Stuttgart Kaputtgart

Simon Steiner (Hrsg.)
Wie der Punk nach Stuttgart kam & wo er hinging
EDITIONrandgruppe 2017
370 Seiten
65€

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Es ist ein großer schwarz-gelber Block – Kantenlänge 24 x 34 cm, ein Schuber gefüllt mit einer CD und 11 schmalen Heften mit insgesamt 370 Seiten voller Texte, ergänzt um rund 700 Abbildungen. „Die gelben Seiten des Stuttgarter Punk“ – so nennt es der Verlag, und das ist es auch. Es sind Seiten voller Geschichten, Anekdoten, Namen, Bands, Orten und Beziehungen, die Geschichte der Stuttgarter Gegenkultur wird mit jedem Satz für die Leser*innen lebendiger. Das Kompendium ist im Herbst 2017 im Stuttgarter Kunstverlag Edition Randgruppe in einer Auflage von 1000 Exemplaren erschienen und nennt sich „Wie der Punk nach Stuttgart kam & wo er hinging… Punk/Wave/Neue Deutsche Welle in Stuttgart und der Region 1977 bis 1983. Entwicklungen bis heute.“

Der pensionierte Stuttgarter Lehrer Simon Steiner hat es mit umfassender Netzwerkarbeit in einem Wahnsinnsprojekt erschaffen. Er hat mehr als 100 Interviews mit Zeitzeug*innen geführt und akribisch unzählige Fanzines, Kassetten, Platten, Klamotten, Fotos, Flyer und Plakate gesammelt. Steiner selbst war nach eigenen Angaben nur am Rande Teil der Punkbewegung, er spielte 1981 in den lokalen New Wave Bands Mannschreck, Sissis Kinder und F.A.K. Unterstützt wurde Steiner von Norbert Prothmann, Mitglied der damaligen Stuttgarter Punkszene, und dem Plattensammler und Labelmacher von Incognito Records, Barney Schmidt. Schmidt war vor allem für die hörbare Geschichte zuständig: Die beigelegte CD trägt den Titel „Punk – Wave – Avantgarde in Stuttgart und Umgebung 1980-1983“. Das Projekt wurde 2017 mithilfe einer Crowdfunding-Aktion und dem Verlag Edition Randgruppe von Uli Schwinge realisiert. Der Verleger konnte sich zu seinem eigenen Leidwesen nicht zu einem einfachen Taschenbuch durchringen, es musste „fett“ werden, das hätten sich die Punks im Land der Kehrwoche verdient.

In den Texten wird Punk in Stuttgart und Umgebung erlebbar, die Leser*innen werden quasi am Nasenring durch die damaligen Orte und Szenen geführt. „Mir gehen diese Uniformierungen auf den Sack, alle laufen mit Lederjacke rum“, schreit es aus der Ecke und der Rentner, der seinen Pudel Gassi führt, flucht: „Die dackeln hier rum und feiern das ganze Jahr Fasching“. Treffpunkt der unangepassten Jugend war und ist der kleine Schloßplatz im Zentrum der Stadt. Dessen heutige Treppenkonstruktion geht auf die Vorliebe der Jugendlichen zurück, Treppen anstatt fertiger Bänke als Sitzmöbel im öffentlichen Raum zu nutzen. Wie verändert Musik und Mode das Denken? Werden wir durch einen unangepassten Haarschnitt politisch? Fragen, die sich 1980 von selbst beantworteten, wenn die Antwort auf das erste selbst besprühte T-Shirt und die blondierten und rasierten Haare eine Tracht Prügel war. Umfassend ergänzt werden die Berichte durch Auszüge aus den ca. 50 Stuttgarter Fanzines, die damals erschienen sind. Die Schreibmaschine war laut, getippt wurde zumeist im 2-Finger-Suchsystem und manch ein nächtlicher Kreativitätsschub wurde von lärmempfindlichen Eltern vorzeitig abgewürgt. Fanzines machen, das hieß nicht nur Texte zu fabrizieren, das war (und ist) auch die Gestaltung von Artwork, Layout und selbst gezeichneten Comics – immer haarscharf an Kunst und Trash vorbei. Attitüde, Politik und Identität – wer waren diese ersten Punks? Sie waren vor allem hedonistisch und wollten heraus aus dem engen Leben im schwäbischen Ländle. Linke Ideologien wurden erst nach und nach Thema – politische Endlosdiskussionen hatten die Punks satt. Hausbesetzungen stillten primär das Bedürfnis, umsonst wohnen zu können. Der Sprung ins Jahr 2017 zeigt dagegen eine Punk-Attitüde, die zumeist politisch und immer antifaschistisch ist. Auch die Aktiven von heute kommen zu Wort, z.B. Benjamin von Karies und Flavio von Human Abfall, und erzählen von ihren ersten Punk-Momenten in den 90er und 00er Jahren.

Die von Barney Schmidt zusammengestellte CD läuft durch und umfasst 37 Lieder mit illustren Titeln wie Eva Braun & Loki Schmidt von Autofick und Höfliche Terroristen von Frauen & Technik. Für Schmidt war die Zeit bis 1983 die kreativste und originellste Phase des Punk und seiner Subgenres. Es gab im Großraum Stuttgart zwischen 1977 und 1983 ca. 95 Bands mit existierenden Aufnahmen und etwa 85 ohne Veröffentlichungen – darunter mit Frauenklink übrigens nur eine einzige Band, die nur aus Frauen bestand. Entstanden sind in diesem Zeitraum 100 Kassetten und 30 LPs. Stilistisch grob eingeteilt in Punkrock, New Wave, Minimal Elektro, Noise, Experimental und Oi!. Vinyl produzieren war zu teuer und zu aufwändig, Kassetten ließen sich im Home-Taping leicht vervielfältigen und direkt bei Konzerten an das Publikum verteilen. Sie wurden in Heimarbeit zu kleinen Kunstwerken in Minimalauflagen. Jede noch so obskure Proberaumband konnte über die Kassettenvertriebe berühmt werden, ohne je ein einziges Konzert gespielt zu haben. Aus importierten Klängen aus London wurde Eigenes – „man konnte alles ausprobieren, weil es alles mögliche gleichzeitig gab“, beschreibt es der Punk-Musiker Sandro. Während Demo-Kassetten Kreisliga waren, eine eigene Platte war Champions League. Partner der Welt veröffentlichten 1980 ihre EP Moderne Zeiten: „Eine reine Studioproduktion“, erzählt Sänger Fritz. „Wir machten keine Gigs und verschenkten die Platte an Verwandte und Bekannte“. Attraktiv & Preiswert brachten ihre LP in der Auflage von 207 Stück in einer Original Plastiktüte der A&P Supermarktkette heraus, heute ein rares Sammlerobjekt. Vinyl-Veröffentlichungen waren Monumente für die Ewigkeit, die insbesondere durch Labels wie Mülleimer Records aus Stuttgart und Intoleranz aus Pforzheim vertrieben wurden. Voller Begeisterung über das vorhandene Material stellte Barney Schmidt eine separat erschienene Doppel-LP mit seltenen Aufnahmen zusammen. Auf der Doppel-LP und der CD sind zusammen 50 dieser Bands vertreten – kaputt, schräg, witzig aber auch ernst zu nehmen. In Stuttgart wurde 2017 das gesamte Oeuvre im Württembergischen Kunstverein gebührend mit einer Ausstellung gefeiert.

Ich hatte mehr als Spaß und kann euch nur empfehlen, dieses Kompendium im Shop der Edition Randgruppe zu erwerben – ein paar wenige Ausgaben sind noch erhältlich –  und tief in die Frühzeit des schwäbischen Punks einzutauchen.

Begleitend gibt es auf der Webseite Stuttgart Punk weitere Informationen und Berichte.

Jimi NoMore,  Berlin,  Juli 2020