Fundstücke aus dem Archiv: Hörer*innenpost an Monika Dietl

Diese Fundstücke hatten wir vor ein paar Wochen schon bei Facebook präsentiert, jetzt zeigen wir sie hier noch einmal, inklusive von ein paar weiteren Bildern:

Hörer*innenpost an Monika Dietl bzw. ihre Sendungen „S-F-Beat“ bei SFB 2 und „The Big Beat“ bei Radio 4U (dem kurzlebigen Jugendsender des SFB) von Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre. Monika Dietl war in den späten 80ern die erste Berliner Radiomoderatorin, die in ihren Sendungen auch House und Techno spielte und damit viele spätere DJs und Raver*innen zum ersten Mal in Kontakt mit dieser neuen Musik brachte. Für nicht wenige waren die Sendungen von „Moni D.“ die wichtigste Informationsquelle überhaupt, da es nicht gerade leicht war, an die Platten ranzukommen und zu erfahren, was es da eigentlich gerade alles so gibt. Die Playlists der Sendungen konnten sich die Hörer*innen auf Anfrage sogar zuschicken lassen. Dazu gab’s Hintergrundinformationen, Interviews mit den Künstler*innen und – auch ganz wichtig – Infos über die neusten Clubs und kommenden Partys.

Auch im Osten der Stadt wurde SFB gehört und auf Partys liefen Tapes mit Zusammenstellungen von Tracks aus Monika Dietls Sendungen. Die Fans aus dem Ostteil der Stadt waren also schon gut informiert darüber, was im Westen passierte. Der Legende nach parkten deshalb zur Überraschung der West-Berliner*innen schon direkt nach dem Mauerfall die ersten Trabbis vor dem UFO (dem ersten „Acid-House-Club“ Berlins).

Die Briefe drehen sich z.B. um die aktuellen Clubs und wichtigsten Plattenläden: Welche sind cool? Welche nicht? Wo gibt’s die neusten Maxis? Und wie schafft man es, im Plattenladen Hard Wax netter behandelt zu werden? Dazu Einsendungen zu Verlosungen, z.B. von Gästelistenplätzen. Viele liebevoll gestaltete Briefe und Postkarten sind dabei. Das Konvolut ist ein eindrückliches Zeugnis der frühen Technoszene und erzählt von der Bedeutung des Radios in der Zeit vor dem Internet.

PS: Übrigens gibt es in unserer Sammlung auch ein paar Mitschnitte von S-F-Beat und The Big Beat zum Nachhören. Der Bestand an Hörer*innenbriefen konnte im Rahmen einer Förderung durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa aufgearbeitet werden.

Daniel Schneider

BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003-2021

Reclaim Your City
BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021
Assoziation A 2022
480 Seiten
38,00 €

Was für ein Wälzer! Mit „BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003-2021“ hat das Reclaim-Your-City-Kollektiv einen fast 500 Seiten starken Band über Berliner Urban Art, Clubkultur und die Recht-auf-Stadt-Bewegung vorgelegt, der an dieser Stelle nur wärmstens empfohlen werden kann. Bebildert mit einer riesigen Menge an Fotos und illustriert mit einer Reihe an Karten, dokumentiert das Buch die Aktivitäten der Szenen seit Beginn der 2000er Jahre und zeigt, wie sehr sie das kulturelle Leben und die sozialen Proteste Berlins mitgeprägt haben. Ein Ausgangspunkt ist die Street-Art-Ausstellung Backjumps von 2003, die neue Formen von Kunst im öffentlichen Raum in Berlin populär gemacht hat. In dieser Zeit begannen auch Kollektive zunehmend unangemeldete Partys in Parks, auf Brachen oder leerstehenden Räumen zu veranstalten und etablierten alternative Formen der Clubkultur in Berlin. Und auch die Proteste gegen den Ausverkauf der Stadt nahmen in den 2000er Jahren zu, beispielsweise mit den Protesten gegen die Privatisierung des Spreeufers in Friedrichshain-Kreuzberg unter dem Motto „Mediaspree versenken“ sowie den später folgenden Mietenprotesten. Immer geht es um nicht-kommerzielle Kultur und das Schaffen und Bewahren von Freiräumen, um eine lebenswerte Stadt für alle. Zugleich können diese Aktivitäten aber auch dem Stadtmarketing in die Hände spielen und gelten als „weiche Standortfaktoren“, sie können Verdrängung und Verteuerung beschleunigen. All diese Themen werden in „BITTE LEBN“ behandelt und machen das Buch zu einer beeindruckenden Dokumentation der letzten 20 Jahre Berliner Subkultur und ihren überregionalen und internationalen Netzwerken.

Malaktionen von 1UP, ÜF und Paradox an einem Haus am Hermannplatz
Aus Protest gegen die Räumung der Kreuzberger Cuvry-Brache und den Investor, der das Gelände gekauft hat, werden die Wandbilder mit Einverständnis des Künstlers Blu übermalt.
Um neue Orte für Kunst und Partys zu finden, wird die Stadt erkundet.
Die Räuberhöhle auf dem Fusion-Festival (oben) und der Club Mensch Meier (unten).
Eine ganze Reihe an Karten verorten die Aktivitäten der Künstler*innen und Aktivist*innen, die Clubs und Hausprojekte in der Stadt.

Erhältlich ist das Buch im Buchhandel und bei Hitzerot. Bei uns im Archiv sind außerdem vielfältige Materialien aus den im Buch thematisierten Kontexten gesammelt.

Daniel Schneider

Fundstücke aus dem Archiv: Unterlagen aus dem Georg-von-Rauch-Haus

Unser Blog soll ja lebendiger werden, deshalb veröffentlichen wir hier ab jetzt auch unregelmäßig Beiträge über Fundstücke aus unserer Sammlung. Den Anfang machen Dokumente aus der Anfangszeit der Berliner Hausbesetzungs- und Jugendzentrumsbewegung: ein Bestand an Unterlagen aus dem Georg-von-Rauch-Haus in Kreuzberg, vorgestellt von unserer Praktikantin Laura Stoppkotte.

Anfang der 1970er gab es laut Schätzungen des Senats rund 1.200 Treber*innen in Westberlin, die unter 14 Jahre alt waren. Das waren Kinder und Jugendliche, die aus den damals sehr autoritär strukturierten Erziehungsheimen oder aus den problematischen Verhältnissen von zuhause abgehauen waren. Sie wurden meist von der Polizei gesucht, die sie sofort zurück ins Heim steckte, und hatten so keine Chance auf einen Schul- oder Ausbildungsplatz. Darum bildeten sich Gruppen, die sich der Probleme der Treber*innen annahmen. Am 2. Juli 1971 wurde ein Fabrikgelände in Kreuzberg besetzt, wo der Jugendzentrum e.V. einzog. Ein halbes Jahr später, am 8. Dezember 1971, wurde das nahegelegene Martha-Maria-Haus des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses besetzt und über 60 Treber*innen, Lehrlinge und Jungarbeiter*innen zogen in das in „Georg-von-Rauch-Haus“ umbenannte Gebäude ein.

Im Rauch-Haus-Bestand lassen sich auch einige Unterlagen anderer Projekte der Jugendarbeit finden. Zum Beispiel eine Selbstdokumentation der Trebebambule, einem Projekt des SSB e.V. (Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin). Die Trebebambule bildete Wohngruppen, in denen 3-5 Jugendliche mit ebenso vielen Erwachsenen in einer Wohngruppe lebten und sie unterstützen, sodass sie größtenteils selbstbestimmt leben konnten. Sie stellte Trebeausweise für die Jugendlichen aus, damit sie die Zugehörigkeit zu der Gruppe nachweisen konnten.

In dem Bestand findet sich auch eine Selbstdokumentation des Tommy-Weisbecker-Haus (ebenfalls SSB e.V.) mit einem kleinen Comic zur Entstehung des Wohnprojektes. Dafür wurde nämlich im Februar 1973 zu Verhandlungszwecken zwei Wochen lang das Drugstore besetzt. Als Ergebnis wurde ein erster Mietvertrag bis Ende 1973 abgeschlossen.

Der Senat hat immer wieder Gründe gesucht um das Rauchhaus und Tommyhaus räumen zu lassen – beide Projekte existieren aber bis heute an ihren ursprünglichen Orten. Anders ist die Situation des selbstverwalteten Jugendzentrums Drugstore (auch SSB e.V.). Das Drugstore ist weiterhin auf der Suche nach geeignten neuen Räumen, seitdem es Ende 2018 seine Räume in der Potsdamer Straße 180 räumen musste, wo es seit 1972 sein Zuhause hatte.

Der Blick in eine Kiste…

 …kann ein Blick in ein Leben sein!

Ende letzten Jahres haben wir einen Teilnachlass des im Juni 2020 verstorbenen Lord Knud übernommen. 


Knud war Gründungsmitglied der Berliner Beat-Band „The Lords“, die auch als die ‚deutschen Beatles‘ bezeichnet wurden. 1965 verlor er bei einem schweren Autounfall mit dem Tourbus ein Bein und musste die Band verlassen. Darauf begann er als DJ in Berliner Diskotheken zu arbeiten und wurde 1968 Radiomoderator beim Berliner Sender RIAS. Dort moderierte er bis 1985 die Sendung „Schlager der Woche“, die eine der beliebtesten Radiosendungen sowohl in West- wie auch Ost-Berlin wurde. Allerdings stand Knud immer wieder für seine heftigen Sprüche und sexistischen Witze in der Kritik – was wohl auch zu seiner Entlassung beigetragen hat. Er arbeitete außerdem u.a. als Schauspieler oder als Stadionsprecher bei Hertha BSC. Nach dem Fall der Mauer entdeckte er dann die Berliner Technoszene für sich und tauchte in die neue Partykultur der Stadt ein.


(Foto: Kathrin Windhorst / http://www.kwikwi.org


Unser Kollege Auge hat in den letzten Monaten mit viel Herzblut den Nachlass gesichtet und archivgerecht verpackt. Enthalten sind viele Zeugnisse aus Knuds ereignisreichem Leben von seiner Zeit bei „The Lords“ bis zu seinen Aktivitäten in der Technoszene: darunter Witzesammlungen und anderes Material, das er zur Vorbereitung seiner Radiosendungen nutzte, viele Jahrgänge seiner Plattenkolumne „Lord Knuds Popshop“ aus der B.Z., Zeitungsausschnitte mit Artikeln über „The Lords“ und Knud, Fanpost, Fotos, eine goldene Schallplatte, Mitschnitte von privaten Jams mit Techno-DJs und diverse Merchandising-Artikel aus „Lord Knuds Rainbow Shop“ (den Regenbogen verstand er als Symbol für Frieden und Zusammengehörigkeit). Ein außergewöhnlicher Nachlass, der rund 50 Jahre Berliner Popgeschichte abdeckt. 

„Wer war eigentlich Lili Elbe?“- Projektwoche zu LSBTI*-Identitäten in Berlin damals und heute

Eine Frage, die sich die Schüler*innen des Hermann-Hesse Gymnasiums während der Projektwoche „Auf den Spuren von Lili Elbe-LSBTI* Identitäten in Berlin damals und heute“ vom 10. bis 14. Juli 2017 gemeinsam mit dem Projekt „Diversity Box“ des Archiv der Jugendkulturen e.V. gestellt haben.

Es wurde eigenständig recherchiert und zudem bei der Expertin Niki Trauthwein des Lili Elbe Archivs nachgefragt. Sie gab den Schüler*innen in einem Vortrag Einblicke in die Vielfalt Berlins in den 1920er und beginnenden 1930er Jahre. Niki Trauthwein berichtete von Orten, wie dem Eldorado, einem beliebten Lokal für Schwule und Lesben in Berlin, vom Institut für Sexualwissenschaften sowie dem Forscher Magnus Hirschfeld, einem zentralen Vorreiterr in der Forschung zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, der selbst auch als Aktivist für die Gleichstellung von LSBTIQ*-Menschen von Bedeutung war.

Lili Elbe, eine dänische Inter*person suchte ärztlichen Rat bei Magnus Hirschfeld in Berlin im Jahr 1930, da die Forschung zu Trans*-und Inter*geschlechtlichkeit am Institut für Sexualwissenschaften, vor allem von Magnus Hirschfeld mit vorangetrieben wurde.

Mit diesen Informationen im Gepäck erforschten die Schüler*innen gemeinsam mit Diversity Box-Teamer*innen in zwei parallel gelaufenen Workshops, Video und Comic,  weitere Aspekte der Vielfalt, Akzeptanz und Sichtbarkeit queerer Menschen in Berlin damals und untersuchten Parallelen sowie Unterschiede zum Leben queerer Menschen heute in Berlin.

Die Schüler*innen im Video Workshop entschieden sich in der Kreativphase der Projektwoche für eine spannende Symbiose von Realität und Fiktion. Zuerst ging die Reise zurück ins Berlin der 1920er Jahre. Ein Abend im Lokal „Eldorado“ wurde im Stummfilm-Stil umgesetzt, die Schüler*innen konstümierten sich und versetzten sich in queere Menschen der damaligen Zeit.

Danach ging es an aktuelle Orte queerer Vielfalt in Berlin, wie den Nollendorfplatz in Schöneberg und in den Südblock am Kottbusser Tor in Kreuzberg.

Die Schüler*innen filmten und interviewten dabei Tülin Duman, die Geschäftsführerin des Südblocks sowie den Inhaber der queeren Buchhandlung Eisenherz am Nollendorfplatz. Heraus kam ein von den Schüler*innen selbst gestalteter 15-minütiger Film zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, der den Bogen zwischen dem Berlin damals und heute spannt.

Im Comic-Workshop entstand das Comicheft „Auf ins Gute“, in dem die Schüler*innen Zeichnungen und Texte zu einer Geschichte über gleichgeschlechtliche Liebe, Diskriminierung und Akzeptanz formten. Hauptprotagonistinnen der Geschichte sind zwei Mädchen, die sich über die gemeinsame Recherche zum Leben von Lili Elbe und dem Berlin der 20er und 30er Jahre, näher kommen und schließlich in einander verlieben.  In ihrer Heimatstadt Nürnberg stößt ihre Liebe auf viel Widerstand, weshalb sie sich entscheiden gemeinsam nach  Berlin zu gehen, wo sie auf eine offenere Gesellschaft hoffen und die vielfältige queere Szene kennenlernen wollen:  Ihr „Umzug ins Gute“.

 

Ein Dank geht an alle Projektbeteiligten: Den Schüler*innen des Hermann-Hesse Gymnasiums, den Lehrer*innen Fernando da Ponte, Andreas Beck und Sandra Christall, den Teamer*innen Sanni Cabral, Nina Kunz, Lili Loge, Tine Fetz und den Projektmitarbeiter*innen Saskia Vinueza und Vicky Kindl.

Gefördert wurde diese Projektwoche „Auf den Spuren von Lili Elbe-LSBTI*-Identitäten in Berlin damals und heute“  von der LPB Berlin, der unser herzlicher Dank gilt.

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Vernetzungstreffen „Queere Bildung“ am 22.Juni 2017 // Projekt Diversity Box

Vernetzungstreffen -„Queere Bildung“ – Geschlechterreflektierte Bildungsarbeit in Berliner Schulen-

am 22.Juni von 10.00 bis 18.00 im Aquarium (Skalitzer Str. 6, Nähe Südblock)

ab 18.00: Ausklang mit DJ- SET von SANNI  (https://www.facebook.com/sanniest)

Unser Projekt „Diversity Box“ lädt ein zum Vernetzungstreffen „Queere Bildung“. Schwerpunkte unserer Arbeit sind die Sensibilisierung und Aufklärung von homo- und transfeindlicher Diskriminierung sowie die Sichtbarkeit und Repräsentation von queeren Lebenswelten in Jugendkulturen und Gesellschaft. Das Vernetzungstreffen „Queere Bildung“ richtet sich an unsere Berliner Kooperationspartner*innen sowie an interessierte Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen, Erzieher*innen und Aktivist*innen, die sich zu Queer, Jugendkulturen und Bildungsarbeit austauschen möchten. Gemeinsam mit allen Teilnehmer*innen möchten wir diesen Tag als Raum für offenen Austausch, Reflexion, Empowerment und Vernetzung gestalten. Dabei stehen die Herausforderungen und Rahmenbedingungen der Arbeit zu homo- und transfeindlicher Diskriminierung im Kontext Schule und Jugendarbeit sowie die Belange und Erfahrungen der Teilnehmer*innen im Vordergrund.

Wir bieten drei thematische AGs an:

AG 1 – Die haben wir hier gar nicht?!- Queere Sichtbarkeit im Kontext Schule

AG 2 – Queere Bildungsarbeit intersektional

AG 3 – Queer & Jugendkulturen: Ansätze für die praktische Bildungsarbeit

Eingeleitet wird das Treffen durch ein Grußwort vom Queer History Month und einen Vortrag zu „Bildungsarbeit verqueeren“ von Prof. Dr. Melanie Groß.

Melanie Groß ist an der FH Kiel für angewandte Wissenschaften Professorin für Erziehung und Bildung mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. A. Jugend- und Protestkulturen, Intersektionalität und Ungleichheit, Poststrukturalistische Theorieansätze insb. Gender und Queer Studies.
Als Rahmenprogramm wird die Diversity Box- Ausstellung die Projektergebnisse aus unseren jugendkulturellen und medienbasierten Workshops für Jugendliche und Fortbildungen und Infoveranstaltungen für Multiplikator*innen aus Berlin präsentieren. Das Vernetzungstreffen „Queere Bildung“ veranstalten wir am Donnerstag, 22. Juni 2017 im Aquarium in Berlin- Kreuzberg und wir laden herzlich ein, diesen Tag gemeinsam mit uns zu gestalten.

Anmeldungen bitte bis zum 15. Juni 2017 unter: http://www.diversitybox@jugendkulturen mit Angabe der gewünschten AG (Erst- und Zweitwunsch).

Die Teilnahme ist kostenlos. Für Getränke und Essen wird gesorgt. Bei der Anmeldung bitte mitangeben, ob vegetarische/ vegane Kost gewünscht ist und ob Lebensmittelallergien bestehen.

Mehr Infos zu unserem Projekt unter: http://www.diversitybox.jugendkulturen.de

Diversity Box wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben“ des BMFSFJ gefördert.

Gender and Black Revolutionaries – Queer History Month meets Black History Month

Eine Kooperation zwischen Diversity Box und der Nelson-Mandela-Schule

Queer History Month im Februar? Ist da nicht auch Black History Month? Für die Schüler*innen der Nelson-Mandela-Schule war daher klar: ein Projekt mit Ihnen soll beides berücksichtigen – schwarze und queere Geschichte in Berlin. Die Grundidee war geboren. Im Rahmen einer Kick-Off-Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit Giuseppina Lettieri und Tino Kandal vom Projekt Diversity Box des Archiv der Jugendkulturen e. V. aus der Idee ein Projekt für den Queer History Month 2017.

Die Schüler*innen suchten sich nach dem ersten Treffen acht queere und/oder schwarze Personen aus, die sie für revolutionär in ihrem Denken und Handeln halten und recherchierten dazu Orte in Berlin, die mit den Personen in Verbindung stehen. Die Wahl der Schüler*innen fiel auf: Gertrude Sandmann, May Ayim, Klaus Wowereit, Magnus Hirschfeld, Marlene Dietrich, Christopher Isherwood, Audre Lorde und David Bowie. Zu allen Personen wurden daraufhin Portrait-Schablonen angefertigt. In einem Diversity Box Street-Art-Workshop im Januar lernten die Jugendlichen, wie die Schablonen ausgeschnitten und dann auf die Platten gesprüht werden.

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Street-Art-Workshop im Archiv der Jugendkulturen e. V.

Mit dem Street-Art-Kunstwerken im Gepäck ging es dann im Februar zum Videodreh nach Schöneberg, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte. An den acht ausgewählte Orten, die in Verbindung mit den jeweiligen Personen stehen – ob Geburtshaus, Wohnort oder Wirkungsstätte – trugen die Schüler*innen eigene Statements vor und führten darüber hinaus noch Passant*innen und Expert*innen-Interviews durch.

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Videodrehtage in Schöneberg, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte

Das Ergebnis dieser schönen Kooperation ist ein 30-minütiger Videofilm zu „Gender und Black Revolutionaries“ in Berlin.

Ein großer Dank geht an die Schüler*innen der GenderSexuality Alliance der Nelson-Mandela-Schule und deren Lehrer Christopher Langhans, an Vicky Kindl und Saskia Vinueza für die inhaltliche und organisatorische Unterstützung des Projekts sowie Conny-Hendrik Kempe-Schälicke von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft.

Giuseppina Lettieri  (Projektleitung„Diversity Box“; http://www.diversitybox.jugendkulturen.de)

Geniale Dilletanten in Hamburg

00004034.jpgDie Sonderausstellung im altehrwürdigen Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Wer den Raum im zweiten Stock betritt, befindet sich in einer mit Musik unterlegten, begehbaren Installation. Diese kreist um acht bekanntere Bandprojekte der 1980er Jahre, u.a. D.A.F., Einstürzende Neubauten, Die tödliche Doris, Der Plan oder F.S.K. Geografisch spielt sich das meiste in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und München ab. Die Bands und ihr Umfeld (Vertriebe, Fanzines, Buchhandlungen und andere Orte etc.) werden mit dokumentarischen Fotos und Filmen und durch künstlerische Bilder und andere Objekte, etwa selbstgebaute Möbel, vorgestellt. Die Ausstellung versteht sich nicht als Musik- oder als Punk-Ausstellung, sondern möchte einige avantgardistische Splitter herauslösen. Produziert wurde sie vom quasi-staatlichen Goethe-Institut. Sie wird vor allem als Tourneeausstellung im In- und Ausland eingesetzt, bisher war sie in Minsk und München zu sehen und ist aktuell auch in Melbourne zu Gast. In Hamburg wird sie in einer erweiterten Fassung mit zusätzlichem Material gezeigt.

Die musikalische und ästhetische Produktion jener Jahre beruhte auf billigen Mieten in Wohnungen mit Kohlenheizung und Außentoiletten, auf einem kreativen Umgang mit dem Urheberrecht und selbstverständlich auf auch heute wieder angesagten Prinzipien wie Kollaboration, Bricolage, DIY und Kreativität, befeuert vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit. Diese Szene hatte mit der damaligen Alternativ- und auf Innerlichkeit abonnierten Ökopax-Bewegung wenig zu tun und mehr Schnittmengen mit Punk. Bevor aus der Neuen Deutschen Welle kommerziell erfolgreiche Popmusik wurde, war es diese Musik, die darunter zusammengefasst wurde.

Die Ausstellung zeigt nun Objekte und Dokumente, die in einer traditionellen Zuordnung der Musik, der Malerei, dem Design, der Videoproduktion entstammen. Sie vermag es, die Stimmung jener Zeit gut zu transportieren. Sie lädt dazu ein, nochmals über Dissidenz und ihre Rolle bei der Herausbildung des Postfordismus nachzudenken, sind doch die Topoi der Revolte jener Jahre, wie Kreativität, Expressivität, Individualität heute längst Bestandteil des neoliberalen Imperativs der Selbstverwirklichung, wie er im Coaching, im Management und anderswo common sense ist: Das klischeehafte Bild vom Künstler als Blaupause zeitgenössischer Arbeitsverhältnisse. Chapeau! Wem das alles zu viel ist, kann sich ja wiedermal „Tanz Debil“ von den Neubauten anhören oder in seinen/ihren alten Kassetten oder Platten stöbern! Oder vor Ort im MKG in der jetzt bis zum 28. Februar verlängerten Ausstellung zum Jugendstil nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten dieser Bewegungen fahnden.

Geniale Dilletanten – Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland
noch bis 30. April 2016
MKG Hamburg, Steintorplatz 1, 20099 Hamburg
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag: 10-18 Uhr, Donnerstag: 10-21 Uhr
Preise: 12 Euro, ermäßigt 8 Euro, Do ab 17 Uhr 8 Euro, bis 17 Jahre frei

Der gleichnamige Katalog ist bei Hatje Cantz erschienen (160 Seiten, 24,00 €)

Geniale Dilletanten in Hamburg bei Google Maps: Die laufend erweiterte Karte zeigt rund 60 Orte in Hamburg, die für die Subkultur der frühen 1980er Jahre von besonderer Bedeutung waren: ehemalige und noch existierende Konzert-Locations, Platten- und Buchläden, Kneipen und Cafés, Theater und Galerien, Musik-Studios und -Verlage werden verortet und ausführlich kommentiert.

Bernd Hüttner

Dieser Text ist zuerst auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen.

ein paar Geschenketipps …

In unserer Bibliothek sind dieses Jahr viele tolle neue Bücher angekommen, die wir gar nicht schaffen, alle vorzustellen – deshalb hier eine kleine Auswahl an schicken Veröffentlichungen, die sich auch gut als Weihnachtsgeschenke eignen.

Tabita Hub / Michal Matlak / Florian Anwander
R is for Roland
Electronic Beats 2015
384 Seiten
54,90 €

www.roland-book.com

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Ein außergewöhnlicher Prachtband, der den Maschinen des japanischen Musiktechnologieherstellers Roland huldigt. Ohne die hier vorgestellten Maschinen, ganz besonders die Drumcomputer TR-808 und TR-909 sowie der Basssynthesizer TB-303, sind Techno und andere modernen elektronische Musikstile eigentlich undenkbar oder würden sich zumindest anders anhören. Das Buch ist allerdings keine musikwissenschaftliche Veröffentlichung, zumindest nicht im engeren Sinne, sondern zuerst einmal ein Fotoband, mit einer Vielzahl an tollen Aufnahmen der zwischen 1973 und 1987 produzierten Geräte. Das ist dann zuerst einmal etwas für Techniknerds und Design-Liebhaber_innen, denn hier steht die Schönheit dieser alten Maschinen im Vordergrund. Dazu gibt es Hintergrundinformationen zu jedem Gerät und Interviews mit namenhaften Musiker_innen (u. a. Lee „Scratch“ Perry, Portishead, Mark Ernestus, Nightmares on Wax, Jeff Mills, Modeselektor und Legowelt), die über die Bedeutung von Roland für ihre eigene musikalische Entwicklung sprechen, wodurch die musikhistorische Bedeutung dieser Geräte deutlich wird.

Mark Reeder
B-Book – Lust & Sound in West-Berlin 1979 – 1989
Edel Books 2015
224 Seiten
39,95 €

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Ja, der Hype um die 1980er Jahre in West-Berlin und den dieses Jahr erschienen Dokumentarfilm B-Movie wird hier noch einmal auf allen Ebenen ausgeschlachtet – neben diesem Buch gibt es auch noch eine CD- bzw. LP-Edition mit dem Soundtrack oder auch alles zusammen in der großen „B-Box“ mit „vielen kultigen B-Goodies als Überraschung“ für knapp 90 €. Da wird es dann irgendwann nur noch albern – was zwar an der Qualität des Filmes nichts ändert, aber doch irgendwie einen etwas schalen Beigeschmack hinterlässt. Trotzdem ist das Buch für alle an der Geschichte deutscher Pop- und Subkultur Interessierte empfehlenswert, es enthält im Prinzip den aufbereiteten und unterhaltsamen Erzählertext des Filmes (von Mark Reeder) in gedruckter Form plus eine große Menge an Fotografien aus dem West-Berlin der 1980er Jahre.

Berghain (Hrsg.)
Kunst im Klub
Hatje Cantz 2015
208 Seiten
37,00 €

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Das Berghain, gerne als der wichtigste Technoclub der Welt bezeichnet, ist seit einigen Jahren sehr aktiv darin, sich als seriöse Kulturinstition jenseits der Partykultur zu etablieren. Dieser Band, der bezeichnenderweise im Kunstbuchverlag Hatje Cantz erschienen ist, dokumentiert diese Tätigkeiten, vor allem im Kontext der bildenden Kunst. Einige der in diesem Buch gezeigten Kunstwerke – z. B. Piotr Nathans „Rituale des Verschwindens“ oder die Installation „Together“ von Joseph Marr gehören zum festen Inventar des Clubs und sind wahrscheinlich allen Besucher_innen bekannt, andere Kunstwerke wurden letztes Jahr in der Ausstellung „10“ in der Halle am Berghain gezeigt. Zu den vertretenen Künstler_innen gehören Stars der deutschen Kunstszene wie Wolfgang Tillmans, Carsten Nicolai, Norbert Bisky und Marc Brandenburg, das Buch enthält neben Fotografien der Kunstwerke auch Interviews und Essays.

Daniel Schneider

Clubkultour Berlin

Clubkultour-BerlinEine Projektgruppe der Berliner Clubcommission bietet ab diesem Monat eine Stadtführung zur Technoszene und Clubkultur ab 1990 an. Wir waren letzte Woche bei der Pressetour dabei und haben uns von Eberhard Elfert, dem Sprecher der Gruppe, zeigen lassen, wie nach dem Mauerfall Räume angeeignet wurden, um Clubs für Liebhaber*innen elektronischer Musik zu eröffnen. Wie man bei der Tour, die entlang des ehemaligen Mauerstreifens vom Potsdamer Platz bis zur Arena am Ufer der Spree führt, gut nachvollziehen kann, ist Clubkultur in Berlin stark von Wanderungsbewegungen geprägt, da die Clubs in Temporären Autonomen Zonen entstanden sind, die sie im Laufe der Zeit verlassen mussten, um weiterzumachen zu können. So geschehen zum Beispiel im Fall der Maria am Ostbahnhof, dem WMF, dem Tresor oder dem Ostgut (heute Berghain).

Für die Clubs war in der Anfangszeit die Hausbesetzerszene nicht unwichtig. Das Wissen und die Erfahrung in Bezug auf Strategien der Aneignung als auch über die Inbetriebnahme verlassener Orte spielte eine wichtige Rolle. Die neuen Orte des Nachtlebens befanden sich überwiegend entlang des ehemaligen Mauerstreifens, weil dort leerstehende Gebäude und ungenutzte Flächen aus Zeiten der DDR (z. B. das 2000 abgerissene Ahornblatt in der Gertraudenstraße), Gebäude der Grenzinfrastruktur an der Spree (z. B. ein Bootshaus  für Patrouillenboote, in dem sich der Club Kiki Blofeld befand) und Gebäude und Ruinen im Bereich des ehemaligen Todesstreifens (z. B. der Tresorraum des ehemaligen Wertheim-Kaufhauses in der Leipzigerstraße) besetzt bzw. zwischengenutzt werden konnten.

Die Tour hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur über die Geschichte der Berliner Clubkultur zu informieren, sondern sie auch in den Kontext der Berliner Stadtgeschichte einzubinden und die Hintergründe der Orte zu beleuchten. Es wird diesbezüglich beispielsweise kritisch hinterfragt, warum im Bereich der Schillingbrücke (Nähe Ostbahnhof), wo sich Clubs wie u. a. die Maria befanden und heute das Yaam zu Hause ist, bis heute keine Hinweise auf die häufig tödlich geendeten Fluchtversuche zu finden sind. Andererseits steht auch der Wandel der Stadt seit den 1990er Jahren im Fokus der Tour, also Gentrifizierung und Verdrängung genauso wie die Institutionalisierung und Professionalisierung ehemals improvisierter Orte zu anerkannten Kultureinrichtungen. Das dieser Wandel allerdings noch nicht alle Freiräume zum Verschwinden gebracht hat, zeigt das Kultur- und Nachbarschaftsprojekt Teepeeland an der Spree, durch das die Tour ebenfalls führt.

Elfert macht auf der Tour deutlich, dass bestimmte Faktoren oder spezifische Wandlungsprozesse wie die Entwicklung vom Analogen zum Digitalen, die Anknüpfung an die Subkulturen West-Berlins als auch die Wanderungsbewegungen innerhalb der Szene eine wichtige Rolle auch bei der Betrachtung und Verortung der Clubs spielt. Auch wenn es noch Widerstand gegen eine Historisierung von Clubkultur von Seiten der Technoszene selbst gibt, ist diese mittlerweile massiv in Gang gesetzt worden, nicht zuletzt aufgrund des 25-jährigen Jubiläums des Mauerfalls. Hier ist ein Angebot wie die „Clubkultour“ eine so naheliegendes wie wichtiges Angebot, gerade wenn es nicht alleine um eine oberflächliche Betrachtung oder gar Verklärung der Berliner Clubszene geht.

Die Tour setzt allerdings, zumindest in der Form, wie wir sie erfahren haben, viel Wissen über die Berliner Szene voraus. Auch wenn Elfert zu vermeiden versucht, über die effektvollen Inszenierungen der Geschichte an Jahrestagen zu sprechen oder die Geschichten einzelner Protagonist*innen der Szenen zu erzählen, so wäre dies an manchen Stellen vielleicht doch sinnvoll. Für weniger involvierte Personen können sie Bezugspunkte darstellen, um einen Zugang zur spannenden Geschichte Berlins zwischen Todesstreifen und Technopartys zu erleichtern.

Die erste Tour findet am kommenden Samstag, dem 05.09. statt, weitere Termine für dieses Jahr sind 19.09., 03.10. und 17.10. Die Tour startet jeweils um 14:00h Ecke Wilhelmstr./Leipziger Straße. Die Tour findet per Fahrrad statt (bitte mitbringen). Kosten: 13 bzw. ermäßigt 11€. www.clubkultour.de

Tanja Ehmann & Daniel Schneider

Pop-Kultur

Seit zwei Tagen findet zurzeit im Berliner Berghain das neue Festival „Pop-Kultur“ statt. Die Nachfolgeveranstaltung der Berlin Music Week wird nun vom Berlin Music Board organisiert (und nicht mehr von den Kulturprojekten Berlin), es soll etwas ganz anderes und neues sein – und auch als Festival anders als andere Festivals. Von der Berlin Music Week unterscheidet es sich entsprechend sehr deutlich – während die BMW eigentlich eine Konferenz für Akteure der Musikwirtschaft war, scheint dieser Aspekt nun gar keine Rolle mehr zu spielen. Katja Lucker, die Chefin des Music Boards, betonte zu Beginn des Festivals auch, dass es um die Künstler geht und Björn Böhning, Chef der Senatskanzlei, wünscht sich, dass das Festival im Laufe der Jahre vielleicht zu so etwas wie die „Berlinale der Musik“ werden könnte.

Mit dem Berghain als Veranstaltungsort findet das Festival zumindest schon einmal vor beeindruckender Kulisse statt, es wird beispielsweise auch die Halle hinter dem Berghain genutzt, die bisher nur für die Zusammenarbeit von Berghain und Staatsoper („Masse“) und die Kunstausstellung von Berghain-affinen Künstlern („10“) genutzt wurde. Diese beiden Veranstaltungen deuten interessanterweise schon stark in die Richtung, in die sich auch „Pop-Kultur“ bewegt: die Verbindung von Pop und sogenannter Hochkultur, oder vielleicht auch eine bestimmte Form von Pop als neue Hochkultur. Denn Charts-Pop findet sich auf dem Festival nicht, sondern das, was auch in einer Zeitschrift wie der SPEX stattfindet. Und das Berghain arbeitet weiter an seiner Etablierung als Kultur-Institution im Sinne von Orten wie dem HAU oder der Volksbühne.

Das Programm des Festivals ist entsprechend anspruchsvoll und experimentierfreudig – es gibt neben einer großen Anzahl an Konzerten von ganz unterschiedlichen Bands und Künstler_innen sowie DJ-Sets auch Formate, die zwar „Talk“ oder „Lesung“ heißen, bei denen aber immer wieder der Hang zum Performativen spürbar ist. Die Lesung von Andreas Dorau und Sven Regener, die als Eröffnungsveranstaltung fungierte, bei der Doraus Biografie „Ärger mit der Unsterblichkeit“ vorgestellt wurde, war mehr als eine einfache Lesung: Während Regner aus der Biographie las (und dadurch zum Andreas-Dorau-Darsteller wurde) zeigte Dorau im Anschluss an die gelesenen Passagen Fotos und Filme, beispielsweise einen absurden Kurzfilm namens „Die kleine Frau“, den er an der Filmhochschule gedreht hatte, oder das Musikvideo zu „So ist das nunmal“. Eine ganz außergewöhnliche Veranstaltung war der „Talk“ von Sebastian Schipper, der die letzten 60 Minuten seines preisgekrönten Films „Viktoria“ zeigte, dabei meist ohne Ton, und dazu Platten auflegte, über die Dreharbeiten sprach und auf Fehler im Film aufmerksam machte. Außerdem rief er zwischendurch bei dem sich gerade in Island aufhaltenden Kameramann sowie einem der Schauspieler an, um ihm zu sagen, wie wichtig er für den Film gewesen sei. Das Ganze fand in der Halle am Berghain statt, einem riesigen Raum, wodurch die Situation noch außergewöhnlicher wurde. Ein Experiment war auch die Veranstaltung mit dem twitternden Philosophen Eric Jarosinski und der Musikerin Michaela Meise am Donnerstag, bei der zwei komplett unterschiedliche Dinge miteinander kombiniert wurden – ein Vortrag über Twitter und Philosophie mit trauriger Akkordeonmusik. So spannend diese Programmpunkte auch waren und auch die Auswahl der Gäste überraschend ist (z. B. waren auch der Neurologe Tom Fritz und der Maler Norbert Bisky zu Gast), ein wenig mehr Diskussion und Austausch über einzelne Aspekte von Pop wäre manchmal wünschenswert gewesen.

Ebenfalls auffällig „anders“ war der zeitliche Ablauf des Festivals, zumindest teilweise: Am Mittwoch war ich nach der Lesung von Dorau und Regner bei dem Technoliveact von Pantha du Prince (feat. Triad), das aus relativ hartem, okkultistisch angehauchtem Techno bestand (um 19:20), danach das eher experimentelle Konzert von Bianca Cassadys (CocoRosie) Soloprojekt mit Tanzperformance, danach eine Talkrunde zu Bühnenshows und zuletzt, um 12h nachts, die Veranstaltung mit Sebastian Schipper. Da man sich das Programm aus einzelnen Modulen zusammenstellen konnte, wäre allerdings auch ein weniger außergewöhnlicher Ablauf möglich gewesen.

Die Module – z. B. waren die Auftritte von Pantha du Prince und Bianca Cassady ein Modul, wodurch auch wieder eine außergewöhnliche Kombination von zwei sehr unterschiedlichen musikalischen Projekten entstand – müssen einzeln gekauft werden, was für Besucher_innen, die z. B. nur eine einzelne Lesung sehen wollen, wunderbar ist. Wer allerdings das Festival wie ein Festival besuchen möchte und entsprechend drei Tage lang viele verschiedene Sachen sehen will, muss dann unter Umständen ziemlich tief in die Tasche greifen.

Insgesamt kann man sagen, dass Pop-Kultur (vor allem wegen des nerdigen Programms) nicht Pop im Sinne von „populär“ ist. Das hat auch der wunderbare Auftritt von Neneh Cherry am Donnerstag unterstrichen – im Sinne von „fuck nostalgia“, wie Cherry dies ausdrückte, spielte sie ihre größten Hits – u. a. Buffalo Stance – in kaum wiedererkennbaren Versionen. So war auch der Auftritt des wahrscheinlich bekanntesten Popstars des Festivals ein Statement gegen Pop als Musik aus und für die Popmusikcharts. Deshalb stellt sich die Frage, was hier eigentlich mit Pop gemeint ist, das Programm ist zwar wunderbar, aber das Festival wirkt auch ein wenig elitär – was Pop doch eigentlich nicht sein sollte.

Daniel Schneider

Zine of the Day: Orange Agenten

Mein Liebling ist das Berliner Punk-Fanzine Orange Agenten nicht gerade. Meine Beziehung zu dem Fanzine ist eine ganz andere, die aber mindestens genau so emotional ist.

Orange Agenten #2x45 min.

Orange Agenten #2×45 min.

Orange Agenten #0,8%

Orange Agenten #0,8%

Orange Agenten # Next

Orange Agenten # Next

Während meines Praktikums im Archiv der Jugendkulturen e. V. habe ich mich u. a. um die Sortierung der Fanzine-Sammlung und die Aufnahme von Fanzines in die Archiv-Datenbank gekümmert.

Das Orange Agenten machte dabei ständig „Probleme“. Dank seines DIN A3-Formats passte es nicht in die Archivkartons. Es nahm jedes Mal zu viel Platz auf meinem ohnehin schon vollen Schreibtisch in Beschlag. Es hatte komische Untertitel wie „Zeitschrift für Passivsportler & Kettenraucher“, die auch noch ständig wechselten. Vor allem hatte es aber völlig unverständliche Nummerierung der einzelnen Ausgaben. Ich habe geschlagene vier Tage mit dem Versuch verbracht, die Ausgaben chronologisch zu ordnen, denn keine einzige Abfolge der einzelnen Ausgaben ergab einen logischen Zusammenhang.

Mit dem Orange Agenten assoziiere ich seitdem vor allem eine Achterbahnfahrt der Gefühle: In einem Moment dachte ich, ich hätte es geschafft, hätte das Konzept hinter solchen „Nummerierungsspäßchen“ wie „Heft # NEXT“, „NR. 0,8 ÷“ oder „# 2×45 min.“ begriffen, merkte aber bereits im nächsten Moment, dass das alles irgendwie doch nicht so recht zusammenpassen wollte.

Letzten Endes habe ich dann aufgegeben, eine sinnvolle Ordnung in etwas zu bringen, hinter dem von Anfang an gar kein Sinn angelegt war.

Die Macher_innen werden sich jetzt vielleicht kichernd auf dem Boden wälzen, aber obgleich leider ohne Ergebnis hat die „Detektivarbeit“ doch auch irgendwie Spaß gemacht.
Trotzdem: Falls jemand eine Lösung hat, bitte melden!

http://www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

#IZM2015 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Jugendkulturen #Punk

– Svenja

Zine of the Day: Kalpa Vrikscha

Der Juli ist International Zine Month. Das Archiv der Jugendkulturen zeigt aus diesem Anlass ausgewählte Objekte aus seiner Fanzine-Sammlung.

Heutiges Zine of the Day: Kalpa Vrikscha (BRD 1996)

Vorgestellt von: Tanja

Kalpa_4

Kalpa Vrikscha #4, 1996

Kalpa_5

Kalpa Vrikscha #5, 1996

Das Kalpa Vrikscha #4/5 (zwei Ausgaben als Splitzine) vom Sommer 1996 ist mir in unserem Bestand von Berliner Punkfanzines besonders aufgefallen. Wir haben noch ein paar mehr Ausgaben dieses „Spiritual Search for the Truth Fanzines“, wie es sich selbst im Untertitel bezeichnet. Es erschien als vierte Veröffentlichung des MALOLA Publishers Verlags und beschäftigt sich inhaltlich vollkommen Punk-untypisch mit Krishna Halsketten, Bhagadvad Gita Lectures, Bhakti, aber auch mit Hardcore-Bands aus Argentinien und Italien sowie Veganismus. Was ich an diesem Zine so besonders finde? Mir war bis dahin gar nicht bewusst, dass es mal eine Szene gab, in der Hare Krishna, Hardcore und Straight Edge miteinander kombiniert wurden. In meiner Welt der Schubladen hätte ich indische Spiritualitäts- und Identitätskonzepte und Hardcore nie zusammengebracht.

Wer selbst einmal in diesem oder anderen Fanzines blättern und lesen will, ist herzlich eingeladen, uns in den Archiv-Räumlichkeiten in Berlin-Kreuzberg zu besuchen.

Mehr Infos zum Archiv der Jugendkulturen unter: www.jugendkulturen.de

Mehr Infos zur Fanzine-Sammlung des Archivs der Jugendkulturen unter: jugendkulturen.de/fanzines.html

Mehr Infos zum International Zine Month unter: www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

#IZM2015 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Jugendkulturen #Harekrishna #Hardcore

Tanja Ehmann

West:Berlin

Mal wieder West-Berlin: wir waren endlich in der Ausstellung des Berliner Stadtmuseums „West:Berlin – Eine Insel auf der Suche nach Festland“ im Ephraim-Palais, die dort schon seit November letzten Jahres zu sehen ist und noch bis zum 28. Juni gezeigt wird. Die Ausstellung gibt einen facettenreichen Einblick in die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und vor allem auch kulturellen Aspekte und Phänomene des von der Mauer umgebenen West-Berlins bis 1989. Gezeigt werden Dokumente, Fotos, Filme, Kunstwerke, Alltagsgegenstände und z. B. auch ausgestopfte Tiere aus dem Berliner Zoo (der Panda Bao Bao und das Nilpferd Knautschke, die ein wenig kontextlos in der Gegend herumstehen), es entsteht ein umfassendes Bild von der Stimmung und dem Leben in der Stadt. Gerade die Bilder sind beeindruckend, beispielsweise das komplett durch den Krieg zerstörte Kreuzberg oder der Alltag im Schatten der Mauer in den 1980er Jahren. Wunderbar sind auch die vielen Plakate von kulturellen Veranstaltungen – selbst die Theaterszene hat einen eigenen Raum und die vielfältige Kulturszene wird immer wieder thematisiert. Kultur diente in dieser „Frontstadt“ auch dazu, die Stadt attraktiver zu machen (neben vielen anderen Vergünstigungen, die Menschen aus Westdeutschland dazu bewegen sollten, in die Stadt zu ziehen) und sie als lebendigen und freien Ort, als Repräsentantin des westlichen Lebensstils zu präsentieren. Sowieso Freiheit – der Begriff findet sich überall: Freie Universität, Freie Volksbühne, Sender Freies Berlin und so weiter. Und auch das Fehlen der polizeilichen Sperrstunde und die ausgesetzten Wehrpflicht gehört hier dazu – West:Berlin erscheint als ein Labor, in dem sich die Menschen ausprobieren konnten, vielleicht sogar in gewisser Hinsicht sollten – sie wurden ja tatsächlich staatlich unterstützt (eben durch die Vergünstigungen und die Freiheiten). So konnte sich ein hedonistisches Nachtleben entwickeln und ein breiter kultureller und politischer Untergrund fand hier sein Zuhause – trotz der unübersehbaren Präsenz des Militärs der Westalliierten und einer immer wieder repressiven Polizeipolitik.

Die Ausstellung ist nicht chronolgisch aufgebaut, sondern thematisch; es gibt einzelne Räume zur Wirtschaft, zur Student_innenbewegung, den Hausbesetzer_innen, dem Stadtumbau etc. Dadurch wirkt die Ausstellung leider etwas unübersichtlich, vor allem auch dadurch, dass bestimmte Aspekte in vielen verschiedenen Räumen vorkommen. Gerade in Bezug auf den vielfältigen politischen und kulturellen Untergrund bzw. die grob als „links“ zu verortenden Bewegungen fand ich das besonders auffällig. All die Szenen und Akteure, die in diesem Kontext eine Rolle spielten – von der Student_innenbewegung bis zur Punk- und New-Wave-Szene (die aufkeimende Technoszene und die erste Loveparade von 1989 fehlen allerdings) – sind über die ganze Ausstellung verteilt, die Zusammenhänge muss man sich als Besucher_in dazudenken, wobei ein gewisses Vorwissen nützlich ist. Dann wird es aber auffällig, wie sehr diese gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche die Stadt durchdrungen haben und die einzelnen Themen miteinander vernetzt sind. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn es zur Ausstellung einen umfassenden, reich bebilderten Katalog gäbe, aber leider gibt es nur ein kleines Büchlein als Begleitband – das es aber immerhin kostenlos zum Ticket dazu gibt. Und, parallel zur Ausstellung im Ephraim Palais gibt es noch die Fotoausstellung „Bühne West-Berlin“ im Märkischen Museum, zu der ein schöner Katalog erschienen ist.

Was ich außerdem noch erwähnen muss: Auch ein Exponat aus dem Archiv der Jugendkulturen findet sich in der Ausstellung: Das Punkfanzine „Die Berliner Ghettoratte“ aus den 1980er Jahren.

West:Berlin – Eine Insel auf der Suche nach Festland
Ephraim Palais Poststr. 16 (im Nikolaiviertel in der Nähe vom Roten Rathaus)
10178 Berlin
Öffnungszeiten: Di, Do – So 10 – 18h, Mi 12 – 20h
Eintritt: 7 €, ermäßigt 5 €, bis 18 Jahre freier Eintritt
1. Mittwoch im Monat Eintritt frei

Daniel Schneider

Bar 25

Britta Nischner, Nana Yuriko
Bar 25 – Tage außerhalb der Zeit
Movinet Film
Deutschland 2012

Carolin Saage
25/7
Seltmann+Söhne 2013
208 Seiten
39,90 €

2Q==Der per Crowdfunding finanzierte Dokumentarfilm Bar 25 – Tage ausserhalb der Zeit über die Geschichte der Bar 25 und der ebenfalls diesen Berliner Club dokumentierende Fotoband 25/7 von Carolin Saage thematisieren den Aufstieg und Fall eines Wohn- und Freizeit-Projektes von im Kern vier Leuten. Der Film zeigt mit einigen Längen, wie sie es schafften, mitten in Berlin an der East Side Gallery – gegenüber vom Kiki Blofeld, unweit vom Tresor und auf der Straße Richtung Berghain – ein freiräumliches Partyufo zu erfinden und sieben Jahre lang zu erhalten. Anfangs zeigen Bilder und Interviews im Film eher elitär wirkende Inszenierungen von Kreativität und ein Leben außerhalb des vermeintlich „normalen“ Lebens und dessen ritualisierten Alltags. Allerdings wirkt die Welt im Freiraum der Bar 25 auf mich ebenfalls häufig ritualisiert, so als würde den meisten der gezeigten Party-Szenen eine Wiederholung innewohnen, die immer nur um ein oder zwei neue Aspekte wie z. B. eine neue Verkleidung, Geste oder ein neues Party-Gadget ergänzt wird. Die Filmausschnitte werden unterbrochen bzw. strukturiert durch collagierte Bildereinschübe (die man auch vom Design der Homepage kennt) mit Zitaten von z. B. Albert Hofmann, dem Entdecker von LSD, oder dem Autor Aldous Huxley (Schöne Neue Welt). Im zweiten und dritten Teil des Films zeigen Bilder und Interviews mit den Bar-Lebenskünstler_innen wie die Kommune durch die Auswirkungen der Ökonomisierung der Stadt politisiert wird, sie sich an der Petition Spreeufer für alle beteiligen und sich ein bisschen über das Bündnis Mediaspree versenken radikalisieren. Für mich wird die Bar erst jetzt Avantgarde: trotz oder möglicherweise gerade wegen der zunehmenden breiteren öffentlichen Wahrnehmung, mit der auch eine vermeintliche Öffnung zur Normalität einhergeht, wird die Bar in den letzten drei Monate ihres Bestehens zum Symbol einer Bewegung, die für Freiräume kämpft und sich mit anderen Betroffenen solidarisiert. Dabei wird dann die eigene Mystifizierung ein Stück zurückschraubt, wenn auch vor allem aus dem Bedürfnis, die eigenen Freiräume zu erhalten.

Im Fotoband werden diese Bilder aus der Zeit der Politisierung nicht gezeigt, was ich schade finde. Im Bildband stehen ausschließlich das burleseke Feierleben, der künstlerische Exzess und die Überhöhung des eigenen kreativen Outputs im Vordergrund. Bilder vom Alltag, von den problematischen Aspekten des Feierns oder dem Niedergang des Clubs fehlen. So oder so, der Mythos der Bar 25 ist entstanden und wird durch diese beiden Veröffentlichungen für die Nachwelt erhalten.

Tanja Ehmann

Berlin Sampler

Théo Lessour
Berlin Sampler – From Cabaret to Techno: 1904-2012, a century of Berlin music
Ollendorff Verlag 2012
350 Seiten
18 €

9k=Der Klang der Familie, Nachtleben Berlin, Subkultur Westberlin, Die ersten Tage von Berlin, Berlin Wonderland – diese Veröffentlichungen zu subkulturellen Aspekten der Berliner Kultur, vor allem der Westberliner Szene vor dem Mauerfall und der Technoszene sind wahrscheinlich allen Leser_innen dieses Blogs zumindest schon einmal begegnet (wir haben sie und einige andere zu diesem Thema hier besprochen) und haben auch im deutschen Feuilleton genügend Aufmerksamkeit genossen. Es sind seit einigen Jahren Trendthemen, nicht zuletzt auch wegen des 25-jährigen Jubiläums des Mauerfalls – auch Ausstellungen und Filme, Konferenzen und Diskussionsrunden häufen sich (und führen eventuell bei manchen schon zu starken Ermüdungserscheinungen). Eine Veröffentlichung, die vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit bekommen hat, ist Berlin Sampler von dem französischen Journalisten Théo Lessour. In gut sortierten Buchläden steht dieses Buch manchmal neben den o. g. Titeln, ansonsten ist es aber eher selten zu finden. Woran das liegt? Auch wenn es im Berliner Ollendorff Verlag erschienen ist, gibt es nur Ausgaben in Französisch und Englisch, es wird in Deutschland über den Exberliner vertrieben, der englischsprachigen Zeitschrift für Expats in Berlin. Es richtet sich also nicht unbedingt an ein deutsches Publikum, sondern zuerst an diejenigen, die aus dem Ausland auf Berlin schauen bzw. nach Berlin ziehen und sich für die Musik und Kultur dieser Stadt interessieren. So gesehen ist es eine Art Reiseführer durch die Musik Berlins.

Während die o. g. Titel sich auf die letzten Jahrzehnte der Berliner (Musik-)Geschichte beschränken, reicht Berlin Sampler viel weiter in die Vergangenheit zurück – es beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts mit Cabaret, Revue, Dada und anderen wichtigen kulturellen Phänomenen, mit Arnold Schönberg und Kurt Tucholsky. Eingeteilt in die vier Kapitel „E-Musik“, „U-Musik“, „A-Musik“ und „Techno“ gibt es einen Überblick über spannende musikalische Entwicklungen und Phänomene, die das kulturelle Bild Berlins geprägt haben: Die Comedian Harmonists, Alban Berg, die Swingjugend, The Lords, Wolfgang Biermann, David Bowie, Einstürzende Neubauten, Westbam, etc. Grob wird hier ein (subjektiv geprägter und entsprechend lückenhafter) Kanon Berliner Musik entworfen, es gibt ausführliche Kontextualisierungen und Hintergrundinformationen und prägende Veröffentlichungen werden vorgestellt. Auffällig ist dabei, dass neben den großen Stars wie Marlene Dietrich, Nena oder Paul Van Dyk oftmals experimentelle Musik im Mittelpunkt steht, auch politische Musik (z. B. Hanns Eisler, Ton Steine Scherben oder Atari Teenage Riot) spielt eine große Rolle. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen haben die Musik aus Berlin entscheidend geprägt, dem Buch gelingt es gut, diese Zusammenhänge immer wieder aufzugreifen und so durch die Musik auch die Geschichte Berlins zu erzählen. Eigentlich also ein empfehlenswertes Buch nicht nur für Zugezogene, da hier viel zu entdecken ist, was auch Einheimischen fremd sein dürfte.

Was mich allerdings misstrauisch gemacht hat, waren die vielen Fehler, die mir an den Stellen aufgefallen sind, an denen es um Musik geht, mit der ich mich auskenne, also vor allem im Kapitel über Techno. Es sind meistens Kleinigkeiten – Moritz von Oswald heißt häufig (aber nicht immer) Maurizio von Oswald, das Frankfurter Label Playhouse ist angeblich nach Berlin gezogen, Ricardo Villalobos zweites Album wird als sein erstes ausgegeben, Dr. Motte hat Stücke produziert, mit denen er gar nichts zu tun hatte etc. Für sich alleine genommen wären das jeweils vernachlässigenswerte Fehler, aber die Häufigkeit, mit der sie zumindest in diesem Kapitel vorkommen (auf manchen Seiten sind es drei oder vier) zeigt, dass Lessour ziemlich schlampig gearbeitet hat (auch die häufigen Fehler in den Schreibweisen von Namen oder Songtiteln sowie Übersetzungsfehler sind Indizien dafür). Zusätzlich ruft die durch den persönlichen Fokus und das anscheinend selektiv angelesene Wissen geprägte Sicht auf Techno Stirnrunzeln hervor – z. B. wenn der heterogene und hybride ursprüngliche Techno aus Detroit (einem wichtigen Einfluss auf Berliner Techno) als „pure from the start“ („rein von Anfang an“) beschrieben wird oder wenn mit der Gründung von Ellen Aliens Label Bpitch Control 1999 der angebliche „Return of Techno“ eingeläutet wird. Durch die Fehler und die manchmal irritierenden Darstellungen und Bewertungen habe ich angefangen, alles, was ich in den vorherigen Kapiteln gelesen habe, zu hinterfragen – gibt es da auch Ungereimtheiten? Gibt es andere Fehler, die mir nicht aufgefallen sind, da ich kein ausreichendes Vorwissen habe? Ja, die gibt es (ich habe stichprobenartig Fakten aus den vorherigen Kapiteln überprüft und bin recht schnell auf weitere Fehler und Verfälschungen gestoßen) und es ist zu befürchten, dass es viele sind. Dadurch schwingt immer der Zweifel mit, ob das wirklich so war, wie es Lessour darstellt. So wird der zuerst positive Eindruck, den das Buch gemacht hat, doch massiv getrübt und ich kann Berlin Sampler nur sehr eingeschränkt empfehlen: Als Übersicht über hörenswerte Musik aus Berlin (bzw. irgendwie mit Berlin verbundene Musik) aus den letzten 100 Jahren ist es brauchbar und kann auch durchaus neugierig auf bisher unbekannte oder ignorierte Künstler_innen machen. Eine verlässliche Quelle ist es aber ganz offensichtlich nicht und die vielen Details und Anekdoten (die ich eigentlich als große Qualität des Buches hervorheben wollte) müssen leider mit großer Vorsicht genossen werden – der Reiseführer durch die Musik Berlins führt den Leser bzw. die Leserin vielleicht in die Irre.

Daniel Schneider

B-Movie

B-Movie – Lust and Sound in West-Berlin
Deutschland 2015

www.b-movie-der-film.de

Nun gibt es endlich auch einen Film zum Thema Subkultur West-Berlin – und es ist auch noch ein ziemlich gelungener Film geworden. Zeitraum und Szeneumfeld ist ganz ähnlich wie in Wolfgang Müllers Subkultur Berlin, der Film ist aber keine Verfilmung dieses Buches des Mitglieds von Die Tödliche Doris. Die Band kommt zwar auch vor, aber nur ganz am Rande, im Mittelpunkt stehen hier vor allem die Einstürzenden Neubauten, Nick Cave, Gudrun Gut & ihre Bands Malaria! und Mania D, Die Ärzte und die Toten Hosen, Nena und Westbam. Nicht alle dieser Künstler_innen kamen aus Berlin, alle haben aber mindestens viel Zeit hier verbracht und waren in die Berliner Szene involviert. Der Film besteht ausschließlich aus Originalaufnahmen aus der Zeit von 1979 bis 1990, insgesamt wurden Ausschnitte aus 75 Filmen (von Fernsehdokus bis zu Privataufnahmen) benutzt, die ein eindrückliches Bild von West-Berlin – vor allem von Kreuzberg und Schöneberg – vor dem Mauerfall zeichnen. Beeindruckend ist beispielsweise die extreme Kaputtheit mancher Häuserblocks in Kreuzberg, die Präsenz der Mauer an für mich als Bewohner Kreuzbergs bekannten Ecken des Bezirks und die riesige Menge an bunthaarigen Menschen eigentlich fast überall (also zumindest an den Orten, die in diesem Film gezeigt werden). Die Regisseure des Films, Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange, haben dafür über mehrere Jahre Materialien zusammengetragen und aus vielen Ausschnitten eine sehr runde und liebevoll gemachte Dokumentation zusammengesetzt.

Als äußerst sympathischer Erzähler des Films fungiert Marc Reeder, der als gebürtiger Brite 1979 u. a. aus Interesse an deutscher Musik nach Berlin zog. Reeder kam aus dem Umfeld des Plattenlabels Factory Records und der Band Joy Division aus Manchester und war in der Anfangszeit in Berlin der Repräsentant von Factory in Deutschland. Er hat selbst viele Filmaufnahmen gemacht bzw. von sich machen lassen (u. a. im Auftrag der BBC) – so durchziehen B-Movie Aufnahmen von Reeder, wie er fast immer in irgendeiner Uniform inklusive passender Soldatenmütze in Berlin unterwegs ist, z. B. in kurzen Hosen an der Mauer entlangradelt oder für BBC-Fernsehbeiträge Berliner_innen wie Farin Urlaub, Christiane F. oder Blixa Bargeld trifft. Reeders Leben und Karriere bilden den roten Faden des Filmes – er war Manager von Malaria!, hat Nick Cave bei sich wohnen lassen, heimlich Konzerte für die Toten Hosen in Ost-Berlin organisiert, in Jörg Buttgereits Splatter-Filmen mitgespielt und vieles mehr. Hier ist wichtig zu wissen, dass der Film nicht die gesamte Berliner Szene abbildet (was wohl auch gar nicht möglich wäre), sondern vor allem das Umfeld von Reeder gezeigt wird – auch wenn er mit erstaunlich vielen heute als einflussreich angesehenen Akteur_innen zu tun hatte, fehlen z. B. Thomas Fehlmann und Palais Schaumburg oder auch die Szene aus dem Umfeld der G.I.-Discos. Der Film endet mit den ersten Vorwehen von Techno und dem Mauerfall – zu sehen sind die erste Loveparade im Sommer 1989, David Hasselhoff am Brandenburger Tor und frühe Aufnahmen von Westbam. Auch Reeder spielt hier wieder eine wichtige Rolle – er gründete 1990 das in den folgenden Jahren einflussreiche Techno- bzw. Trancelabel MFS, benannt nach dem Ministerium für Staatssicherheit.

Es ist zu hoffen, dass dieser Film, der am Sonntag im Rahmen der Berlinale Premiere hatte, einen Verleih findet und in die Kinos kommt – falls das (wider Erwarten) nicht klappen sollte, so wird er zumindest irgendwann im Sommer auf Arte gezeigt. (Er läuft diese Woche auch noch ein paar Mal bei der Berlinale, alle Termine sind hier zu finden.)

Daniel Schneider

CTM in 3D – Düsternis, Dunst und Drones

Berlin im Winterschlaf? Nicht mal im Januar kann das behauptet werden. Vor allem die Clubs sind durchgängig auf Betriebstemperatur. Und das CTM Festival (Festival for Adventurous Music and Art) erhöht dabei den hektischen Puls dieser Stadt noch weiter und bringt den Tag-Nacht-Rhythmus auch unter der Woche durcheinander. Neben Ausstellung und Panels im Kunstraum Bethanien wird mit Konzerten, Performances, Live-Auftritten und DJ-Sets im Berghain, HAU, YAAM und Astra Kulturhaus die Fülle an Angeboten fast schon wieder zu einer Überforderung oder, besser gesagt, zu einer Navigierleistung, was und wem die Aufmerksamkeit geschenkt werden soll.

Die 16. Edition der CTM widmet sich traditionell eher den experimentellen Klanglaboren und akustischen Grenzgebieten elektronischer Musik. Das ist auch nur bedingt tanzbar und oft eher eine dem inneren Monlog ähnliche Körperselbsterfahrung. Als Besucher_in begibt man sich dabei auf eine akustische Autobahn, in der in diesem Jahr vor allem Drones dominieren und teilweise gewohnte musikalische Grenzen erreicht bzw. diese um strapaziöse Ausfahrten erweitert werden.

Ästhetisch bewegen sich vor allem die CTM-Abende im Berghain in dem Dreiklang von wabernden, den Körper einhüllenden, düsteren Drones, massiven sichtnehmenden Nebelschwaden und Dunkelheit, die immer mal wieder punktuell durch Lichtinstallationen oder Stroboskop und Flutlicht aufgebrochen wird. Vor allem die Auftritte am Dienstag und Mittwoch mit u. a. The Bug, J.K. Flesh und Alec Empire bestachen hierdurch und zeigten darüber hinaus auch wieder eine Dominanz männlicher, weißer DJs und Künstler auf der Bühne.

Über Musik zu schreiben oder besser gesagt, die schwer in Worte zu fassenden musikalischen Klangwelten zu sezieren, um die avantgardistische Grundausrichtung dieses etwas anderen Musikfestivals zu beschreiben, werde ich an dieser Stelle allen ersparen. Aus ganz persönlichen Gründen. Ich finde das meistens langweilig und selbstdarstellerisch. Aber vor allem: Jede noch so detaillierte und referenzverliebte Beschreibung eine Livemusik-Erfahrung kann doch nie das wirklich entscheidende solcher Momente einfangen: Das Wirken auf den eigenen Körper, das Gefühl der körperdurchflutenden Sounds, die von den Füßen bis zum Brustkorb alles zum vibrieren bringen, das Hören und Verarbeiten von Frequenzen, die in den Ohren schmerzen, das Verschwinden des Ichs in einer diffusen Masse, die wie ein einziger Körper wirkt und alles um einen herum vergessen lässt. Akustik meets Körper. Resonanzkörper Club. Bewegungsaskese.

Dieses Leitmotiv wurde am ehesten am Donnerstag Abend im Berghain mit Auftritten von We Will Fail, Gazelle Twins, Evan Christ, Suidiceyears und die DJ-Sets in der Panorama Bar u.a. von Rroxymoore durchbrochen. Vor allem das Set der Musikerin We Will Fail hatte so rein gar nichts mit Versagen am Hut, sondern bewies viel mehr, dass sich auch warme und tanzbare Klänge ihren Weg in den Dunstkreis dieses Festivals bahnen können.

Neben den bereits genannten Events stachen vor allem folgende Auftritte für mich heraus:

Ansonsten galt oft die Devise: Ohrstöpsel nicht vergessen! Wir werden es uns für das nächste Jahr vormerken.

Giuseppina Lettieri

CTM & Transmediale 2015

Jedes Jahr finden Ende Januar in Berlin die beiden Festivals Transmediale und CTM (Club Transmediale) statt. Während die Transmediale, die 1988 das erste Mal unter dem Titel VideoFilmFest stattfand, ein Festival für Medienkunst und digitale Kultur ist, ist das seit 1999 stattfindende CTM ein Festival „for adventurous music and related arts“, also der musikalische Ableger der Transmediale. Beide laufen noch bis kommenden Sonntag, den 1. Februar.

Die im Haus der Kulturen der Welt (HKW) stattfindende Transmediale hat dieses Jahr das Thema „Capture All“, es geht um das umfangreiche Sammeln von Daten jeglicher Art und die Auswirkungen dieser Sammelwut auf unser Leben. Neben einer Ausstellung gibt es eine Konferenz und ein ausführliches Begleitprogramm mit Performances, Workshops und Filmvorführungen.

Auch CTM ist ein unglaublicher Veranstaltungsmarathon mit Konzerten, Partys, Vorträgen, Workshops und einer Ausstellung. CTM findet an verschiedenen Orten Berlins statt – u. a. im Kunstquartier Bethanien, im Hebbel am Ufer (HAU) oder im Berghain und anderen Clubs. Es läuft zwar auch tanzbare Musik bei CTM, das musikalische Spektrum geht aber weit über Techno und andere Formen elektronischer Tanzmusik hinaus. Das Thema des diesjährigen Festivals – Un-Tune – bezieht sich darauf, was Klänge mit uns machen können. Es treten viele Künstler_innen auf, die Soundforschung betreiben und teilweise eine fast wissenschaftliche Herangehensweise haben – z. B. die Aufführung des Sirenenprojekts von The Bug (Kevin Martin) am Dienstag, das nur mit Ohrstöpseln zu ertragen war und vor allem aus massiven, den ganzen Körper zum beben bringenden Drones und eben Sirenengeräuschen bestand. Auch historische Aspekte spielen eine Rolle – so gab es ebenfalls am Dienstag eine Vorführung eines historischen Synthesizers – der „Höllenmaschine“ von 1957 – und gestern ein Konzert von Alec Empire (u. a. bekannt durch die Elektropunk-Band Atari Teenage Riot), der sein Album „Low on Ice“ von 1995 aufführte. Am weitesten in die Vergangenheit zurück ging es aber bei dem Sänger, Musikwissenschaftler und Archäologen Iegor Reznikoff, der im Kunstquartier Bethanien in einem ehemaligen Kirchenraum frühe christliche Gesänge sang.

Reznikoff war auch einer der Redner des Vortragsprogrammes, bei dem es gestern um Archaeoacoustics ging – also Klangarchäologie, das Aufspüren von Spuren der Bedeutung von Klängen in vorgeschichtlichen Zeiten. Dort sprachen Archäologen, Musikwissenschaftler und Anthropologen über Themen wie den Zusammenhang von Höhlenmalerei und Echos, die Bedeutung von klingenden Steinen und anderen natürlichen Klangphänomenen für die Menschen der Frühzeit, oder die wichtige Rolle, die gemeinsamer Tanz und Musik und das Erzeugen von Trancezuständen für die Entwicklung menschlicher Gemeinschaften hatte und – als Beispiel wurde hier der Technoclub genannt – bis heute hat.

Weitere abenteuerliche Konzerte und Vorträge sind heute und in den kommenden Tagen zu erwarten – besonders gespannt bin ich auf den morgigen Vortrag zu „The Hum“, einem mysteriösem Klangphänomen, das immer wieder an verschiedensten Orten auf der Erde auftritt, und dem Abschlusskonzert am kommenden Sonntag im Astra.

Daniel Schneider

Gravitationsfeld Pop

Uwe Breitenborn, Thomas Düllo, Sören Birke (Hg.)
Gravitationsfeld Pop – Was kann Pop? Was will Popkulturwirtschaft? Konstellationen in Berlin und anderswo
Transcript Verlag 2014
463 Seiten
34,99 €

Bild Gravitationsfeld Pop

„No escaping gravity“ singt Brian Molko von Placebo im Song „Special K“. Kein Entkommen. Gravitation ist Kraft, wirkt anziehend, ist unausweichlich. Neben Placebo wählen die Herausgeber zum Einstieg noch weitere Musiker (James Brown, Eminem …) und Bands (Type O Negative, Yo La Tengo …), die sich musikalisch an der Gravitationsmethapher abgearbeitet haben. Als Fan der ersten Stunde bleibe ich jedoch unweigerlich bei Placebo hängen. Als wäre es gestern gewesen kommt mir Brian Molkos Stimme in den Kopf und das sich im Refrain immer wiederholende und in die Länge gezogene „Gravi(iiii)ty“. Das dazugehörige Video, in dem die Band auf Miniaturgröße geschrumpft in einem Raumschiff durch den menschlichen Körper fliegt, und auch so einige Konzerterinnerungen wechseln sich in meinem Kopf ab. No escaping pop memories.

Änhlich der Gravitationskraft kann man sich, jedenfalls geht es mir so, auch popkulturellen Einflüssen nur schwer entziehen. Ob im Alltag oder der Freizeit: Popkultur, und vor allem Popmusik, prägt und ist aus dem Leben vieler Menschen nicht wegzudenken. Pop schafft Erinnerungen und Emotionen. Und das auch viel stärker als jeder (minutiös) geplante Ausflug in die Hochkultur. Sprich: Man trifft mich definitiv öfter in Clubs, auf Konzerten oder Parties als in der Oper oder im Museum. Diese Aussage findet sich auch in einem Interview mit Olaf „Gemse“ Kretschmar (Vorstandsvorsitzender Berliner Club Commission) wieder, der den Club, neben Familie und Freunden, immer mehr zur Zivilisationsinstanz für Jugendliche erhebt. Doch obwohl Pop und Popkultur im Leben vieler Menschen einen größeren Einfluss und emotionalen Wert haben als Hochkultur, schwankt das Image und die Anerkennung von Popkultur immer noch sehr stark. Pop bewegt sich in der Wahrnehmung in einem Spannungsfeld. Für einige ist es „Avantgarde“ in der Tradition der Pop Art, für andere einfach nur „Mainstream“, also ein auf Massengeschmack ausgerichtetes und oftmals inhaltsleeres Produkt. Auch im Bereich der Kulturförderung fristet alles, was sich im Gravitationsfeld Pop bewegt, immer noch ein Schattendasein, da Popkultur nicht oder nur selten in die vorhandene Förderungslogik der Kulturpolitik passt.

Doch seit einigen Jahren bewegt sich etwas. Die Richtung und Auswirkung ist noch nicht genau erkennbar, aber die stetig wachsende Anerkennung von Pop und Popkultur im Bereich der Kulturförderung, aber auch die Wirkung und Impulse auf Stadtentwicklung, Club- und Musiklandschaft sowie die Ausformung neuer kreativer Ausdrucksformen schlagen sich in diesem Band nieder. Denn Gravitationsfeld Pop bietet auf über 400 Seiten Interviews und Beiträge, die sich in unterschiedlichen Facetten den Anziehungskräften und Sogwirkungen von Pop(-musik) und Popkultur widmen.

Fragen, die sich dabei stellen, sind: Welche Kräfte wirken im Bereich Pop? Welche Wechselbeziehungen gibt es zwischen Akteur_innen aus der Club- und Musiklandschaft und denjenigen aus der Kulturförderungspolitik und in welcher Konstellation stehen diese zueinander? Wie funktioniert und verändert sich Popkultur oder auch die mittlerweile in Berlin etablierte Szenewirtschaft unter sich immer mehr verschärfenden ökonomischen Aspekten wie der Gentrifizierung, die sich auf die Clublandschaft, Kreativwirtschaft und generell urbane Lebensstile auswirken? Diesen und vielen weiteren Fragen widmet sich der Band Gravitationsfeld Pop. Neben Interviewbeiträgen, in denen vordergründig Akteur_innen aus der Musik- und Clublandschaft zu Wort kommen und alltagspraktische Fragen beantwortet werden, gibt es auch Beiträge, die sich unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten mit den verschiedenen Aneignungspraxen von Pop und Popkultur beschäftigen.

Pop, so wird auch hier klar, scheint allgegenwärtig ohne dabei aber in festen Laufbahnen zu zirkulieren. Die einzelnen Beiträge umkreisen die mal mehr mal weniger scharfen Begriffe Pop, Popmusik, Popkultur und Populärkultur. Das macht zum einen die Fülle an Bezügen und Assoziationen deutlich, die man im Kopf hat, wenn das Wort Pop fällt, lässt mich als Leserin aber auch ab und an den Überblick verlieren, wovon denn gerade die Rede ist. Generell fällt der Band weniger durch Definitionsschärfe der verwendeten Begriffe auf, als mehr durch deren Kontextualisierung.

Und der Kontext lautet Berlin. Wer sich mit dem endlosen Treiben Berlins als „24- Stunden-Stadt“ und coole Musik- bzw. Technometropole auf einer analytischeren Ebene annähern will, kann bei Gravitationsfeld Pop beruhigt zugreifen. Der Vielfalt an Clubs (Berghain, Kesselhaus, Astra etc.), Kulturevents (Karneval der Kulturen, Fete de la musique etc. ) und Musikveranstaltungen (Balkan Beats Partyreihen etc.) bis hin zur Heterogenität der Musikinitiativen, wie der Berliner Club Commission, dem Berlin Music Board oder auch dem Verband unabhängiger Musikunternehmen (VUT), wird in den Beiträgen viel Platz eingeräumt oder aber die jeweiligen Akteur_innen kommen selbst in Interviews zu Wort. Berlin zu wählen erscheint aber auch nachvollziehbar, da Pop in der wirtschaftlich schwachen Hauptstadt zunehmend zum Motor der Stadtentwicklung wird, also als attraktives kulturelles und wirtschaftliches Gut immer stärker wahrgenommen wird.

Über die Anziehungskraft des Buches bin ich am Ende geteilter Meinung. Es gibt fundierten, kulturwissenschaftlich unterfütterten Einblick in die Club-, Musik-, Akteurs- und Förderungslandschaft Berlins. Da ist auch schon der Haken. Es ist (fast) alles auf dem scheinbaren Pop-Gravitationskern Berlin bezogen. Nach den „Konstellationen anderswo“, wie im Untertitel angekündigt, sucht man in diesem über 400 Seiten starken Band eher vergebens. Wer also gerne auch einen Blick auf die Entwicklung der Pop-Peripheriegebiete werfen möchte, wird leider eher enttäuscht sein. Für alle anderen, vor allem den an Berlin interessierten, werden Innenansichten in die vielfältige Party- und Clubkultur Berlins geliefert.

Giuseppina Lettieri