Zurück am Tatort Stadium

Martin Endemann / Robert Claus / Gerd Dembowski / Jonas Gabler (Hrsg.)
Zurück am Tatort Stadion – Diskriminierung und Antidiskriminierung in Fußball-Fankulturen
Verlag die Werkstatt 2015
384 Seiten
19,90 €

9783730701317_coverDas Bündnis Aktiver Fußball-Fans (BAFF) ist ein seit 1993 bestehender vereinsübergreifender Zusammenschluss von Fußballfans, der sich für Fanrechte und den Erhalt einer ursprünglichen Fußballfankultur einsetzt. Das BAFF nennt dies den „Erhalt der historisch gewachsenen Fankultur als Stadion-Live-Ereignis mit hohem Unterhaltungs- und sozialem Integrationswert“ (s. hier) – dazu gehört neben einer kritischen Betrachtung von Kommerzialisierung und Repression auch der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung. Zu diesem Thema machte das BAFF besonders mit der Ausstellung „Tatort Stadion“ auf sich aufmerksam, die seit 2001 an über 200 Orten gezeigt wurde. Nachdem im Jahr 2002 schon der 216 Seiten starke Sammelband „Tatort Stadion“ erschienen ist, ist nun ein zweiter Sammelband zum Thema erhältlich.

Zurück am Tatort Stadion“ liefert ähnlich wie die Broschüre „Fairplay statt Hass“ eine Bestandsaufnahme zu Rassismus und Diskriminierung in Fußball-Fankulturen. Als Herausgeber treten die „Stars“ der kritischen Fußballliteratur auf – Martin Endemann, Robert Claus, Gerd Dembowski und Jonas Gabler – alles Namen, die man in den letzten Jahren häufiger im Zusammenhang mit (qualitativ hochwertigen) Publikationen zu Ultras, Hooligans und Diskriminierung gelesen hat.

Bevor der Sammelband sich Kapitel für Kapitel durch die verschiedenen Aspekte von Diskriminierung und Antidiskriminierung im Fußballsport arbeitet, müssen sich im ersten Beitrag „Wir sind besser als die anderen“ erstmal alle Ultras und begeisterten Fußballfans der Frage stellen, inwiefern ihre Leidenschaft auch ausgrenzend ist. Die Mär vom „in die Wiege gelegten“ Dasein als bedingungsloser Fußballfan wird in Frage gestellt und die unter Fans verbreitete Selbstgerechtigkeit, Erhöhung und Mystifizierung thematisiert – hier sollten sich wohl auch antirassistische Fans und Ultras (berechtigterweise) angesprochen fühlen.

Danach wird im ersten Kapitel in unterschiedlichen Formaten, vom Essay bis zum Interview, auf die Themen Rassismus, Vorurteile, Diskriminierung, die Marginalisierung von Frauenfußball, Frauen in der Ultraszene, Homophobie, Männlichkeit, Fans mit Behinderung, Antisemitismus, Antiziganismus, Ethnizität, Weißsein und die Identitätsfrage von deutschen MigrantInnen im deutschsprachigen Fußballsport eingegangen. Besonders die Interviews bewegen sich nah am Geschehen, z. B. wenn ein aus Indien stammender Kölner Ultra seine Erfahrungen reflektiert und facettenreich darstellt, ergeben sich sowohl für Insider als auch für Außenstehende aufschlussreiche Einblicke.

Das zweite Kapitel „Kampfort Stadion“ führt von der Sammlung an Fakten und Eindrücken des ersten Teils zur eingehenden Analyse. Besonders die Essays „Rechtsextremismus und Fanszenen – ein analytischer Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen“ (Pavel Brunßen / Robert Claus) und „Patriotisches Menschenmaterial“ (Markus Ragusch / Michael Weiss) gehen angenehm in die Tiefe. Gerade zweiterer Artikel, der sich mit der Entwicklung von der Facebook Gruppe „Weil Deutsche sich’s noch trauen“ hin zu einer HoGeSa-Demonstration in Köln mit 5000 Teilnehmern beschäftigt, deckt die gefährlichen Vernetzungen zwischen Alt-Hooligans und rechtsoffenem Nachwuchs und der Rolle von sozialen Netzwerken auf. Eine längst überfällige Recherchearbeit zu den „nationalen Fußballjungs“, die auf ganzer Linie überzeugt.

Im dritten Teil „Tatort Europa“ geht es nach Italien, Frankreich, das ehemalige Jugoslawien, England und die Türkei. Gerade der Blick nach Zagreb und Belgrad (Holger Raschke: Football with a lot of Politics – Die Fankultur im ehemaligen Jugoslawien), wo die Politik eine bedeutende Rolle im Stadion spielt und es als Fan nicht im Frage käme, sich als „unpolitisch“ zu bezeichnen, oder „Von den Tribünen zum Gezipark – Fußballfans in der Türkei zwischen Nationalismus und Protest“ (Harald Aumeier / Robert Claus) sind von so großer Aktualität und Brisanz, dass die Themen jeweils eigene Bücher füllen könnten. Oder zumindest hätte der „Tatort Europa“ die Berechtigung auf eine eigene, umfassende Publikation – ein Kapitel zur Rolle von Ultras auf dem Maidan sowie den verheerenden Problemen mit Rassismus und Diskriminierung im ukrainischen und russischen Fußball sucht man zum Beispiel vergebens, obwohl dies ebenfalls wichtige und aktuelle Themen gewesen wären.

Mit den „Gegenorten“ wird im vierten Teil der Kreis dann geschlossen – jetzt kommt nach drei Kapiteln, die einen mitunter fassungslos und wütend zurücklassen, ein wenig Hoffnung ins Geschehen, wenn es um Antidiskriminierungsarbeit, Fanprojekte und Initiativen wie den „Fußballfans gegen Homophobie“ geht.

Alles in allem ist „Zurück am Tatort Stadion“ mit seinen 29 Beiträgen aktuell die umfassendste Publikation zum Thema Rassismus, Diskriminierung und Antidiskriminierung im Fußball. Dass der Sammelband mit seinem Umfang von 400 Seiten teilweise noch Wünsche nach tiefer gehenden Auseinandersetzungen offen lässt, verdeutlicht die Vielseitigkeit und Brisanz dieses Themas – dass er ohne Längen auskommt und sich auch theoretischere Beiträge durchwegs gut und flüssig lesen lassen, spricht für seine Qualität. Eine längst überfällige Publikation, die die Arbeit des BAFF hoffentlich weiterhin vorantreibt und andere ermutigt, sich in das Thema einzulesen oder die eigene Rolle im Fußballstadion zu hinterfragen.

Pavel Brunßen, Chefredakteur des Transparent Magazins, stellt in Kooperation mit dem Werkstatt-Verlag das Buch noch an folgenden Terminen vor:

20.10.2015 – Darmstadt, Fanprojekt Darmstadt
21.10.2015 – Fürth, Fanprojekt Fürth
22.10.2015 – Duisburg, Wedaustadion, Presseraum
24.10.2015 – München, Fanheim am Louisoder-Spielplatz
30.10.2015 – Oldenburg, Fanprojekt
18.11.2015 – Freiburg, Fanprojekt Freiburg

Wer sich für die Wanderausstellung interessiert, wird noch etwas warten müssen, da sie gerade überarbeitet und aktualisiert wird. Mehr Infos unter: https://www.facebook.com/TatortStadion

Florian Hofbauer

Die Macht der Nacht

Westbam
Die Macht der Nacht
Ullstein 2015
320 Seiten
18 €

51JARG28CDL._SX312_BO1,204,203,200_Westbam überall. Bücher, Filme, Podiumsgespräche. Es passt allerdings auch alles sehr gut zusammen – zu seinem 50. Geburtstag ist dieses Jahr seine Biographie „Die Macht der Nacht“ erschienen, die wiederum perfekt zum ganzen Westberlin-Subkultur-Mauerfall-Einheit-Techno-Rummel der letzten Jahre passt, in dessen Kontext er auch schon regelmäßig auftauchte. Denn Maximilian Lenz, so Westbams bürgerlicher Name, war irgendwie immer mitten drin in diesen Szenen und kannte anscheinend alle, die wichtig waren. Und zwar schon ab Ende der 70er Jahre, als er Punk entdeckte und selber zu einem wurde – und in den darauffolgenden Jahren verschiedene wichtige Protagonist_innen der deutschen Szene, von den Toten Hosen über DAF, Mania D/Malaria! bis zu den Einstürzenden Neubauten, kennenlernte. Das lag u. a. auch an seinem gut vernetztem Freund und späteren Manager William Röttger, der schon früh davon überzeugt war, dass Maximilian ein großes Talent sei. Dieser nannte sich als Punk „Frank Xerox“ und spielte dann auch schon 1981 mit seiner Band „Kriegsschauplatz Tempodrom“ beim „Festival Genialer Dilletanten“ in Berlin, das als eine Art Startpunkt für die Westberliner Szene gilt.

Nachdem Lenz 1982 schon ein halbes Jahr in Berlin zur Schule gegangen war (als eine Art „Auslandsaufenthalt“ und erstaunliche „Bildungsreise ins Nachtleben“) zog er nach seinem Abitur endgültig von Münster nach Berlin und fing an, im Metropol aufzulegen. Es folgen turbulente Jahre, in denen Lenz ein Pionier der elektronischen Tanzmusik wird, nicht nur als DJ, sondern auch als Theoretiker – 1984 verfasste er den Artikel „Was ist Record Art?“, der der erste deutschsprachige Text zum neuen Phänomen des DJings war.

In die „Macht der Nacht“ – benannt nach einer Partyreihe in einem Zirkuszelt, einer Art Rave, bevor es Raves gab – erzählt Lenz seine Geschichte von seiner Kindheit in den 1970ern bis Mitte der 1990er Jahre, als Techno zur größten deutschen Jugendkultur wurde. Die Biografie ist eine unterhaltsame, manchmal sogar äußerst komische Lektüre, in einzelnen Momenten aber auch schrecklich traurig (tragische Todesfälle gehören zu solch einer Geschichte dazu), und sie zeigt sehr anschaulich, wie sich Techno in Berlin u. a. aus der Punk- und New Wave-Szene und der schwulen Partykultur heraus entwickelt hat. Das alles ist also auch ein lesenswertes Stück Musikgeschichte und eine Dokument über den Aufstieg von Techno zur Massenkultur, zu dem Westbam mit seiner Beteiligung an Veranstaltungen wie der Loveparade und der Mayday sowie durch die chartstaugliche Musik seines Plattenlabels Low Spirit einen bedeutenden Beitrag geleistet hat. Dafür wurde er oft angefeindet, da ihn Techno als reine Untergrundkultur nicht interessierte, und hat ihm teilweise das Image eines rein kommerziell denkenden Großraumdisko-DJs einbrachte – was so nicht stimmt, das Buch ist auch von einer überzeugenden Liebe zur Musik geprägt und voll nerdigem Wissen über tolle Platten.

Nach dem Größenwahn Mitte der 1990er, als Westbam, Dr. Motte und Jürgen Laarmann (Frontpage) von der Raving Society träumten und die Loveparade jedes Jahr größer wurde, kommt aber leider nur noch sehr wenig. All das, was ab Ende der 1990er passierte, hat bis auf ein paar wenige Episoden anscheinend nicht mehr ins Buch gepasst. Es wäre bestimmt spannend gewesen, wie z. B. der Aufstieg von Minimaltechno (kurz bringt er das mit 9/11 in Verbindung, der seiner Meinung auch in der Technoszene zu einer neuen Zurückhaltung geführt habe) oder die Bedeutung des Berghains (auf einem Podiumsgespräch bei der Heinrich-Böll-Stiftung sprach er diesbezüglich von der Suche nach der Hochkultur) aus Westbams Sicht einzuschätzen sind. Vielleicht fehlen diese Themen auch deshalb, weil sich Westbam hier nicht mehr wohl gefühlt hat, er deutet das an, in dem er darüber schreibt, dass er sich in dieser Zeit manchmal „unpassend“ gefühlt habe. Aber auch die weitere Karriere von Westbam selbst, von seiner erfolgreichen Zusammenarbeit mit Nena (Oldschool, Baby 2002) bis zur Katastrophe auf der Loveparade in Duisburg 2010, auf der er sein letztes Set auf einer Loveparade überhaupt spielen wollte, fehlt fast komplett.

mailEin klein wenig mehr über Westbams Sicht auf die Gegenwart erfährt man im neu verfassten Nachwort zur vor kurzem erschienen Neuauflage von Ulf Porscharts „DJ Culture“, das gerne als Standartwerk zum Thema bezeichnet wird. Hier schreibt Westbam u. a. über Laptop-DJs und digitale Musikkultur, oder auch den Aufstieg der Superstar-DJs, die vor riesigen Menschenmassen auftreten und Millionen verdienen, aber teilweise gar nicht selber mixen können. Er selbst hat nie diesen Status des absoluten Superstar-DJs erreicht – ein Phänomen, das vor allem im Kontext von EDM in den USA ganz neue Blüten treibt – vielleicht, weil er doch trotz allem irgendwie immer mit einem Fuß im Untergrund verwurzelt geblieben ist und am totalen Ausverkauf kein Interesse hatte.

Als gute Ergänzung zu „Die Macht der Nacht“ läuft im Moment in der Mediathek von Arte die Dokumentation „Bäm Bäm Westbam!“, in der noch einmal wesentliche Episoden der Biografie thematisiert werden und auch einige der Protagonisten zu Wort kommen. Westbam unterhält sich hier mit Gabi Delgado von DAF, der Berliner DJ-Legende Fetisch und seinem Kollegen Hardy Hard. Seltsamerweise taucht auch Sven Regner auf, der die elektronische Tanzmusik als Rache der Keyboarder am Rock’n’Roll bezeichnet (weil nun endlich nicht mehr die Leute mit den Gitarren im Mittelpunkt stehen). Das ist alles durchaus sehenswert und ebenfalls ziemlich unterhaltsam, allerdings teilweise großspuriger erzählt als es notwendig gewesen wäre, z. B. wenn in den Kommentaren Westbams Rolle auf übertriebene Weise gepriesen wird, nervt das ziemlich – Westbam ist zwar kein bescheidener Mensch und hat auch keinen Grund dazu, seine Biografie liest sich aber auch deshalb so angenehm, weil er mit einer gewissen ironischen Distanz auf seine Karriere blickt.

Aktuell ist neben „Bäm Bäm Westbam!“ auch „B-Movie“ bei Arte +7 zu sehen, die Dokumentation über die Westberliner Subkultur – selbstverständlich ebenfalls mit Westbam.

Daniel Schneider