Auf dem Klo habe ich noch nie einen Schwan gesehen

Conne Island (Hg.)
Auf dem Klo habe ich noch nie einen Schwan gesehen. Erinnerungen aus 30 Jahren Conne Island
Verbrecher Verlag 2021
280 Seiten
20 Euro

Das linke Zentrum Conne Island existierte 2021 in Leipzig seit 30 Jahren. In diesem größten, und vermutlich wichtigsten linken Ort in der Stadt, wenn nicht in ganz Sachsen, haben sich in diesem Zeitraum hunderte von Personen engagiert, im Moment sollen es 150 sein. Dieses Buch versucht anhand von 20 persönlichen, auf Interviews beruhenden Geschichten, deren Vielfalt an Motivationen, Zugängen und Perspektiven abzubilden.

Die Leser*innen erwartet in den Texten ein breites Spektrum an Erfahrungen und Hintergründen. Erlebten einige noch das Punk-Sein in der DDR vor 1989, wurde andere in diesem Zeitraum erst in der westdeutschen Provinz geboren und zogen erst sehr viel später nach Leipzig. Andere sind von der jahrelangen Nutzung und Gestaltung des Skate-Parks auf dem Gelände geprägt, wieder andere berichten von den ausdifferenzierten, aber oft umso schärfer mündlich und schriftlich ausgetragenen politischen Debatten (Stichwort: «Antideutsche»). Das Buch erzählt von den Anfangszeiten des «Conne Island» in den 90ern, als den Nazis auch mal «einen auf den Gong gegeben» wurde, wenn diese das Zentrum angriffen – oder wie es sich anfühlt, als einzige Schwarze auf einem Hardcore-Konzert zu sein. Eine DJ erzählt, dass sie ohne das Conne Island nie auf die Idee gekommen wäre, selbst aufzulegen, und was das mit aktuellem Feminismus zu tun hat; oder eine politische Aktivistin, warum sie dem Ort den Rücken gekehrt hat.

Es ist also kein objektiver Überblick. Das Buch zeichnet aus persönlicher Sicht Debatten und Diskussionen der letzten Jahre fragmentarisch nach, und blickt damit auf subkulturelle und linksradikale Lebensläufe und Prägungen in Ost- und Westdeutschland. es möchte auch den vieldiskutierten Dialog zwischen den Generationen anregen und fördern. Immer wieder kommt auch die sich wandelnde Rolle und kleiner werdende Bedeutung des Zentrums für den Stadtteil Connewitz und Leipzig insgesamt in den Blick. Die nicht zuletzt daherkommt, dass es nun, im Unterschied zu den 1990ern, viele andere Orte für Politik und Subkultur in Leipzig gibt.

Eher zwischen den Zeilen ist auch von Burnout zu lesen, und davon, dass viele qua Alter auch aus der von ihnen lange ausgefüllten Rolle oder gar dem Ort insgesamt herauswachsen.

Ein spannendes Buch, dem allerdings einige analytische Gedanken, etwa zur Aufwertung von Leipzig, gut getan hätten. 2011 erschien im Verbrecher Verlag mit 20 YRS. Noch lange nicht Geschichte bereits ein erster, mittlerweile vergriffener Band zum 20. Jubiläum des «Conne Island».

Bernd Hüttner

Die Identitären

Kathrin Glösel, Natascha Strobl, Julian Bruns
Die Identitären – Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa
Unrast Verlag 2014
263 Seiten
16 €

978-3-89771-549-3Die Entstehung der Identitären Bewegung in Europa muss als eine Anpassung an die rechtlichen Sanktionen gegen rechtsextreme Organisationen und die gesellschaftliche Situation in Frankreich gesehen werden: der französische bloc identitaire wurde 2003 in Reaktion auf das Verbot der neofaschistischen Unité radicale (UR) 2002 gegründet. Die „Bewegung“ orientiert sich inhaltlich an Denkern der Neuen Rechten. Mit dem Begriff der „Neuen Rechten“ wird jener Teil des rechten Lagers gefasst, der sich ideologisch an der Konservativen Revolution orientiert und als Gegenbewegung zu den „Ideen von 1968“ versteht. Man lehnt den demokratischen, parlamentarischen Staat zugunsten einer autoritären und homogenen Staatsform ab und spricht sich gegen Individualismus und Menschenrechte aus. Durch eine „Kulturrevolution von Rechts“ sollen die eigenen Inhalte diskursfähig gemacht und die „kulturelle Hegemonie“ erlangt werden. Um diese Ziele zu erreichen, werden eine Abkehr von Praxis und eine Beschränkung auf Metapolitik propagiert. Mit Bezug auf Personen aus dem nationalrevolutionären Lager der 20er und 30er Jahre und deren Interpretation von Philosophen wie Nietzsche und Heidegger wird ein „Dritter Weg“ propagiert. Dieser sollte historisch eine Alternative zu kommunistischer, liberaler und klassisch konservativer Politik darstellen. Die Inszenierung als Jugendbewegung ist für die Identitäre Bewegung zentral. Auf der einen Seite rekrutieren sich ihre Mitglieder – im Besonderen in Österreich – vor allem aus dem studentischen, burschenschaftlichen Milieu. Auf der anderen Seite werden aus einer vermeintlichen „Jugendlichkeit“ die Legitimität der eigenen Position sowie eine besondere Einsicht in gesellschaftliche Problematiken abgeleitet.

Für die Neue Rechte ist der Anspruch, nicht rassistisch zu sein, zentral. Man habe sich von einem biologistischen Rassismus ab- und dem Ethnopluralismus zugewendet. Bei diesem wird im Kern von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit nationaler wie regionaler „Volksgruppen“ ausgegangen. Regionale Identitäten in kleinen, homogenen Einheiten sind dabei das positive Gegenbild zur multinationalen, multikulturellen Einheitskultur. Die angestrebten kulturellen Gemeinschaften spiegeln dann ein Bedürfnis nach Identität und Homogenität wider, aus denen Differenz, Konflikt und Veränderung verbannt werden. Außerdem wird die angestrebte Kultur re-biologisiert, in dem unterschiedliche kulturelle Entwicklungen von Völkern auf die jeweilige „genetische Basis“ – begründet durch fragwürdige wissenschaftliche Befunde – zurückgeführt werden.

Für Leser_innen, die einen Einblick in die Bewegung der Identitären gewinnen wollen, ist das Buch von Bruns, Glösel und Strobl sicher ein guter Einstieg. Allein durch seine Fülle an Material und die Einführungen in einige der zentralen Begrifflichkeiten der Neuen Rechten, stellt es einen guten Anfangspunkt für eine Auseinandersetzung mit diesem Teil der europäischen rechtsextremen Szene dar. Im ersten Abschnitt wird eine Einleitung in die Diskussionen um Begriffe wie „Rechtsextremismus“ und „Neue Rechte“ geliefert, die Entwicklung der Neuen Rechten nachvollzogen und das historische Vorbild dieser – die Konservative Revolution – dargestellt. Im zweiten Abschnitt folgen eine große Materialsammlung zu den länderspezifischen Ausprägungen und dem publizistischen wie politischen Umfeld (vor allen Dingen im deutschsprachigen Raum) der Bewegung. Im dritten Teil des Buchs werden die zentralen ideologischen Bezugspunkte der Neuen Rechten sowie ihre politischen Strategien erläutert.

Problematisch ist das Buch jedoch in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist es ärgerlich, wenn die Lektüre dadurch erschwert wird, dass das Buch von Formatierungs- und Grammatikfehlern durchzogen ist. Auch hat man in sprachlicher Hinsicht den Eindruck, eine wenig überarbeitete Seminararbeit von Studierenden in der Hand zu halten. Dies sorgt dafür, dass Gedankengänge und Zusammenhänge immer wieder wenig nachvollziehbar sind. Zum anderen weist das Handbuch einige inhaltliche Lücken auf. Zugute muss man den Autor_innen halten, dass auf diese teilweise in der Einleitung hingewiesen wird. Trotzdem muss sich fragen lassen, wieso eine der zentralen Bezugsperson der Identitären Bewegung – Aleksandr Dugin – nicht behandelt wird. Dessen Werk würde eine exemplarische Auseinandersetzung mit den Inhalten der „Bewegung“ bieten und sich des Weiteren wichtige Netzwerke und Bezugspunkte darstellen lassen. Außerdem sind die verwendeten Begrifflichkeiten im Handbuch wiederholt ungenau. Auch wenn zuerst die Begriffe der „Neuen Rechten“ sowie „Rechtsextremismus“ ausführlicher diskutiert werden, wird später der Begriff „identitär“ für Organisationen verwandt – ein Begriff, der an keiner Stelle eingeführt wird und somit ungenau bleibt. Außerdem bleiben die länderspezifischen Differenzen der Organisationen wenig beleuchtet.

Florian Franke

Black Metal

Dayal Patterson
Black Metal – Evolution Of The Cult
Feral House 2014
484 Seiten
$27.95 (17,95 €)

black-metalGroßkotzig präsentiert der amerikanische Verlag Feral House ein (englischsprachiges) Buch, das als neues Standardwerk in Sachen Black Metal gelten soll. Auf dem Einband ist nicht nur fälschlicherweise von knapp 600 Seiten die Rede, sondern auch davon, dass Black Metal „die extremste Form von Musik ist, die ihre Hörer bei lebendigem Leib verspeist“. Klappern gehört also auch hier zum Handwerk, allerdings widmet sich der Autor Dayal Patterson trotz des fragwürdigen Untertitels mehr als nur einer mythischen Nacherzählung von Krach und Verbrechen im schwarzmetallischen Untergrund.

Der u. a. für Terrorizer und Metal Hammer schreibende Journalist hat zahlreiche Musiker persönlich befragt und liefert in seinem ansprechend strukturierten Wälzer auch unveröffentlichte Interview-Passagen, die es nicht in die jeweiligen Magazine geschafft haben. Das liegt vor allem daran, dass Patterson tatsächlich so sehr ins Detail geht, dass selbst Szene-Kenner mitunter noch staunen mögen. In dieser Hinsicht liefert Black Metal – Evolution Of The Cult zahlreiche Informationen aus erster Hand, wenn auch teilweise im arg mildernd gefärbten Rückblick. Da wird schon mal ein Mord fast damit gerechtfertigt, dass das homosexuelle Opfer den jungen Täter mit seiner Anmache so bedrängt habe, dass sich dieser kaum anders zu helfen wusste als ihm mit 37 Messerstichen und anschließenden Tritten gegen den Kopf das Leben zu nehmen.

Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf den hinlänglich bekannten Bands und ihren Umfeldern, wobei gerade Mayhem viel Raum zugestanden wird, doch auch Darkthrone und Burzum werden ausführlich gewürdigt und mit ihnen die Hinwendung zum Achtziger-Metal und -Punk auf der einen, sowie zum Rechtsextremismus auf der anderen Seite. Daneben kommen nicht nur Gründerväter des männlich dominierten Genres zu Wort, sondern auch Vertreter radikaler Interpretationen von Black-Metal-Ethos und -Underground. Patterson vertraut hier auf die kritische Urteilskraft seiner Leser_innen und hält sich mit moralischen Wertungen weitgehend zurück. Dass Black Metal keine Sackgasse für die persönliche und künstlerische Entwicklung darstellen muss, belegen etliche Musiker, die neue Visionen entwickeln und ungewöhnliche Richtungen einschlagen. Hier fehlen allerdings auch markante Protagonisten wie Solefald, welche Black-Metal-Tradition mit dem in der Szene gemeinhin kaum Vorstellbaren verbinden.

Gleichwohl das Buch plakativ in Szene gesetzt wird, reiht es sich nicht in die überflüssigen Veröffentlichungen zur Metal-Geschichtsschreibung ein. Patterson genießt das Vertrauen seiner Gesprächspartner, fragt konkret nach und geht in die Tiefe. Das resultiert nicht zuletzt in Widersprüchen, Plattitüden und ideologischer Propaganda. Es besteht insofern kein Zweifel, dass die Musikszene eine Plattform bleibt, die von Narzissten mit übergroßem Ego ebenso wie von politischen Extremisten für ihre eigenen Zwecke genutzt bzw. missbraucht wird. Andererseits wird auch deutlich, mit welcher humorvollen oder selbstkritischen Wahrnehmungen einige Akteure heuer aufwarten. Wer also vielschichtige Einblicke in die Hintergründe gewinnen möchte, die nicht nur in der Tat Erschreckendes, sondern auch erschreckend Banales und allzu Menschliches beinhalten, der wird hier in epischen Ausmaßen fündig.

Thor Joakimsson

Die ersten Tage von Berlin

Ulrich Gutmair
Die ersten Tage von Berlin – Der Sound der Wende
Tropen 2013
256 Seiten
17,95 €

1027_01_SU_Gutmair_TageVonBerlin.inddUnter dem ein wenig großspurigen Titel „Die ersten Tage von Berlin – Der Sound der Wende“ ist im letzten Jahr ein weiteres Buch über die Nachwendezeit und die Ausbreitung subkultureller Szenen im damaligen Berlin erschienen. Der Autor Ulrich Gutmair beschränkt sich dabei nur auf einen recht kleinen, wenn auch durchaus relevanten Teil der damaligen Berliner Szene, stark geprägt von seinen persönlichen Erfahrungen und Sympathien. Er liefert also keinen umfassenden Überblick über möglichst viele Orte und Geschehnisse, was in Anbetracht des mehr versprechenden Titels  einen falschen Eindruck hervorrufen kann, wenn man sich als Leser_in dessen nicht bewusst ist. Ähnlich wie in der Ausstellung „Wir sind hier nicht zum Spaß“, die 2013 im Kunstquartier Bethanien in Berlin-Kreuzberg gezeigt wurde, geht es um den Teil der Szene, der sich um Orte wie das Elektro oder den Tacheles gruppierte. Andere bekannte Clubs wie Tresor oder E-Werk, einflussreiche Personen wie Dimitri Hegemann oder Dr. Motte spielen kaum eine Rolle.

Und auch wenn Gutmair seine Erzählungen in historische Kontexte einbettet, vor allem mit Exkursen zur Stadtteilgeschichte, werden viele Aspekte, die mir beim Lesen als besonders spannend erschienen, nur angerissen – z. B. die Aktivitäten von Investor_innen und Immobilienfirmen, die Rolle der Politik in Bezug auf die Planung der Stadt, die Situation der alteingesessenen Bevölkerung in Ostberlin oder die Präsenz von Neonazis im unmittelbarem Umfeld der hier beschrieben Szene. Es ist zwar sehr angenehm, dass sich das Buch nicht alleine um die Technoszene dreht, sondern durchaus öfters mal über deren Tellerrand schaut, aber hier wären mehr Hintergrundinformationen oder auch ein paar weitere Anekdoten wünschenswert gewesen.

Trotzdem gibt das Buch einen guten Einblick in das Berlin Anfang der 1990er Jahre, ohne dabei allzu verklärend und romantisierend zu sein. Klar, es wird von der Freiheit und den unendlichen Möglichkeiten geschwärmt, davon, dass Menschen aus aller Welt nach Berlin kamen, nur auf Durchreise oder für einen kurzen Besuch, dann aber fasziniert von der Stadt dageblieben sind und etwas aufgebaut haben. Davon, dass viele Menschen einfach so ihr Ding machen konnten, dass die finanziellen Zwänge fehlten und in Bars der Schnaps verschenkt wurde. Die Stadt wird aber auch teilweise als sehr kaputt und ungesund beschrieben und Probleme und Konflikte werden nicht verschwiegen. Immer wieder wird deutlich, dass hier zwar in manchen Augenblicken eine utopische Gesellschaft zu existieren schien, diese aber bei genauerer Betrachtung weder klassenlos noch zukunftsträchtig war. Vielen Akteur_innen war von Anfang an bewusst, dass es sich nur um eine temporäre Situation handelte. Manche hatten wahrscheinlich von Anfang an einen Business-Plan und konnten in dieser Zeit den Grundstein für eine erfolgreiche Karriere legen, wobei die Ausgangslage von Mittelschichtkids eine ganz andere war als die von weniger abgesicherten Menschen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten besetzten Häuser wieder geräumt waren, die ersten Clubs wieder verschwanden und historische Gebäude über Nacht demoliert wurden, damit sie nicht mehr unter Denkmalschutz standen und abgerissen werden konnten, um Platz für neue Bürogebäude zu schaffen. Es wird deutlich, wie schnell das legendäre „wilde“ Berlin der Nachwendezeit schon nach kurzer Zeit am verschwinden war, auch wenn es bis heute das Image der Stadt prägt.

Daniel Schneider

Geschichte wird gemacht – welche eigentlich?

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hrsg.)
Geschichte wird gemacht – Zur Historiographie populärer Musik
Beiträge zur Populärmusikforschung 40
transcript 2014
128 Seiten
18,99 €

geschichtewirdDie Beiträge des kleinen Tagungsbandes stellen Fragen, die eigentlich in jeder Sparte der Kulturwissenschaften gestellt werden sollten: Was und wer ist geschichts-, forschungs- oder gar klassikwürdig? Wer entscheidet, was in einen wie auch immer definierten Kanon gehört?

Während sich Schallplattensammlerinnen, Musikfreunde, die Kritik und die Populärmusikforschung einig sind über die Bedeutung einer Band wie Velvet Underground, mit ihren wenigen, schlecht verkauften LPs und kurzer Schaffensperiode, sind deutsche Bands mit Millionenverkäufen und weltweiter Fangemeinde wie Boney M in keinster Weise Forschungsgegenstand. Ein Musiker spielte jeden Abend stundenlang in New Orleans zum Tanz und entwickelte dabei einen eigenen, besonderen Stil. Zwischendurch nahm er mit einer Band, die es nie live zu hören gab, einige Schallplatten auf, mit Songs, die er damals nie live spielte. Diese Louis-Armstrong-Scheiben gelten heute als Dokumente für frühen Jazz. Was gespielt bzw. gehört wird ist noch lange nicht das, was aufgenommen wird, und diese Aufnahmen werden durch die öffentliche Wahrnehmung und Expertenmeinungen nochmals gefiltert. Diese Mechanismen zu hinterfragen und das damit verbundene Dillemma zu benennen ist das Verdienst dieses Buches.

Peter Auge Lorenz

Punk in Deutschland

Philipp Meinert, Martin Seeliger (Hg.)
Punk in Deutschland – Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 
transcript 2013
300 Seiten
26,99 €

9783837621624_216x1000Nachdem sich die mediale Aufregung über Punk-Kultur, -protagonist_innen und -musik schon seit geraumer Zeit gelegt hat und einige einführende und grundlegende Werke erschienen sind, thematisiert hier nun ein Sammelband diesen zeitlichen und mittlerweile auch emotionalen Abstand. Viele der in diesem Band vertretenen Wissenschaftler_innen haben einen persönlichen Bezug zum Gegenstand, sie sind oder waren Punks, haben in Bands gespielt, Konzerte organisiert, Fanzines herausgegeben.

Nach einem einführenden Artikel der Herausgeber über Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklung von Punk in Großbritannien und den USA und der Auswirkung und Entwicklung in Deutschland bis heute wird auf Einzelaspekte des Punk-Phänomens eingegangen. So schreibt Peter Seyferth über die Beziehungen zwischen Punk als Praxis und Anarchismus als Theorie. Die Geschichte der „Organisation“ der Chaostage in Hannover wird von Oliver Herbertz unter dem Aspekt der derzeitigen Einladungs- und Benachrichtigungsmöglichkeiten von z. B. Facebook aufgerollt – die heutigen Möglichkeiten unterscheiden sich stark von denen der 90er Jahre, wo kopierte Zettelchen das Medium der Wahl waren. Angesichts des Booms von Spaß-Parteien wird von Philipp Meinert noch einmal auf die Geschichte der APPD (Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands) eingegangen. Punk in der DDR als „abgeschlossenes Sammelgebiet“ hatte einen starken Rückhalt in der Kirche, auf die heutige Quellen- und Forschungslage geht Anne Hahn in ihrem Beitrag ein. Ein eher privates Problem der Auseinandersetzung mit der Punk-Ethik beschreibt Nejc M. Jakopin in dem Beitrag über die (Un)vereinbarkeit von Punk und Unternehmertum.

Der zweite Teil des Buches stellt seine Fragen eher auf die Gegenwart abzielend. Martin Seeliger untersucht die Adaption von US-amerikanische Skatepunkelementen in der deutschen Szene und stellt im Ergebnis die Internationalisierung dieser Kultur fest. Der interessanteste Artikel dieser Sammlung untersucht die Entstehung eines neuen Stils, des Elektropunk. Julia Lück, Mihaela Davidkova und Bianca Willhauck haben Expert_inneninterviews durchgeführt, Musikvideos analysiert und Texte mittels Feinstrukturanalyse ausgewertet. Elektropunk-Anhänger_innen sind keine Punks, keine Techno-Fans und keine Antifas, haben aber jeweils Elemente oder Attribute übernommen und zu etwas Neuem zusammengesetzt. So konnte eine neue, bislang unerforschte Szene identifiziert werden.

Das Buch ist somit eine Sammlung von Rück- und Ausblicken die sich zwischen Insideransichten und spannenden Neuentdeckungen bewegen (wenn nicht so eklatant viele Druckfehler enthalten wären …).

Peter Auge Lorenz

Superhelden

Grant Morrison
Superhelden – Was wir Menschen von Superman, Batman, Wonder Woman & Co lernen können
Hannibal 2013
496 Seiten
29,99 €

978-3-85445-418-2-20121221-194730Die Geschichte der amerikanischen Superhelden, z. B. Batman, Superman, X-Men oder Spiderman, wird in diesem Band von ihren Anfängen in den 1930er Jahren, als Superman und Batman ihre erste Heldentaten vollbrachten, bis zur heutigen Zeit, in der jedes Jahr aufwendige Blockbuster über die Abenteuer dieser Figuren ein Millionenpublikum in die Multiplex-Kinos der Welt ziehen, nacherzählt. Dabei bilden nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, vor allem in den USA und der westlichen Welt, den Hintergrund dieser Geschichtserzählung, sondern auch die Biographie des Autors selbst. Grant Morrison gehört seit den 1990er Jahren zu den populärsten und erfolgreichsten Autoren von Superheldencomics und hat für die beiden Großverlage Marvel und DC eine Vielzahl an Abenteuern eigentlich aller bekannten Superheldenfiguren geschrieben. Er ist also nicht nur seit seiner Kindheit von Superheldencomics geprägt, sondern hat dieses Genre wiederum selbst entscheidend mitgeprägt. Mit dem vorliegenden Band hat er nun zusätzlich ein umfangreiches Sachbuch verfasst, welches nicht nur für Comicfans interessant ist, sondern für alle an Popkultur interessierte Leser_innen einen fundierten Überblick über dieses Genre darstellt.

Daniel Schneider

Der Klang der Familie

Felix Denk und Sven von Thülen
Der Klang der Familie
Suhrkamp Verlag 2012, ab August 2014 als Taschenbuch erhältlich
423 Seiten
10 €

46548Es handelt sich bei diesem Buch um eine Sammlung von Zeitzeugenberichten über die elektronische Musikszene in Berlin zur Zeit der Wende – von kurz davor, bis in die Hochzeit der 1990er Jahre.

Die beiden Autoren führten und sammelten Interviews mit Szenemitgliedern, vom Club- oder Labelbetreiber_innen über DJs, Barpersonal, Türsteher, Medienschaffende bis zu Szenegänger_innen der ersten und zweiten Stunden. Es geht um die Auswirkungen der mit der Wende entstandenen „Temporären Autonomen Zone“, wie die Freiräume in Berlin zum Teil bezeichnet wurden. Diese Freiräume ermöglichten es einer Kultur zu wachsen, die von den beiden Autoren und deren Interviewten in diesem Buch ausführlich beschrieben wird.

Die große Leistung dieses Buches besteht darin, dass die Autoren alle diese Interviews zerstückelten und die einzelnen Teile dann nach Themen geordnet wieder zusammensetzten, sodass eine durchgehend erzählte Geschichte entsteht.

Verschiedene Clubs sind Thema in diesem Buch, genauso wie Veranstaltungen, wichtige Personen, Medien oder auch einfach die Stimmung, die Atmosphäre, die so wichtig war in dieser Zeit und doch so schwer greifbar ist. Die Autoren schaffen es in diesem Buch, diese Stimmung einzufangen und auch Außenstehenden, denen, die nur Leser_innen sind, das Gefühl zu geben, diese Zeit noch einmal miterleben zu können.

Dies geschieht über die vielen authentischen Persönlichkeiten, die in diesem Buch zu Wort kommen. Einige findet man nur mit ihren Kommentaren zu spezifischen Themen, die sie selber betroffen haben, andere sind so sehr in der Szene verankert, dass sie zu jedem Thema eine spannende Geschichte beizutragen haben.

Die Struktur des Buches ist chronologisch. Die Autoren beginnen mit den ersten Clubs und den ersten Partys, die man der elektronischen Musikszene zuordnen konnte (z. B. der Streit, wer die ersten Acidhouse-Partys in Berlin gegeben hat) und lassen Loveparade, Tresor, Walfisch, Mayday und E-Werk folgen. Personen, wie Dr. Motte (Loveparade), Westbam (Low Spirit/Mayday), Marusha (Somewhere over the rainbow), Jürgen Laarmann (Frontpage Magazin), Mark Ernestus (Hard Wax) und viele andere, tauchen nicht nur als Namen im Zusammenhang mit Themen auf, sondern auch als Interviewte, die direkt involviert waren und aus dem Nähkästchen plaudern.

Die Fülle an verschiedenen Blickwinkeln auf die behandelten Themen ist das, was dieses Buch so facettenreich und einzigartig macht. Selbst Leser_innen, die in dieser Zeit Teil der Szene waren, können hier noch neue Geschichten und Informationen erfahren. Es ist eine Reise durch diese Zeit, an diesen Ort, der nach wie vor so besonders und bedeutend ist und immer noch eine starke Anziehungskraft auf Menschen überall in der Welt ausübt.

Dieses Buch ist etwas für Szeneangehörige, genauso wie für Menschen, die einfach nachvollziehen möchten, wieso diese Szene und diese Zeit so faszinierend sind, und gilt mittlerweile als eines der Standartwerke zu diesem Thema.

Chris Kruit

Die besten Tage unseres Lebens

Dietmar Simon/Michael Nürenberg
Die besten Tage unseres Lebens – Jugendkultur in Lüdenscheid von 1960 bis 1980
Geschichts- und Heimatverein Lüdenscheid e. V. 2013
288 Seiten
19,90 €

Jugendkultur-Miniaturbild-208x300Der großformatige Band bietet eine Gesamtdarstellung der Jugendkultur in Lüdenscheid und Umgebung in den sechziger und siebziger Jahren, vollgepackt mit fast 1.000 Bildern und Erinnerungen vieler Zeitzeugen an „Beat im Sauerland“ (fast 100 Seiten, damit alleine schon für jeden Beat-Liebhaber und -forscher ein Muss), Jazz und Krautrock, Jugendreisen in Zeiten des Kalten Krieges, die Lüdenscheider APO, Gammler, Rocker, Drogen („Rauschgiftwelle hat auch die Bergstadt erreicht: 30 Prozent der Oberstufenschüler am Zeppelin-Gymnasium sollen ‚haschen‘“ – Westfälische Rundschau am 12. August 1970), Jugendkneipen, Randale beim Deep-Purple-Konzert und vieles mehr …

Klaus Farin

Ware Inszenierungen

Dietrich Helms und Thomas Phleps (Hrsg.):
Ware Inszenierungen – Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik
transcript 2013
230 Seiten
21,80 €

Bild

Der Arbeitskreis Studium Populärer Musik ASPM veranstaltete im November 2011 eine Tagung „Populäre Inszenierungen / Inszenierungen des Populären in der Musik“, als dessen Ergebnis dieses Buch entstand. Der Band untersucht das Verhältnis von „Echheit“, auch Authentizität genannt, zur Inszenierung, der bewußten Darstellungsweise von Image und Musik.

Philipp Auslander geht in seinem Text z. B. auf das Problem des Live-Erlebnisses bei elektronischer Musik ein, bei der die traditionelle Live-Darbietung einer handwerklich arbeitenden Musikerpersönlichkeit wegen der entweder vorproduzierten Tracks oder des nur mit Knöpfchen versehenen Equipments nicht stattfindet. Dennoch fordert das Publikum eine visuelle Umsetzung der dargebotenen Klänge, auch diese neuartige Musik braucht ein herkömmliches Konzerterlebnis.

Ralf von Appen setzt sich mit dem Verhältnis von Authentizität und Inszenierung auf der Bühne ein. Dabei geht er von vier Dimensionen der Authentizität aus: persönliche Authentizität (d. h. die Künstlerperson verwirklicht sich auch in einer Bühnenshow als kreative Persönlichkeit), sozio-kulturelle Authentizität (die Verkörperung der Werte und Normen der Subkultur, aus der die Künstler_innenkarriere hervorging), handwerkliche Authentizität („reale Musik“ wird von „realen Händen“ gemacht) sowie emotionale Authentizität (echte Gefühle und Emotionen, eigenes Erleben als Grundlage der Darbietung). Im Weiteren legt er dar, mit welchen Strategien diese Authentizität in einer effektiv organisierten und durchgeplanten Realität dargestellt, also inszeniert, wird. So sind spontan auf die Bühne geholtes Publikum und Wohnzimmertourneen der Toten Hosen, Unplugged-Konzerte oder die sorgfältig durchchoreographierten Zufälle in einer Adele-Show Mittel, um dem Publikum die geforderte „Echtheit“ zu präsentieren. Die „Inszenierung authentischer Inauthentizität“ ist da nur eine logische Folge: deutlich und bewusst die Künstlichkeit herauszustellen als Äußerung authentischen Künstlertums. Auf weitere Konzepte des Authentischen und Inauthentischen geht Christoph Jacke ein, insbesondere auf die inszenierte Natürlichkeit bei einigen Interviews mit so inszenierten Stars wie Lady Gaga.

André Doehring schreibt über den Wandel des Begriffs „Independent“ von einer wirtschaftlichen Kategorie über eine Haltung der künstlerischen Produktion bis hin zu einem Musikgenre. Auch die Texte über Pressekonferenz-Strategien (Anja Peltzer) und dokumentarische Strategien der (west)deutschen Populärkultur (Barbara Hornberger) widmen sich immer wieder dem Aspekt der „gemachten“ Echtheit. Besonders deutlich tritt diese Methode des Marketings am Beispiel der Tänzerin und Sängerin Josephine Baker zutage, die es in den Anfangsjahren des vorigen Jahrhunderts vom Tanzstar bis hin zu Sängerin und Filmstar brachte. Dies setzt Christian Diehmer in seiner Abhandlung über einen bewußt zwiespältig gehaltenen Titel der Band „Rammstein“ (Mann gegen Mann) fort: Ist das Authentische inszeniert, ist das eine authentische Inszenierung?

Diese Sammlung thematisiert, was Musik-Kund_innen gewiß nicht gerne hören: es ist harte Arbeit etwas „echt“ klingen zu lassen, es ist Kalkül, unverstellt zu wirken und es ist sorgfältige Inszenierung, eine Band spontan auftreten zu lassen. Diese Authentizitätswirkung ist ein hohes Gut der Rock- und Popmusik und zahlt sich (oft) aus, Horden von Manager_innen und PR-Agent_innen versuchen stets aufs Neue diesen  Eindruck von unverbrauchter Echtheit zu verkaufen. Ich habe jedenfalls meine Schallplatten nach der Lektüre des Buches noch einmal ganz anders gehört: als Produkte der Musikindustrie, und doch mit Schmerz und Wildheit eingespielt.

Peter Auge Lorenz

Gerahmter Diskurs

Jonas Engelmann
Gerahmter Diskurs – Gesellschaftsbilder im Independent-Comic
Ventil 2013
336 Seiten
24,90 €

BildEs ist heiß im Kongo. Ein junger Mann betritt mit geschultertem Gewehr und Tropenhelm eine Kirche, in der Afrikaner_innen mit riesigen, verzerrten, knallroten Mündern in gebrochenem Französisch ein Kirchenlied singen. An seiner Seite läuft ein kleiner, weißer Spitz. Comics zeichnen, nicht nur in Hergés Paradebeispiel kolonialistischer und rassistischer Darstellungsmuster (Tim im Kongo von 1931), Stimmungs- und Menschenbilder ihrer Zeit. Doch wie kann eine Comicanalyse aussehen, die über solche Erkenntnisse hinausgeht?

Die Antwort liefert Jonas Engelmann in seiner im Mai 2013 im Ventil Verlag veröffentlichten Dissertation, die bereits jetzt als neues Standartwerk der Comictheorie gefeiert wird. In Gerahmter Diskurs wird der Comic nicht nur als Zeitdokument behandelt, an dem rassistische und reaktionäre Tendenzen aufgezeigt werden können, sondern auch als ein Medium, das aktiv Gesellschaftskritik übt. Engelmann nimmt dabei das subversive Potential des Independent-Comics, der Missstände und Ausgrenzungsmechanismen offenlegt, in den Blick und spannt dabei ein weites Netz aus zeitgenössischen Comicerscheinungen und deren Traditionslinien auf. Die südafrikanischen Bittercomix, die sich die Ästhetik von Tim im Kongo aneignen und eine Reflexion in Manier der Critical Whiteness liefern, legen dabei beispielsweise ihren Finger auf die Wunde der Apartheidsgesellschaft.

Neben dieser Aneignungsstrategie präsentiert Engelmann in drei Themenkomplexen (Rassismus, Krankheit und Religion) ein ästhetisch wie narratologisch breites Spektrum an Verfahren, die von den Autor_innen genutzt werden, um ihre Kritik zu verpacken. Biographische Erzählungen (beispielsweise Marjane Satrapis systemkritischer Comic Persepolis) finden dabei genauso Beachtung wie Inhalte, die auf einer Metaebene thematisiert und zunächst dechiffriert werden müssen.Charles Burns Erzählung Black Hole, in der eine sexuell übertragene Teenageredepedemie zu absurden Mutationen und zum sozialen Ausschluss führt, ist zwar im Raum des Fantastischen angesiedelt, weist aber offensichtliche Parallelen zu dem real-gesellschaftlichen Umgang mit der Krankheit AIDS auf. Burns zitiert dabei zeichnerisch den Stil amerikanischer Horrorcomics der 50er Jahre. Diese griffen einerseits den gesellschaftlichen Diskurs um Moral und Normalität auf, können heute aber auch als Ausdruck einer stark verunsicherten Gesellschaft gelesen werden, die Burns wiederum auf den hysterischen AIDS-Diskurs der 80er Jahre überträgt.

Es sind dabei nicht nur diese interessanten Herleitungen und Bezüge, die Engelmanns Buch so lesenswert machen. Vielmehr arbeitet er akribisch und doch gut nachvollziehbar heraus, inwiefern sich gerade das Medium Comic so gut als Instrument für Gesellschaftskritik eignet. So funktionieren Comics in einem selbstreflexiven, ironischen Modus und reproduzieren gesellschaftlich generierte Bilder, die sie gleichzeitig hinterfragen. Wenn der jüdische Autor Joann Sfar mit stereotypisierten Darstellungen von Juden arbeitet oder die karikaturhafte Diffarmierung von Schwarzen in Tim im Kongo von den Bittercomix übernommen wird, verweist der Comic dabei nicht nur auf Rassismen und Sehgewohnheiten unserer Gesellschaft, sondern auch auf seine eigene, oft auch nicht sehr rosige Geschichte.

Die Comic-typische gegenseitige Durchdringung von Text und Bild liefert zudem vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten. So wird im feministischen Comic Dirty Plotte der Kanadierin Julie Doucet, während diese über ihre Herkunft spricht, eine Karte von Quebec neben der eines weiblichen Körpers abgebildet. Dieser Verweis auf körperliche Zuschreibungen durch Schönheitsideale bildet eine “kulturelle Kartographie”, die sich in einer stark sexualisierten Gesellschaft in die Körper von Frauen einschreibt.

Die Liste an spannenden Themen und Diskursfäden, die in Engelmanns Buch aufgegriffen werden, lässt sich unendlich fortsetzen. Fast beiläufig wird dabei noch ein ziemlich guter Abriss über die Comicgeschichte, die in Deutschland ja erst relativ spät wissenschaftliche Beachtung fand, geliefert. Gerahmter Diskurs ist absolut lesenswert, und auch wenn Engelmann sicherlich in dieselbe Kerbe haut, die bereits Ole Frahm in Die Sprache des Comics bearbeitet hat, vertieft er diese jedoch deutlich.

Hannah Zipfel

Hidden Tracks

Thorsten Schüller & Seiler Sascha (Hrsg.)
Hidden Tracks – Das Verborgene, Vergessene und Verschwundene in der Popmusik
Königshausen & Neumann 2012
220 Seiten
29,80 Euro

Hidden Tracks. Das Verborgene, Vergessene und Verschwundene in der Popmusik. € 29,80Auf die Suche nach den versteckten Perlen der Popkultur gehen in diesem Band: Jonas Engelmann, Till Huber, Jakob Christoph Heller, Benjamin Specht, Thorsten Schüller, Magnus Wieland, Ralf Dombrowski&Andreas Schumann, Johannes G. Pankau, Sascha Seiler, Jörg Pottbeckers, Torsten Hoffmann, Timo Obergöker, und Tom Liwa führt mit seinem Beitrag „Auszug aus Alcatraz“ auf poetische Weise den Reigen an.

Wer jemals eine CD bis zum Ende gehört hat und dann nach minutenlanger Stille über die plötzlich wieder einsetzende Musik erschrocken ist, der weiß, was ein „hidden track“ ist – kleine Zugaben, oft auch ganze Songs, die nicht auf dem Cover gelistet und auch in der Nummerierung nicht erkennbar sind. Um diese geht es in dem vorliegenden Band aber nur am Rande – erklärt werden sie erst im Beitrag von Wieland, der sich in erster Linie mit den B-Seiten von Singles auseinandersetzt.

Im ersten großen Abschnitt „Photos of Ghosts“ stehen Musikschaffende im Vordergrund, die sonst eher zu den „verborgenen, vergessenen und verschwundenen Künstlern“ zählen: Engelmann spürt dem mysteriösen Musiker Jandek nach und Huber analysiert das Werk Holger Hillers im Kontext der Neuen Deutschen Welle. Die immer ein bisschen jenseits von schlichtem Punk und hoher Kunst rangierenden unberechenbaren Projekte der Band Die tödliche Doris stehen im Fokus des Beitrags von Heller, bei Specht ist es die Kunstfigur PeterLicht und dessen utopische Texte. Schüller erweitert den Horizont mit seinem Blick auf afrikanische Popsongs und subversive afrikanische Musiker, die „Musik gegen das Vergessen“ kreieren.

Zu Beginn des zweiten großen Abschnitts „Vanishing Act“ erzählt Wieland seine bereits erwähnte „B-Side Story“ von den oft vernachlässigten Songs der Rückseiten alter Single-Vinyl-Schallplatten, die aber auch zum Ort musikalischer Experimente werden konnten. Dombrowski und Schumann beschäftigen sich mit einem weiteren verschwundenen Medium aus der popkulturellen Vergangenheit: In ihrer Auseinandersetzung mit den kurzlebigen artrockigen Konzeptalben der 1970er Jahre schreiben sie diesen letztlich eine konservative und systemerhaltende Haltung zu, die durch Punk attackiert wurde. Und im Anschluss forscht Pankau nach der „verborgenen Gesellschaftskritik in den Songs von Ray Davies und den Kinks“.

Mit dem ersten Beitrag „The Wilderness Downtown“ im dritten großen Abschnitt unter dem Titel „Into the Unknown“ richtet Seiler den Blick auch noch einmal auf ein Konzeptalbum, allerdings der untypischen Art, nämlich The Suburbs von der Band Arcade Fire aus dem Jahr 2010. Zentrale Aspekte sind hier Raum und Erinnerung, konkret bezogen auf das Aufwachsen in einem namenlosen Vorort von Houston und die verdrängte Vergangenheit. Weiter im Band geht es mit den Mutmaßungen über das Liebesleben von Morrissey, die selbst vor dem Hintergrund der kürzlich erschienenen Autobiografie des ehemaligen The Smiths-Sängers nichts an Spannung verlieren, forciert doch der Beitrag „Asexualität und Fetisch“ von Pottbeckers eine Betrachtung des Musikers im Spannungsfeld zwischen Selbstinszenierung und der Inszenierung des lyrischen Ichs. Nachfolgend nimmt Hoffmann sich mit „Du fehlst“ des großen Tabuthemas Tod und der verschiedenen Herangehensweisen in Popsongs an und den Abschluss bildet Obergökers Analyse zur „Darstellung der Shoah im französischen Chanson“ mit der „Songs als Orte kollektiver Erinnerung, Sichtbarmachung“ vorgestellt werden.

Die verschiedenen Beiträge sind, wie einzelne Songs auf einer Compilation-CD, unterschiedlich eingängig und für jede_n Lesende_n wohl auch unterschiedlich interessant. In ihrer gesamten Zusammenstellung bieten sie jedoch vielfältige Einblicke in die Seiten der Popkultur, die, im Gegensatz zur deren offensichtlicher Alltäglichkeit, Facetten aufzeigen, auf die man sonst vielleicht nie gestoßen wäre. Das macht den Reiz dieses Bandes aus und hält die Neugier auf jeden einzelnen Beitrag aufrecht, auch wenn auf den ersten Blick möglicherweise nur ein bestimmtes Thema ins Auge gefallen ist. Wer sich also nicht mit dem allseits Bekannten in den gängigen Musikzeitschriften zufriedengibt und auch seine Plattenkäufe nicht nur anhand der aktuellen Charts tätigt, sollte auch bei diesem Buch zugreifen.

Gabriele Vogel

Jugendbewegt geprägt

Barbara Stambolis (Hrsg.)
Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen
Vandenhoeck & Ruprecht 2013
819 Seiten
74,99 €

978-3-8471-0004-1Pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum der Jugendbewegung legen Barbara Stambolis und ihre zahlreichen MitautorInnen eine akribische Spurensuche zur historischen Jugendbewegung vor. Und Spuren hat sie offenbar hinterlassen, zahlreiche unbekannte und bekannte Menschen in ihrer Persönlichkeiten stark geprägt. Um nur ein paar Beispiel der mehr als 60 in diesem Band Porträtierten zu nennen: Willy Brandt und Wolfgang Abendroth, Norbert Elias und Helmut Gollwitzer, Ernst Jünger und Robert Jungk, Johannes Rau und Helmut Schelsky, Peter Suhrkamp und Heinz Westphal – sie alle gehörten der Jugendbewegung an. Die Autoren fragen anhand zahlreicher Dokumente der Porträtierten, literarischer Werke ebenso wie Interviews und Autobiographien: Inwiefern haben jugendbewegte Erfahrungen ein Menschenbild beeinflusst, das lebensprägend war? Inwiefern gingen von der Jugendbewegung nachhaltige Orientierungen im Sinne einer Verpflichtung zu gesellschaftlicher Verantwortung und sozialem Engagement aus? Wie spiegeln diese Impulse sich in Lebensentwürfen und Selbstbildern bekannter Politiker, Pädagogen, Theologen, Soziologen oder Philosophen wider?

Klaus Farin

_Mind the Gap

Marie-Christina Latsch (Hrsg.)
_Mind the Gap – Einblicke in die Geschichte und Gegenwart queerer (Lebens)Welten
Unrast 2013
160 Seiten
19,80 €

mindthegap

„Ein Buch über Bitches, Butches, Divas, Drags, Kings, Queens, Trans*, Lesben, Boys, Schwule, Homos, Bis, Pans, Heten, Girls, Männer, Dykes, Femmes, Tomboys, Frauen, Sissyboys und alle Anderen.”

Von Audrey Lorde über Magnus Hirschfeld, Marlene Dietrich bis hin zu J.D. Sampson – Mind the Gap vereint (historische) Persönlichkeiten der letzten 142 Jahre, die in queerer Lesart durch ihre Lebens- und Denkweisen gehörig an der heterosexuellen Matrix kratzten oder dies noch heute tun. Dabei wird in Marie-Christina Latschs Buch nicht nur auf inhaltlicher Ebene an den scheinbar so starren Kategorien von Mann und Frau, Homo und Hetero gerüttelt.

Während die Personenportraits Einblicke in queere Lebenswelten zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Geschichte geben, spiegeln die gebrochene Typografie und die im Buch enthaltenen Collagen eine dynamische Auffassung von (Text-)Körper und Geschlecht wider.

Latsch, die das Projekt als Diplomarbeit im Fach Grafikdesign realisierte, knüpft dabei an die Theorie des „Gender-Copylefts” an, nach der die Auffassung von einer als natürlich vorausgesetzten Geschlechtidentität dekonstruiert wird, indem der Prozess ihrer Herstellung in den Fokus gerückt wird. Dabei treten fließende Geschlechtergrenzen und (un-)mögliche Körper auf den Plan, die ständig neu erzeugt werden, nur um anschließend wieder verzerrt zu werden. In zusammenkopierter Zine-Optik wird dabei das Verhältnis von Original und Reproduktion grundsätzlich in Frage gestellt und Geschlecht von seiner Aura des vermeintlich Natürlichen gelöst.

Die chronologische Abfolge der in schwarz-weiß gedruckten Portraits wird immer wieder von bunten, assoziativen und subjektiven Definitionsversuchen von Queer durchbrochen, die Nischen innerhalb der linearen Ordnung des Textes besetzen und damit auf symbolischer Ebene das schwarz-weiß-Schema der binären Zweigeschlechtlichkeit sichtbar machen und sabotieren. _Mind the Gap bildet eine Leerstelle für Vorstellungen von Identität jenseits heteronormativer Denkweisen, erzählt von Menschen, die radikale und unerhörte Lebensweisen gelebt und erkämpft haben und beschreibt schließlich die Offenheit und das weite Feld der Möglichkeiten von queerer Politik und queerem Handeln.

Hannah Zipfel

Braunzone Bundeswehr

Lucius Teidelbaum
Braunzone Bundeswehr – Rechtsum in der Männertruppe
Unrast 2012
84 Seiten
7,80 €

In den 1980er Jahren waren die Kategorien einfach und klar – die coolen, intelligenten und guten Jungs machten Zivildienst, und zur Bundeswehr ging nur, wer rechts oder dumm war, oder rechts und dumm, was aus der Sicht subkultureller Verweigerer, die allein schon wegen der Frisur nicht zur Armee wollten, meist zusammenfiel.

Somit schien es fast selbstverständlich, die Bundeswehr als durch und durch rechts bis nazibraun einzuschätzen, und selbst heute, ohne Wehrpflicht und mit ein paar Alibi-Frauen in der Truppe, erscheint das Argument, die Bundeswehr sei „ein Spiegel der Gesellschaft“ – lediglich mit gelegentlichen rechten Ausfällen am Rande – schon fast absurd, da Linke, Pazifisten und Frauen ebenso wie Kinder, Jugendliche und ältere Menschen hier offenbar nicht zur Gesellschaft gerechnet werden.

Lucius Teidelbaum zeigt im vorliegenden Band, dass die vereinzelt scheinenden braunen Skandale in der Bundeswehr lediglich die Spitze des Eisbergs sind. Differenziert verweist er auf konkrete personelle Kontinuitäten und rechte Namenspatenschaften ebenso wie auf die Fortführung von Elitegedanken und militärischen Männlichkeitsidealen („archaische Krieger“ oder auch „Stahlgestalten“), die denen der extremen Rechten entsprechen.
Dabei kommen Machenschaften ans Licht, deren Anzahl, Ausmaß und Deutlichkeit bei Weitem alles übertrifft, was die gängigen Vorbehalte gegenüber der Bundeswehr bisher gestützt hatte. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier zitiert, was Teidelbaum zum 20. Mai 1941, dem Datum der Landung von deutschen Fallschirmjägern auf Kreta schreibt: „Bis heute gibt es Feiern zum 20. Mai, dem Jahrestag der Besetzung Kretas, in Fallschirmjäger-Kasernen. Dabei wird auch das Fallschirmjäger-Lied Hinter den Bergen gesungen, in dem es u. a. heißt: ‚Narvik, Rotterdam, Korinth / Und das heiße Kreta sind / Stätten unserer Siege! / Ja, wir greifen immer an, / Fallschirmjäger gehen ran, / Sind bereit, zu wagen!’“

In seiner kritische Auseinandersetzung befasst sich der Autor sowohl mit den internen Zuständen innerhalb der Bundeswehr, in der ritualisierte Rekrutenmisshandlungen, Sexismus und Homophobie auf der Agenda stehen, als auch mit Fehlverhalten nach außen hin, das bei Auslandseinsätzen zutage tritt. Aufgezeigt werden zudem kontinuierliche Zusammenhänge und Überschneidungen mit schlagenden Verbindungen – insbesondere rechten Burschenschaften – und auf den höheren Offiziersebenen mit der „Neuen Rechten“. Wenngleich offen auftretende Neonazis in der Bundeswehr nicht geduldet werden, so tummeln sich in der extremen Rechten doch auffallend viele – auch hochrangige – ehemalige Militärs, die sich mit ihrer Gesinnung während der Militärzeit lieber bedeckt hielten. Beispielsweise waren sowohl der langjährige NPD-Vorsitzende Udo Voigt als auch Neonazi-Kader Michael Kühnen als Berufssoldat bzw. Leutnant mehrere Jahre bei der Bundeswehr.

Als Fazit bleibt, dass die Bundeswehr sich nie ganz von der Wehrmacht als Vorgänger-Armee gelöst hat. Auch wenn die Blindheit auf dem rechten Auge inzwischen nicht mehr ganz so vollständig ist, so bestehen die männerbündischen rechten und rechtsextremen Traditionen trotz aller Bemühungen um einen Imagewechsel weiter. Da die Kampfausbildung nach wie vor Neonazis anzieht, die gezielt den Umgang mit Waffen und Sprengstoff erlernen wollen und die in nichtmilitärischen Berufsbereichen kaum Fuß fassen wollen oder können, wird sich wohl an der „Braunzone Bundeswehr“ auch in Zukunft nicht allzu viel ändern.

Teidelbaum muss für seine umfangreiche Material- und Beispielsammlung aufwendige Recherchen betrieben haben, zumal die Quellenlage, wie er selbst sagt, dürftig ist. In neun Kapitel unterteilt, liest sich der kleine Band kompakt und informativ. Der Text sensibilisiert für die Wahrnehmung und Hinterfragung gut abgeschotteter und scheinbar unangreifbarer Institutionen und ist auch für Leser_innen geeignet, die noch nicht über vertieftes Spezialwissen in diesem Themenbereich verfügen.

Gabriele Vogel

Ein Volk, ein Reich, ein Trümmerhaufen

Anja Tuckermann
Ein Volk, ein Reich, ein Trümmerhaufen. Alltag, Widerstand und Verfolgung – Jugendliche im Nationalsozialismus
Arena 2013
175 Seiten
10,99 €

Hier erzäh978-3-401-06823-7lt Anja Tuckermann aus der Perspektive jugendlicher ZeitzeugInnen von Alltag, Widerstand und Verfolgung unter der Diktatur der Nationalsozialisten. Ausschnitte aus authentischen Tagebucheinträgen, Interviews und Schilderungen aus dem täglichen Leben von Jugendlichen verbindet sie mit den wichtigsten Informationen über die historischen Geschehnisse. Zu Wort kommen Verfolgte und ihre Helfer, Widerstandskämpfer, aber auch Mitläufer der Nazis. So wird dieses Kapitel deutscher Geschichte auf eine sehr persönliche Weise erfahrbar. Ein Buch, das begreiflich macht, wie die Strukturen des damaligen Staates Menschen gefügig, hasserfüllt und klein werden ließen. Und ein Buch, das zeigt, wie man sich gegen Manipulation zur Wehr setzen kann.

Klaus Farin

Mehr als laut

Jürgen Teipel
Mehr als laut – DJs erzählen
Suhrkamp 2013
235 Seiten
14,99 €

Und schon wieder ein Buch über Techno, wieder erzählen46482 DJs davon, wie es ist DJ zu sein und wie das alles los ging und was dann wurde … aber immerhin geht es diesmal auch um andere Orte als nur um Berlin, auch Mannheim, Chemnitz oder Regensburg spielen eine Rolle. Jürgen Teipel, bekannt als Autor von Verschwende deine Jugend, hat eine Reihe an bekannten und weniger bekannten DJs (erfreulicherweise sind überdurchschnittlich viele weibliche DJs darunter, die ausführlich zu Wort kommen) getroffen und deren Erzählungen aufgeschrieben und thematisch zusammengestellt. Darunter findet sich dann ein ganzes Kapitel über das Ostgut (Vorgängerclub des Berghain) und die Panoramabar, ein anderes über Erlebnisse in Mexico, wo das Goethe-Institut mehrmals Technofestivals mit deutschen DJs veranstaltet hat. Außerdem geht es um Drogen, Geld, Party, Reisen, Leben und Tod.

Daniel Schneider

Spex – Das Buch

Max Dax & Anne Waak (Hrsg.)
Spex – Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop
Metrolit 2013
480 Seiten
28 €

Der Sammdaxwaakelband enthält 73 „Schlüsseltexte“ aus der wahrscheinlich wichtigsten deutschen Pop(kultur)zeitschrift Spex, zusammengestellt vom ehemaligen Spex-Chefredakteur Max Dax und der ehemaligen Spex-Redakteurin Anne Waak. In chronologischer Reihenfolge abgedruckt beginnt das Buch mit einem Artikel aus der ersten Spex-Ausgabe aus dem Jahr 1980 (über Joy Division, von Peter Bömmels) und endet mit einem Text über Penny Martin, Chefredakteurin der Zeitschrift Gentlewoman, aus dem Jahr 2012 (von Anne Waak). Dazwischen finden sich Beiträge von Autor_innen wie Clara Drechsler, Diedrich Diederichsen, Rainald Goetz, Joachim Lottmann, Clara Drechsler, Mark Terkessidis, Sandra Grether, Hans Nieswandt, Dietmar Dath, Georg Seeßlen und vielen anderen. Der Großteil der Texte dreht sich um Musik – beispielsweise um Bands und Künstler_innen wie Madonna, Beastie Boys, Guns’n’Roses, Aphex Twin, Kurt Cobain oder die Pet Shop Boys – aber auch um andere Themen, von Kunst über Mode bis Politik, die zeigen, dass die Spex immer mehr war (und bis heute ist) als eine Musikzeitschrift.

Daniel Schneider

Generation Ego

Bernhard Heinzlmaier & Philipp Ikrath
Generation Ego – Die Werte der Jugend im 21. Jahrhundert
Promedia 2013
208 Seiten
17,90 €

Der andauernden Diskussion über den Werteverfall der Jugend, ihre Politikverdrossenheit und ihren übertriebenen Egoismus wird mit diesem Buch eine wissenschaftlich fundierte und umfassende Argumentationsgrundlage gegenübergestellt. Die beiden österreichischen Autoren bedienen sich dabei soziologischer Theorien, philosophischer und psychologischer Ansätze sowie der Analyse geschichtlicher Entwicklungen, um nicht nur den tatsächlichen Ist-Zustand abseits der medialen Aufschreie zu beschreiben, sondern auch um herzuleiten, wie es zu der aktuellen Situation kommen konnte. Unter Zuhilfenahme aktueller wissenschaftlicher Studien sowie Klassiker der Theorie wie Marx, Weber, Mead, Bourdieu oder Elias (um nur einige zu nennen) wird so ein kompetentes Bild der jugendlichen Gegenwart gezeichnet, welches sich trotz der Orientierung auf österreichische Jugendliche gleichwohl auch auf die Situation in Deutschland, wenn nicht sogar in Teilen auf ganz Westeuropa beziehen lässt.

Das Buch beginnt mit einer Erläuterung des  Phänomens Jugend, ihres Stellenwerts in der Gesellschaft sowie mit der Entwicklung und Bedeutung von Werten. Jugend ist dabei ein dehnbarer Begriff und wird im Folgenden sowohl für die klassische Jugend der Teens als auch für die Generation der jungen Erwachsenen gebraucht. In Kapitel 2 geben die Autoren eine Einführung in die jugendliche Alltagskultur und den gegenwärtigen Trend zur Individualisierung, welcher vor allem geschichtlich nachvollzogen wird. Es folgt eine Skizzierung der Gegenwart, in welcher dargelegt wird, wie Medien, Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Bedingungen der Beschleunigung sowie der Marktwirtschaft auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen einwirken und ihre moralischen Auffassungen, ihre religiösen Orientierungen sowie ihre Werteorientierungen beeinflussen. Eine umfassende Diskussion über politische Partizipation und Wahrnehmung, eine veränderten Protestkultur und die zunehmende Differenzierung der großen politischen Strömungen umfasst Kapitel 5. Anschließend bearbeiten die Autoren den großen Komplex Bildung, Ausbildung und Arbeitswelt und beschreiben, wie sich die Auffassungen von Arbeit und Freizeit verändern und welche Auswirkungen das neue Dogma des lebenslangen Lernens auf die Arbeitsmarktsituation der Jugend hat. Insbesondere dem Einfluss des Marktes  wird hier umfassend Rechnung getragen. Zudem wird die Rolle des Internets dargelegt, welche den Stellenwert des Egos und der Selbstdarstellung betont und damit die Individualisierung vorantreibt. Doch auch dem Phänomen der digitalen Gemeinschaft und der sozialen Netzwerke wird auf den Grund gegangen. Im abschließenden Kapitel wagen die Autoren einen vorsichtigen Blick in eine mögliche Zukunft, welcher momentane Entwicklungen weiterspinnt und stellenweise als Warnung gelesen werden kann.

Leser_innen zwischen 20 und 35 werden bei der Lektüre sicher oft ihre eigene arbeitsmarktunsichere und strukturell instabile Situation wiedererkennen und zumindest dahingehend getröstet werden, mit diesen Problemen nicht alleine dazustehen, sondern einer systematischen und scheinbar unaufhaltsamen gesellschaftlichen Entwicklung ausgeliefert zu sein. Jüngere Leser_innen werden vor der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung gewarnt und können das Buch als Offenlegung ihrer Handlungsoptionen und –grenzen begreifen. Ältere Leser_innen werden demgegenüber erkennen müssen, dass alles Schimpfen über die heutige Jugend nichts nützt: die Vorherrschaft von Kapitalismus und Marktwirtschaft wurde durch die Lebensweise ihrer Generation weiter vorangetrieben, wobei die Konsequenzen nun von der Jugend getragen werden müssen. Zudem wird ihnen klar werden, dass sie viele Phänomene durch die Allgegenwärtigkeit der neuen Medien und der veränderten Lebensorganisation nicht mehr begreifen können und gut daran täten, die Jugend nicht von Vornherein zu verurteilen. Mit der Lektüre dieses Buches zweier kompetenter Jugendkulturforscher hätten sie jedoch eine große Chance auf Verständnis und Toleranz gegenüber der alltäglichen Realität der nachwachsenden Generation.

Ute Groschoff

Spass am Widerstand

Paul Willis
Spaß am Widerstand – Learning to Labour
Argument 2013
312 Seiten
18 €

Der Klassiker der Cultural-Studies-Forschung von 1977 in einer Neuauflage mit einem aktuellen Vorwort von Albert Scherr. Willis erforschte damals mit Interviews, Gruppendiskussionen, teilnehmenden Beobachtungen und vertiefenden Fallstudien die letzten zwei Schuljahre und ersten Monate im Job von Arbeiterjungen. Entstanden ist nicht nur ein Lehrbeispiel für die Jugendkulturforschung, sondern auch eine Ethnografie der Schule, die bis heute Ungleichheiten reproduziert und mit dem widerständigen „destruktiven“ Oppositionsverhalten von „bildungsfernen“ Jugendlichen, wie es ja heute heißt, nicht umgehen kann.

Klaus Farin