Begrabt mein Herz am Heinrichplatz

Sebastian Lotzer
Begrabt mein Herz am Heinrichplatz
bahoe books 2017
172 S.
14 EUR

begrabt_mein_herz_am_heinrichplatz.jpgLotzer beschreibt in seinem Roman das Leben seines Alter Ego Paul in der autonomen Szene Westberlins zwischen 1980 und 1995. Paul, über den Lotzer stets in der dritten Person schreibt („Paul holt sich noch ein Bier …“) ist in Berlin geboren und stößt als Schüler zur Hausbesetzerbewegung. Nach deren Zerfall beteiligt Paul sich an den weiteren Aktionen, Kampagnen und Debatten der Autonomen. Das Buch ist in 45 Szenen unterteilt, die in zwei große Blöcke gegliedert sind: Der erste („Nur Stämme werden überleben“) beschreibt die Zeit vor dem November 1989, der zweite („Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“) die danach.

Ein Großteil des Textes besteht aus auf die Dauer ermüdend wirkenden Schilderungen von Straßenmilitanz bzw. von Konfrontationen mit der Polizei. Für die autonome Bewegung jenseits von Berlin ikonografische Ereignisse wie etwa der Überfall der Polizei auf den Brokdorf-Konvoi bei Kleve im Juni 1986, die Hafenstraße im Dezember 1986 oder die Ereignisse in Rostock 1992 kommen ebenfalls vor. Wichtige szeneinterne Debatten, etwa der Fall Kaindl 1992/93, oder das Verhältnis zu den Revolutionären Zellen, werden angeschnitten, es muss aber offen bleiben, ob sie ohne genauere Kenntnis von Texten heute verständlich sind. Unter http://heinrichplatz.bahoebooks.net/ hat Lotzer (der laut Verlagswebsite eigentlich ganz anders heißt, und, wenn er Zeitzeuge ist, was zu vermuten ist, heute Mitte 50 sein dürfte) sehr hilfreiche Text und Videodokumente zu den 45 Abschnitten zusammengestellt.

Das Buch ist dort stark, wo Lotzer, bzw. Paul Unwissenheit und Unsicherheit zulässt, ja von Melancholie angesichts der eigenen „Niederlagen“ und des gesellschaftlichen Trends der postmoderner Individualisierung berichtet. Hier hätte wirklich Neues erzählt werden können. Oft gleiten diese Passagen dann aber in exotisierende Beschreibungen von Reisen nach Rom oder an die baskische Atlantikküste ab. Wie Paul seine nicht zuletzt durch politische Entwicklungen verursachten Krisen verarbeitet, und so oder dadurch dann seine politische Ethik und sein Engagement aufrechterhalten kann, wird nicht wirklich deutlich.

Zwei große, erst recht für das sich widerständig dünkende Leben grundlegende Bereiche fallen ebenfalls durch Abwesenheit auf: Da wäre zum einen die Ökonomie. Außer von einem relativ bequemen Job in Nachtschicht bei der Post zu Anfang der 1980er Jahre kommt die Einkommenssicherung jenseits von Ladendiebstahl nicht vor. Zweitens: Paul ist heterosexuell und außer einer wirren „Beziehung“ zu einer Frau namens Cora, über die der Leser und die Leserin kaum etwas erfährt, kommen Frauen im Roman im Grunde nicht vor. Freundschaften gibt es nur zu Männern; ob diese aber wirklich tragfähig und von Dauer sind, erschließt sich nicht.

In den Schilderungen der Straßenmilitanz und des Lebens in den besetzten Häusern ist das Buch stark, in der Zeichnung des Empfindens und der Motivation des Protagonisten in meinen Augen eher schwach. Der Roman ist aber eines der wenigen Beispiele, in denen das Leben in der radikalen Linken überhaupt literarisch verarbeitet wird, und schon alleine deswegen wichtig (1).

Bernd Hüttner

(1): Einige weitere Beispiele mit Stand 2007 (!) finden sich auf „Für eine ´Geschichte von unten` der radikalen Linken – Literaturempfehlungen“.