur Dancehall zu Fehlschlüssen führte, so wenn sie „Hardcore Sex“ mit Gewalt assoziiert. Vor allem wird deutlich, wie lebendig in der Dancehall „diskutiert“ wird und Positionen ausgehandelt werden. So lassen es sich einige Stars nicht nehmen, ihre aus europäischen Modemetropolen, afrikanischer Liebe zur Kostümierung und US Rapperattitüde zusammengeklaubte Erscheinungsform mit rasierten Augenbrauen und Tight Pants als das definitive „Bad Man“ Image zu verkaufen, auch wenn einige weibliche Artists mit Blick auf ältere Vorbilder kontern: „You should be Ken and not Barbie“.
Dan von Medem
(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)