Queere Filme auf der Berlinale 2019 Pt.I

The Garden von Derek Jarman, 1990

Die Sektion Forum Expanded auf der Berlinale zeigt oft Filmklassiker, die mit den gängigen Sehgewohnheiten brechen und durch Experimentierfreude und ungewohnte ästhetische Handschrift bestechen. Mit Derek Jarmans “The Garden” findet nun ein Film- in restaurierter Fassung- seinen Weg zurück auf die Berlinale, der dort 1991 zum ersten Mal aufgeführt wurde. Und damit sich der Kreis schließt, findet die Filmvorführung in diesem Jahr an dem gleichen Ort, wie vor 28 Jahren statt: Im schönen Delphi Filmpalast.

Homosexualität und Christentum

Diesen Film zu rezensieren erscheint als eine fast unlösbare Aufgabe, jedenfalls für mich. Wenn es überhaupt einen erkennbaren roten Faden in diesem Werk Jarmans gibt, dann entspinnt sich dieser um die Themen Homosexualität und Christentum. Darum ranken sich die meisten oppulent, oft schwer verdaulich in Szene gesetzten Bilder. Es gibt ein schwules Liebespaar, das in Zweisamkeit Zuneigung austauscht und Liebe erfährt. Erst als sie auf weitere Menschen treffen, wie z.B. in der Herrensauna, scheint das Glück erste Risse zu bekommen und eine diffuse Gefahr für diese Liebe wird angedeutet. Als sie schließlich- ohne genauere Kontextualisierung- von der Polizei verhaftet und gefoltert werden, nimmt das Unglück seinen Lauf. Hier kommt auch Jarmans (von mir unterstellte) eher anstrengende künstlerische Faszination mit dem Christentum, genauer mit der Passion Christi, zum Tragen (Vergleiche zu Pier Paolo Pasolinis filmischen Schaffen drängen sich zwangsläufig auf). Denn das schwule Liebespaar muss nach der Folter- einer für meinen Geschmack viel zu langen Sequenz aus Peitschenhieben- gemeinsam ein Kreuz tragen und sie sterben (anscheinend) durch Kreuzigung (immerhin etwas, was Jarman unserer Imagination überlässt und uns in Bildern erspart).

Fragmentiert, verstörend und wortkarg

Doch kann in diesem Film grundsätzlich kaum von einem Hauptplot gesprochen werden. Der Film ist sehr zerfasert, viele Bilder und Sequenzen erscheinen fast schon willkürlich aneinandergereiht oder wiederholen sich, sei es Tilda Swinton in der Rolle der Madonna mit Kind, die von Paparazzis erst fotografiert und dann gejagt wird oder das sehr oft bemühte Bild einer großen Tafel am Strand, die an das letzte Abendmahl erinnert. Auch Jarman selbst ist immer mal wieder Protagonist, dieses fast komplett ohne Worte auskommenden Films. Er macht zu Beginn und am Ende Voice-Overs, die den Film rahmen und in einigen der Filmsequenzen sieht man Jarman in seinem eigenen Garten sitzen: Der filmgebende Titel.

Fazit

Selten bin ich so verstört in die Berlinale gestartet, wie in diesem Jahr. Das Jarmans Film sicherlich kein Feuerwerk der guten Laune wird, war mir zwar klar, dennoch hinterlassen die vielen für mich triggerwarnungswürdigen Filmszenen in der Fülle sowie der ausgespielten Länge, ein mehr als ungutes Gefühl beim Verlassen des Kinosaals. An einigen Stellen wirkt der Film wie ein nie enden wollender, qualvoller Fiebertraum. Dass Jarman mit diesem Film seine HIV-Erkrankung künstlerisch verarbeiten wollte, die zu Beginn der 1990er tragischerweise noch viel zu oft einem Todesurteil gleichkam, verleiht diesem Werk zwar mehr Tiefe und lässt seine Verzweiflung über sein Schicksal verstehen (er verstarb 1994), dennoch macht es den Film kaum leichter zu ertragen- weder visuell noch emotional. Vielleicht wäre das Geld, das für die Restauration des Films ausgegeben wurde, doch besser in den Händen von queeren Nachwuchsregisseur*innen aufgehoben gewesen.

Giuseppina Lettieri

Projektleitung Diversity Box

Diversity Box goes Sachsen-Anhalt

Projekttage zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt am Philanthropinum Gymnasium in Dessau

Am 30. und 31.01.2018 Januar hatten wir mit unserem Projekt  „Diversity Box“ die Möglichkeit nach Dessau zu fahren, um dort mit Schüler*innen der 9. Klassen des Philanthropinum Gymnasiums zwei gemeinsame Projekttage zu gestalten.
Die Schüler*innen konnten zusammen mit unseren Diversity Box-Teamer*innen und Szeneexpert*innen im Video-, Rap-, Fotografie- und Comic-Workshop eigene Meinungen und Ideen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt entwickeln und kreativ umsetzen.

Im Fotografie-Workshop wurden Geschlechterrollen und-stereotype aufgebrochen und irritiert. Dabei entstanden die Fotostrecken: „Der Winkel macht den Unterschied“, „ Break the Genderrules!“, „Klischees? Schon längst veraltet!“, „Andersrum ist nicht verkehrt“, „Show yourself, don’t be afraid“ und „Kleider machen (Mädchen) Leute“.

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Im Comic-Workshop entstand das Comic „City of Love“. Darin konnten die Schüler*innen eine eigene queere Liebesgeschichte in Zeichnungen und Text umzusetzen, die sich mit gleichgeschlechtlicher Liebe, Diskriminierung und Akzeptanz auseinandersetzt.

Der Kurzfilm „Who do you see in the mirror“ des Video-Workshops behandelt die Themen Geschlechterrrollen, Trans* Identität, Anerkennung von Vielfalt und Zusammenhalt in der Schule.Hier konnten die Schüler*innen entweder hinter der Kamera, u.A.  als Regisseur*in oder Kameraassistent*in stehen oder vor der Kamera als Schauspieler*innen agieren.

Im Rap-Workshop wurden viele Methoden des kreativen Schreibens ausprobiert und die Jugendlichen konnten ihre eigene Eindrücke und Erfahrungen zu den Aspekten Geschlecht, Identität und  Vielfalt in Rap-Texte transportieren. Die Teamer*innen stellten dafür Sprechgesangtechniken und eigene Rapsongs vor.

Die Projekttage in Dessau wurden durch die Förderung des LUSH-Charity Pot ermöglicht, wofür wir uns an dieser Stelle nochmal herzlich bedanken.

Mehr zum Projekt unter http://www.diversitybox.jugendkulturen.de

oder in diesem Clip

Euer Diversity Box-Team

Giuseppina, Saskia und Vicky

Das Ende von Eddy

Édouard Louis
Das Ende von Eddy
S. Fischer 2015
208 Seiten
18,99 €

u1_978-3-10-002277-6.38011915.jpg„Das Ende von Eddy“ ist der Debutroman des jungen Franzosen Édouard Louis, der gebürtig Eddy Bellegueule heißt und um dessen Autobiografie es sich bei diesem Werk eigentlich handelt. Das Buch erzählt die tragische und schockierende Geschichte des jungen Franzosen, der in seinem Heimatort diffamiert und auf grausamste Weise misshandelt und gedemütigt wird. Es behandelt jedoch nicht nur die Homosexualität des Protagonisten bzw. Autors, sondern auch den Umgang mit den im Norden Frankreichs immer noch erstaunlich konservativen Geschlechterrollen. Eddys Leidensweg  beginnt damit, dass er anders geht als die anderen Jungs im Ort, anders als seine doch so „männlichen“ Brüder, und damit, dass er eine hohe Stimme hat. All diese Äußerlichkeiten lassen ihn von klein auf zum Gespött der Leute im Ort werden, die ihn auslachen und mit seinen Eltern über ihn reden. Als er das alles mitbekommt, versucht er krampfhaft seine äußere Erscheinung zu ändern. Als wäre all das nicht schon schlimm und traumatisierend genug, so wird es noch schlimmer, als herauskommt, dass er schwul ist und zwei Klassenkameraden anfangen, ihm aufzulauern und ihn zu misshandeln. Sie treten ihm in den Bauch, bespucken ihn und zwingen ihn die Rotze abzulecken, beschimpfen ihn aufs derbste und lachen ihn aus. Und das an jedem Tag seiner Schulzeit. Diese Misshandlungen finden statt, nur weil Eddy anders liebt, anders als sie es tun wollen, von Können kann nicht die  Rede sein. Zu tief sitzt der Hass auf Schwule, auf alles was nicht so ist wie sie, also wie die „echten, harten Kerle“ im Ort. Nach Jahren der Unterdrückung und der Misshandlung gelingt es ihm irgendwann aus diesem Kaff zu verschwinden, er geht auf eine weiterführende Schule in einer anderen Stadt. Er lässt sein Leben als Eddy hinter sich und beginnt ein neues Leben, sein Leben als Édouard Louis.

Soviel zu dem Roman, welcher mich zutiefst erschüttert, aber auch gleichzeitig aufgrund seiner schonungslosen Ehrlichkeit sehr berührt hat. Schockierend ist, dass selbst in den 90er Jahren und dem 21. Jahrhundert Homosexualität in Frankreich, wenn auch im Hinterland, so sehr missbilligt wird. „Das Ende von Eddy“ ist gewiss keine Coming-Out-Story, es ist auch kein Ratgeber oder etwas dergleichen, sondern ein Buch voller Gefühl über den Mut, der zu sein, der man sein will. Ich habe in letzter Zeit viel Literatur zu diesem Thema gelesen und frage mich, ob es in unserer heutigen Gesellschaft, wo Homosexualität in vielen Ländern akzeptiert oder zumindest toleriert wird, ob es dort überhaupt noch nötig ist, sich zu outen. Warum soll die Frage danach, ob jemand Homo-, Hetero-, A-, Bi-, Trans- oder sonst wie sexuell ist, im Alltag überhaupt noch eine Rolle spielen? „Das Ende von Eddy“ gibt einen schockierenden, aber höchst authentischen Einblick in die Welt der jungen Homosexuellen in Frankreich und regt zum Nachdenken darüber an, was noch getan werden muss, damit alle Menschen, egal welche Sexualität sie leben oder welchem Geschlecht sie angehöre, so leben können, wie sie es wollen.

Crimeflair

Crimeflair ist Praktikantin im Archiv und betreibt einen eigenen Blog

Zine of the Day: Ring of Fire

Ring of Fire #2, 1997

Ring of Fire #2, 1997

Zu diesem Zine namens Ring of Fire mit dem etwas unscheinbar schnoddrig aussehenden Cover habe ich eine ganz besondere Beziehung. Es muss der Sommer im Jahr 2000 oder 2001 gewesen sein, als ich mit einem Freund einen kleinen Trip nach England gemacht habe, da stolperte ich mehr aus Zufall in einem Infoshop in London über dieses kleine Heft. Die Rückseite zog mich gleich in den Bann. Dort war in Großbuchstaben zu lesen: „THIS ZINE PROMOTES QUEER SEX, GENDERFUCK, AND THE ADVANCEMENT OF AMPUTEES EVERYWHERE.“

Noch im Infoshop las ich das Vorwort des Zines von Hellery Homosex und musste erstmal schlucken: „On September 14, 1996 I was trainhopping for the first time with some friends and when I jumped off the train it ran over my legs and they were both amputated below the knee. (…) It’s really a freaky thing to deal with, but I figure the only way to make it through is to be a tough ass bitch.“

Ich kaufte also das offenbar letzte Exemplar dieses Zines und verschlang es regelrecht auf dem Rest der Reise. Hellery schrieb so mitreißend, bewegend, witzig, charmant, offenherzig und schmutzig über Themen wie „cripple sex“, Nagellack, S/M, Traumabewältigung, Phantomschmerzen, Masturbationstechniken und Queerness, durch die ich vollkommen neue Perspektiven kennengelernt habe. Etwas verstörend, aber auch so sympathisch „tough ass bitch“-mäßig ist die „List Of Reasons Why It Sucks To Be An Amputee“, der sie eine „List of Reasons Why It’s Better To Be An Amputee“, auf der z. B. Punkte aufgeführt sind wie „I always have plenty of leg room“ oder „My feet never stink“

Zurück in Deutschland wollte ich das Zine unbedingt in das Programm meines Fanzine-Mailorders aufnehmen. Ich schrieb Hellery einen Brief an die im Heft angegebene Adresse, aber die war bereits nicht mehr aktuell und mein Brief kam nach einigen Wochen mit dem Vermerk „Unbekannt verzogen“ wieder retour.

Ich habe damals lange hin und her überlegt, ob ich das Zine einfach auf eigene Faust nachkopieren und vertreiben soll, habe mich dann aber ganz bewusst dafür entschieden. Ring of Fire #2 war einfach eines der besten Zines, die ich bis dahin gelesen hatte. Und auch bis heute gehört es zu den Top 5 meiner All-Time-Zine-Faves.

Ich habe keine Ahnung, ob es an meiner überschwänglichen Werbung für das Zine lag oder einfach daran, dass Queer Politics und Gender Studies in dieser Zeit einfach brandaktuelle Debatten ausgelöst haben und sich die Leute deshalb so sehr für Ring of Fire interessierten. Jedenfalls verkaufte ich bestimmt an die 100 Kopien des Zines.

Einige Jahre später brachte mir übrigens eine Bekannte ein Exemplar von Ring of Fire #3 von ihrer USA-Reise mit. Auch das war wieder absolut umwerfend. Auch an die in diesem Heft angegebene Post-Adresse schickte ich wieder einen Brief. Und auch diese Adresse war nach zwei Jahren schon wieder veraltet und meine Post wurde ebenfalls wieder an mich zurückgeschickt.

Auch Ring of Fire #3 kopierte ich nach und davon verkaufte ich sicherlich ebenso viele Exemplare wie von der 2. Ausgabe.

Bis heute weiß Hellery Homosex sicherlich nicht, dass sie einen riesen Fan in Europa hat, dem es ein persönliches Anliegen war, ihre Hefte unter die Leute zu bringen. Aber wer weiß, vielleicht treffe ich sie ja in ein paar Jahren doch noch mal durch Zufall irgendwo und dann kann ich ihr hoffentlich eine kleine Geschichte erzählen, die ihr gefällt.

Übrigens: Ring of Fire #2 und #3 sowie weitere Veröffentlichungen von Hellery Homosex, die sich jetzt auch ET Russian nennt, erschienen letztes Jahr als Anthologie bei Left Bank Books. Die Paperback-Ausgabe kann hier bestellt werden.

Die Anschaffung lohnt sich mit Sicherheit!

http://www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

#IZM2015 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Jugendkulturen #Queer #Amputee

Christian (Zine Nerd)

From Gay to Straight?

I am Michael
USA 2015

James Franco als Tausendsassa zu bezeichnen ist sicher keine Untertreibung. So scherzte auch Anke Engelke bei der Eröffnung der 65. Berlinale jetzt nicht ganz zu Unrecht, dass Franco wohl den Weltrekord halten würde, als Schauspieler mit den meisten Filmen. Denn ob vor oder hinter der Kamera, ob in Hollywood-Blockbustern oder Independentproduktionen: Das filmische Schaffen von Franco, mit gerade mal 36 Jahren, ist enorm. Doch Franco nur auf Filme zu reduzieren, würde seinem umtriebigen Wesen nur ansatzweise gerecht werden. Er ist, oder besser gesagt, möchte doch viel mehr sein als nur ein Schauspieler. Seine Ausflüge in die Regiewelt, Literatur und auch sein Tun als Drehbuchautor und Filmproduzent scheinen ihm da jedoch nicht zu genügen. Vor allem die Kunst hat es ihm angetan. So ließ er sich von Marina Abramovic, der berühmten Performance-Künstlerin, zu einer in Blattgold gehüllten Statue umwandeln und macht auch selbst Kunst. Im Rahmen seiner Ausstellung Gay Town, die 2013 in Berlin gezeigt wurde, beschäftigte er sich mit Fragen von Männlichkeit, Homosexualität und Homophobie und den Starkult um seine eigene Person.

Doch trotz seines vielschichtigen Künstlerdaseins ist der Filmstar Franco dabei doch immer noch seine berühmteste Rolle. Und er ist Berlinale Dauergast. Auch in diesem Jahr ist er wieder mit drei Filmen vertreten. Wie so oft bei Franco, bewegt sich auch diesmal einer der Filme im LGBTI-Kosmos. Denn Franco spielte schon des Öfteren homosexuelle Rollen, wie z.B. in Howl oder in Milk. In I am Michael spielt Franco den Gayrights-Aktivisten Michael Glatze, der sich Ende der 1990er Jahre in San Francisco für schwule und lesbische Jugendliche engagiert hat und später die Zeitschrift Young Gay America gründete. Das Spielfilmdebut des Regisseurs Justin Kelly beruht auf einer wahren Begebenheit und zeichnet das Leben und vor allem den Wandel des Michael Glatze nach, von einem durch Queer Theory geprägten Gayrights-Aktivisten hin zu einem christlichen Fundamentalisten, der Homosexualität später radikal ablehnt.

Doch wie kommt es zu dieser widersprüchlichen Metamorphose? Das versucht der Film durch das Gegenüberstellen verschiedener Zeitebenen und Lebensphasen von Michael nachzuzeichnen. Am Anfang sehen wir ihn, wie er einem jungen Mann gegenübersitzt, der ihn fragt: „Warum hat Gott mich schwul gemacht?“. Michaels Antwort: „Es gibt keine Homosexualität, das ist eine falsche Identität. Wenn du zu Gott finden willst, dann kehre auf den Pfad der Heterosexualität zurück“. Eine verstörende Anfangsszene. Danach springt der Film zehn Jahre zurück und zeigt ebendiesen Michael Ende der 1990er Jahre in San Francisco. Er lebt offen schwul mit seinem Freund zusammen, nimmt ab und an andere Männer für einen Dreier mit nach Hause, konsumiert Drogen, feiert ausgelassen in Technoclubs und arbeitet für ein schwules Magazin names XY. Doch brutale Übergriffe auf Homosexuelle bringen ihn dazu, sich gegen Homophobie zu engagieren. Er hält Vorträge an Schulen und startet ein Filmprojekt, in dem er quer durchs Land reist und junge queere Amerikaner_innen porträtiert. Er möchte mit der Dokumentation die „Gay Youth of America“ sichtbar machen, ihr eine Stimme geben und dem ganzen Hass und den Hate Crimes gegenüber Homosexuellen Empowerment und ein Wir-Gefühl gegenüberstellen. Durch seine Leidenschaft, Eloquenz und sein Charisma wird Michael schnell zu einem Vorbild in der Gay Community.

Doch durch plötzlich auftretende, unerklärliche Brustschmerzen, die Panik und existentielle Ängste in ihm hervorrufen, erfolgt ein Bruch in Michaels Leben. Er befürchtet unter demselben genetischen Herzfehler zu leiden, an dem auch sein Vater starb. Ärzte bescheinigen ihm zwar vollkommene Gesundheit, doch Michael ist weiterhin geplagt von Panikattacken und geradezu besessen von die Idee, dass er bald sterben wird. Er zieht sich in seiner Verzweiflung immer mehr zurück, sucht für seinen erschütterten Lebensmut Halt und Antworten in der Bibel, beschäftigt sich mit dem Leben nach dem Tod und beginnt heimlich zu beten. Vor allem die Suche nach seinem wahren Ich treibt ihn fortan um und die Frage, welchen Weg er einschlagen muss, um dieses Ich freizulegen. In dem Spannungsfeld zwischen seiner gelebten Homosexualität und dem immer stärker aufkeimenden Glauben bewegt sich der Film daraufhin und begleitet Michaels Weg in den religiösen Fundamentalismus. Er trennt sich von seinem Freund, versucht mit Frauen zu schlafen und besucht letztlich eine Bibelschule, um Priester zu werden. Er bloggt fortlaufend über seinen Findungsprozess und dem damit verbundenen Ringen um Erkenntnis und verkündet schließlich, sich nicht mehr als schwul zu identifizieren und setzt obendrauf, dass er schon immer „ein heterosexueller Mann war, der nur ein homosexuelles Problem hatte.“

Der Film trifft sehr gezielt in die Magengrube, denn diese atypische Wesensveränderung von Michael Glatze schmerzt in vielerlei Hinsicht. Seine religiösen Aussagen im Film zu Homosexualität verstören und machen fassungslos und wütend, da sie in so großem Kontrast zu dem „alten“ Michael stehen. Tragisch erscheint zudem auf der persönlichen Ebene, wie seine radikalen Entscheidungen viele Menschen in seinem Umfeld verletzen. Es ist ein sehr subjektiver Film, der zugleich liebevoll und schonungslos die bisherigen Lebensphasen des Michael Glatze und die Suche nach seiner sexuellen Identität nachzeichnet. Es ist das Porträt eines extremen, fast schon schizophren wirkenden Einzelfalls und auf gar keinen Fall generalisierbar. Die Figur des Michael wirkt durch den Handlungsverlauf am Ende definitiv nicht mehr als Sympathieträger, doch schafft es der Regisseur zugleich, ihn nicht zu diffamieren. Die Machart des Films lässt hoffen, dass die Gefahr eher gering sein wird, dass er von homophoben Strömungen für ihre Anti-Gay-Agenda instrumentalisiert werden wird.

Auf der Metaebene behandelt der Film zudem Fragen der Identitätsfindung, die uns alle betreffen und bei denen das Verhältnis von Sexualität und Religion zueinander immer wieder neu verhandelt werden muss. Nicht nur unbedingt im Privaten, sondern generell im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn auch fernab fanatischer religiöser Rhetorik à la „If you are gay you go to hell“, zeigt sich unter anderem in Fragen der rechtlichen Gleichstellung von LGBTI in vielen liberalen Gesellschaften immer noch die stärke Prägung durch ein wertkonservatives, christliches Weltbild.

Der Film ist noch am Samstag auf der Berlinale zu sehen, mit etwas Glück gibt es vielleicht noch Tickets. Der reguläre Filmstart steht noch nicht fest.

I am Michael bei der Internet Movie Database

Giuseppina Lettieri

Berlin Bromley

Bertie Marshall
Berlin Bromley
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Mit einem Vorwort von Boy George
Ventil Verlag 2008
220 Seiten
10 Euro

berlin_bromleyLondon, Mitte der 1970er Jahre: Eine Gruppe Teenager aus Bromley, einem Vorort im Südosten der Stadt, bringt den Punkrock mit ins Rollen. Sie bewegen sich im Dunstkreis von Vivian Westwood, Malcolm McLaren und den Sex Pistols. Einer von ihnen ist der 15-jährige Berlin Bromley, selbstbenannt nach diesem Vorort und Berlin, der Stadt seiner Träume. Seine Vorstellungen von der Stadt Berlin speisen sich aus den Legenden um das 20er-Jahre-Musical „Cabaret“ und seiner Verehrung für David Bowie, der einen seiner Songs nach dem Stadtteil Neukölln benannte. Berlin Bromleys Traumwelt ist ohne Grenzen: Androgynie ist chic, Drogen sind quasi Grundnahrungsmittel und Musik ist allgegenwärtig wie die Luft zum Atmen.

Eine der zentralen Gestalten des „Bromley Contingent“, wie eine Journalistin die Gruppe nennt, ist Siouxsie Sioux, mit der Berlin durch das Londoner Szeneleben schwirrt wie bizarre Nachtfalter auf Speed. Während sie jedoch mit Freund Steve Severin die Band Siouxsie and the Banshees gründet und zur Kultfigur aufsteigt, schlägt der schwule Berlin sich später mehr recht als schlecht als Stricher durch. Von der Schule ist er früh abgegangen, an einen geregelten Job ist nicht zu denken, und für das Nötigste reichte damals noch das Arbeitslosengeld. Und so erzählt er in autobiografischer Manier allerlei skurrile Anekdoten aus seiner Jugendzeit. Beispielsweise wie er, von Siouxsie an eine Leine gelegt und ihr Hündchen spielend, in einem Vorort-Pub aufläuft und letztendlich vom Kneipenbesitzer hinausgeworfen wird. Oder von der Fetisch-Party, die er in seinem biederen Elternhaus veranstaltet, und auf der die Gäste – unter anderem die Sex Pistols – sich nach allen Regeln der Kunst daneben benehmen und die Nachbarn in Angst und Schrecken versetzen. Überhaupt kreuzen viele sonderbare Gestalten seinen Weg und Berlin erlebt die seltsamsten Sex- und Liebesgeschichten, die er offenherzig zum Besten gibt und deren Protagonisten aus einem Buch Jean Genets entsprungen sein könnten. Dabei bleibt Berlin jedoch immer auf eine schüchtern-verträumte und selbstverliebte Art weltfremd, reguliert seine schwankenden Seelenzustände durch abwechselndes Einwerfen von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln und weiß seine Chancen einfach nicht zu nutzen.

Mit all seinem extravaganten Make-up, dem eigenwilligen androgynen Styling und seinem Posertum hätte er eine Galionsfigur des aufkommenden New Romantic werden können – eben das schlugen ihm Steve Strange und Rusty Eagan Ende der 1970er vor, als Punk schon nicht mehr neu und aufregend war. Berlin Bromleys lapidare Reaktion dazu: „Ich war in den vorangegangenen drei Jahren jeden Abend aus gewesen … ich dachte, da wird bestimmt nichts draus.“ Seine beiden Freunde sind kurz darauf mit ihrer Band Visage und dem Hit „Fade to grey“ weltberühmt geworden.

Kurz vor Ende des Buches vollzieht der Autor einen unerwarteten Zeitsprung: 25 Jahre später, im Winter 2001, fährt Bertie Marshall (von seinem Pseudonym hatte er sich bereits 1979 verabschiedet) dann doch noch in die Stadt seiner Träume – Berlin. Was er in der Zwischenzeit gemacht hat, bleibt unklar. Gesagt wird nur, dass Marshall zuletzt Texte für Pornos schrieb, eine Zeit lang in New York lebte, dann wieder in London, inzwischen obdachlos geworden war und sich in Berlin einen Neustart erhoffte.

Mit ein paar Dollar in der Tasche und bar jeder Sprachkenntnisse kommt er in Deutschland an, doch Berlin ist kalt und so sperrig, wie es nun mal ist. Kein Glamour, keine schillernde Dekadenz, lediglich ein Friedrichshainer Hausbesetzer erweist sich als hilfreich und nimmt Marshall für eine Weile in seinem schmuddeligen Zimmer mit auf. Schließlich trifft er auf einer Lesung Jon Savage, der ihn auffordert, seine Memoiren zu schreiben, und die Übersetzerin Conny, in deren Wohnung er bleiben kann, und er findet einen Job als Englischlehrer. Aber all das tröstet Marshall nicht über seine zerstörte Illusion hinweg. Er geht wieder nach London zurück und stellt fest. „Ich will nie wieder nach Berlin. Es ist eine kalte, triste und unglamouröse Stadt. Ihr fehlt jedes Charisma und sie ist entsetzlich provinziell.“

Was dieses Buch lesenswert macht, ist seine Glaubwürdigkeit (ohne dass hier über den tatsächlichen Wahrheitsgehalt spekuliert werden soll). Marshall beschreibt sein Leben als Berlin Bromley authentisch und ungekünstelt und doch stellenweise so poetisch, dass man sich beim Lesen genau den stillen, in Musik und alten Büchern aufgehenden und gleichzeitig maßlos exzentrischen Teenager vorstellen kann, der Berlin Bromley war und Bertie Marshall vielleicht bis heute ist. Das Buch beruht, so der Autor, auf seinen damaligen Tagebucheinträgen, und so liest es sich auch weniger wie ein autobiografischer Roman als vielmehr episodenhaft und mit Verweisen auf subkulturelle Ereignisse, von denen die meisten, die mit Punk groß geworden sind, schon einmal gehört haben – wie das berüchtigte Interview der Sex Pistols bei Bill Grundy –, jedoch aus der Perspektive eines Jungen dieser Zeit, der fast immer dabei oder zumindest ganz nah dran war, an den britischen Punk- und New-Wave-Größen. Dass dies aber auch die Geschichte einer von Drogen und Prostitution zerfressenen Jugend ist, sorgt dafür, dass die Erzählung einen etwas bitteren Beigeschmack behält und nie ins Glorifizierende abdriftet. Und eine kleine Warnung zum Abschluss: Aufgrund der expliziten und zum Teil recht drastischen Schilderungen von Sexualpraktiken ist das Buch – wenn auch größtenteils aus der Sicht eines Fünfzehnjährigen geschrieben – nicht uneingeschränkt für Jugendliche und Zartbesaitete zu empfehlen.

Gabi Vogel 

Queer?! – ein schräges Fremdwort

Was ist eigentlich queer? Kann ein Mensch „queer sein“ und wenn ja, dann wie? Und was soll das Ganze überhaupt? Im Deutschen erinnert es bestenfalls an quer, was weder sonderlich negativ noch positiv besetzt ist, ein bisschen sperrig vielleicht, aber nicht weiter schlimm.
Queer ist ein Modebegriff, ein Schlagwort, eins dieser unzähligen Anglizismen, von denen kaum jemand zu wissen scheint, was konkret dahinter steckt. Queer macht es uns aber auch besonders schwer. Denn es verweigert sich einer klaren Definition. Was fangen wir also damit an?
Eins schon mal vorneweg: Um der sprachliche Monstrosität LSBTI… zu entgehen, die so unaussprechlich wie verzweifelt um politische Korrektheit bemüht ist, wird queer im Deutschen immer häufiger als eine Art Platzhalter eingesetzt, für lesbisch, schwul, bi-, trans-, intersexuell, neuerdings auch ein A für die Asexuellen, die vielleicht überhaupt nichts mit Sex zu tun haben wollen, ein P für die polyamore Fraktion, für die Zweierbeziehungen kaum attraktiv sind, oder ein K für jene aus dem „kinky“ Spektrum, sprich: SM- und Fetisch-Bereich. Aber letztlich geht es gar nicht um das Aufzählen der 43 046 721 unterschiedlichen Sexualtypen, wie sie Magnus Hirschfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts errechnet hat, als vielmehr darum, einen Begriff zu finden für all diejenigen, die sich den normierenden Zwängen unserer Gesellschaft – in diesem Fall der heterosexuellen Matrix – nicht einfügen können oder wollen.
Sich den normativen gesellschaftlichen Zwängen entziehen? Das klingt doch vertraut für alle, die sich mit Jugendkulturen und Subkulturen jeglicher Art beschäftigen. Aber dazu kommen wir später noch. Zuerst stellt sich die Frage, wo der Begriff queer sprachlich und kulturell hergekommen ist. Queer war nämlich ursprünglich eine nicht gerade freundliche Bezeichnung aus dem englischen bzw. amerikanischen Sprachraum.
Schimpfwörter umzudrehen und als Selbstbezeichnung zum identitätstragenden Kampfbegriff zu erheben – das funktioniert gelegentlich im Englischen, so geschehen mit „Punk“ als Subkultur oder dem „Slut-Walk“ als Protestform. Im Deutschen war das bislang weniger erfolgreich. Würde hier eine sagen, dass sie zum „Schlampenspaziergang“ geht? Oder sich ein Irokesenträger stolz als „Quatsch“ bezeichnen? Ebenso hat der Begriff „schwul“ eine eher zwiespältige Karriere hinter sich – bis in die 1990er Jahre außerhalb von Bewegungskontexten eher diskret geflüstert, ist er seit der letzten Entkriminalisierung (männlicher) Homosexualität im Jahr 1994 zwar alltäglich geworden, zugleich aber auch immer weiter in dem alltäglichen Beleidigungskanon von Jugendlichen, ja selbst von Grundschülern aufgestiegen.
Mit „queer“ ist das etwas anderes. Befragen wir leo.org, erhalten wir für „queer“ als Adjektiv „eigenartig, komisch, seltsam, sonderbar“, danach noch „suspekt, verdächtig, verrückt, verschroben, wunderlich, zweifelhaft“ und mittlerweile auch, jedoch erst an 11. Stelle: „homosexuell“. Als Substantiv, allerdings mit der Notiz „slang“, bekommen wir immerhin umgehend die simple Übersetzung „der Schwule“ oder „die Tunte“. Da wir Online-Übersetzungen aber nie so ganz trauen, können wir queer auch noch googeln – und werden dann gleich mit hochkomplexen Ergebnissen erschlagen, mit Queer Theory und Queer Studies, Feminismus und Dekonstruktivismus, Teresa die Lauretis und Judith Butler. Und eben mit der Feststellung, dass der Begriff „queer“ so offen ist, dass er sich im Grunde genommen jeder Definition verweigert.
Wie lässt sich „queer“ also erklären? Um mit einem kurzen Blick in die Bewegungsgeschichte zu beginnen: Die Gay Liberation, also die Schwulenbewegung der 1960/70er Jahre, wurde ebenso wie die damalige lesbisch-feministische Bewegung dahingehend kritisiert, sie würden nur für „ihre Leute“ kämpfen, also wieder die eine oder andere Art von „Wir“-Kategorie bilden und andere Menschen, wie Transidente oder Bisexuelle, ausgrenzen. Also im Prinzip demselben Mechanismus folgen, mit dem der heterosexuelle Mainstream nonkonforme Menschen degradiert. Zudem würden „Nebenwidersprüche“, wie der auch in Bewegungskontexten existierende Rassismus oder Antisemitismus, ausgeblendet. Genau hier setzt die Queer Theory an und bringt dekonstruktivistische Denkansätze ins Spiel: Wenn wir uns scheinbar grundlegenden, angeblich natürlichen Kategorien wie „Frau/Mann“, „homosexuell/heterosexuell“, „schwarz/weiß“ verweigern, diese als sozial oder kulturell konstruiert und damit als künstlich entlarven (und das bestätigen all die transidenten, intersexuellen oder bisexuellen Menschen jeglicher Hautfarbe), dann brauchen wir dafür auch einen neuen Begriff: Hallo, queer.
Das könnte alles ganz einfach und entspannt sein, ist es aber für die meisten Menschen nicht, da sie gewohnt sind, in Kategorien zu denken und damit eine Sicherheit in der Wahrnehmung ihrer Umwelt zu erhalten. Nur so als Beispiel: Küssen sich zwei langhaarige Menschen in Kleidchen und Stöckel auf offener Straße, so löst das bei manch einem heterosexuellen Mann vielleicht noch erotische „Flotter-Dreier“-Fantasien aus, solange er die beiden für Frauen hält. Stellen sich die zwei Küssenden jedoch als Männer in Drag heraus, möchte der Hetero schon nicht mehr so gerne in der Mitte liegen. Sind es aber womöglich zwei Transsexuelle, sind die dann jetzt schwul oder lesbisch? Stöckelt einer dieser beiden Menschen später nach Hause zu Frau und Kind, ist es dann doch ein bisexueller, polygamer Transvestit oder gar eine untreue Femme mit per Bechermethode gezeugtem Kind und toleranter Partnerin? Und sollte diese dann Hosen und Kurzhaarschnitt tragen? Und, für den Vertreter der hegemonialen Männlichkeit vielleicht am allerschlimmsten: Wie kommt das Kind damit zurecht? Das womöglich aufgrund der Samenspende eines hilfsbereiten schwarzen schwulen Freundes auch noch eine dunklere Hautfarbe hat? Oder hat sich bei der oben beschriebenen Szenerie jemand eine_n der Küssenden als schwarz vorgestellt? Und überlegt, dass dann noch mal ganz andere normative Maßstäbe angelegt werden? Wäre der Mainstream queer, wäre das alles nicht weiter hinterfragenswürdig: Sollen sich doch alle lieben, wie sie wollen.
Wer sich jetzt zurücklehnt mit dem Gedanken: „DAS ist doch alles total konstruiert! Flirten jetzt schwarze Transen mit weißen Skinheads oder wie? Das gibt es doch alles gar nicht, das hab ich ja noch nie gesehen?“ Doch, natürlich gibt es das. Auch außerhalb der CSD-Paraden, dann aber vielleicht eher nicht auf offener Straße, weil die Reaktionen von stumpfem Anstarren über dumme Sprüche bis hin zu handfester Gewalt praktisch schon vorprogrammiert sind. In unserer „westlichen“ Gesellschaft (und nicht nur in dieser) ist schnell die Kategorie „unnormal“ oder „krank“ zur Hand, um Unbekanntes in stigmatisierender und diskriminierender Weise abzufertigen.
Also treffen sich Queers in ihrer eigenen Subkultur, so wie Punks beim Slime-Konzert oder Skinheads beim Ska-Nighter? Ganz so einfach, sorgfältig getrennt und kategorisierbar ist das wieder nicht – sonst hätten Subkulturforschende auch nichts mehr zu forschen.
Die Idee von einer queeren Subkultur ist eine Konstruktion, die auf den ersten Blick nicht viel mit altbekannten Subkulturformationen zu hat. Queere Menschen haben nicht unbedingt einen durchgängig erkennbaren Kleidungsstil, einheitlichen Musikgeschmack oder gemeinsamen sozialen Hintergrund. Es handelt sich auch nicht um eine klassische Jugendkultur, wenngleich die Präsenz in der Öffentlichkeit – sei es auf dem CSD oder im Nachtleben – häufig von Menschen bestimmt wird, die relativ jung sind oder zumindest versuchen, jugendlich zu wirken.
Es existiert also keine singuläre und uniforme queere Subkultur. Stattdessen gibt es zahlreiche und vielfältige queere Szenen, die sich vor allem in größeren Städten konzentrieren. Sie bewegen sich im Umfeld von Veranstaltungen und Orten, von denen manche auch widerständigen politischen Ansätzen verpflichtet sind, und können dann als alternativ oder subversiv bezeichnet werden. Oft gehen sie aber auch mit den Normen und Werten der Mainstream-Kultur konform, und so kann ein homosexueller Szene-Lebensstil auch mit einer neoliberalen oder konservativen politischen Grundeinstellung vereinbar sein.
Aber ganz abgesehen davon, dass die queeren Szenen so vielfältig sind wie die Geschlechter und Orientierungen ihrer Vertreter_innen, kommt es auch zu Überschneidungen, mit denen auf Anhieb vielleicht nicht zu rechnen war. Postsubkulturelle Ansätze berücksichtigen unter dem Stichwort „Lifestyle“ oder „Szene“ eher die fließenden Übergänge und flexiblen Identitäten der queeren Gruppierungen, ohne eine Subkulturzugehörigkeit als oberflächlich oder beliebig abzuwerten. Idee und Begriff von Subkultur sind damit jedoch nicht ganz hinfällig. Deren bisher begrenzter Rahmen kann weniger eng gefasst werden, und so lässt sich Subkultur in erweiterter Form auch mit Szene oder Bewegung gleichsetzen.
In der Abkehr vom alten, starren Subkulturmodell und ganz besonders im Hinblick auf Gender und sexuelle Identität kann dieses zeitgemäßere Modell zudem unter dem Aspekt der Performativität, wie ihn Judith Butler eingeführt hat, betrachtet werden. Demnach sind alle – auch subkulturelle – Identitäten zutiefst instabil, und die Parodie dient als Mittel zur Unterwanderung vermeintlich stabiler Strukturen, wie die Beispiele des Gay Skinhead als hypermaskuline und der Lipstick Lesbian als hyperfeminine Parodie heterosexueller Stile zeigen. Diesem Denkansatz folgend stehen subkulturelle Identitäten nicht in vorgefertigter Form zur Verfügung, sondern sind als Konstruktionen zu betrachten, die durch stete Wiederholung alltäglicher Handlungen immer wieder reproduziert werden.
Wenn Subkulturzugehörigkeiten heute nicht mehr als voneinander abgegrenzt angesehen werden können, sondern als fließend und untereinander kompatibel, dann ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass sich der Gay Skinhead und die Lipstick Lesbian zum Beispiel auf einem Ska-Konzert treffen, ohne deplatziert oder gar verfeindet zu wirken. Abgesehen vom gemeinsamen Musikgeschmack – wer jemals im TV-Vorabendprogramm durch Kochshows gezappt hat, kennt diesen eingängigen Musikstil, er wird am häufigsten als Hintergrundbeschallung eingesetzt – können beide, auch in Bezug auf Stil und Konsumverhalten, nicht als widerständig in Bezug auf die dominante Kultur bezeichnet werden. So kann die Schuhsammlung eines Gay Skinhead vom Umfang her schon mal mit der einer Lipstick Lesbian mithalten. Ebenso wird die erwartete Abgrenzung zum anderen subkulturellen oder zum dominantkulturellen Stil nicht erfüllt, was die Auswahl der Marken und Modelle angeht. Beider Schuhschränke enthalten ganz ähnliche Produkte von Modemarken, die sowohl im Mainstream als auch subkulturell anerkannt sind – schicke Doc Martens-Stiefel für das Konzert, sportliche Chucks für die restliche Freizeit und die bequemen trendy Birkenstöcker für die Entspannung zu Hause.
Trotz aller Begeisterung für Musikkonsum und Shopping können sich queere Szenen auch als politische Gegenkulturen erweisen. In postsubkulturellen Ansätzen erscheinen Szenen zwar oft als hedonistisch und apolitisch, allein in der offenen und konsequenten Widerständigkeit zur heterosexuellen Matrix des Mainstream liegt bei Angehörigen queerer Szenen jedoch bereits genug politischer Sprengstoff. Es ist also legitim, queere Szenen als Formen von Subkultur zu betrachten, auch wenn die Ebene des Widerstands sich nicht in erster Linie auf die Kategorien Musik, Kleidung oder Klasse, sondern auf die der Geschlechtszugehörigkeit bzw. der sexuellen Orientierung bezieht. Und genau darin liegt die Herausforderung, der sich nicht-queere Menschen stellen müssen: Wer queer verstehen will, muss Uneindeutigkeit aushalten können.

Gabriele Vogel

Biologie & Homosexualität

Heinz-Jürgen Voß
Biologie & Homosexualität – Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext
Unrast-Verlag 2013
88 Seiten
7,80 €

Schon lange suchen Forscher_innen nach einer biologischen Erklärung für Homosexualität. Das Buch Biologie und Homosexualität von Heinz-Jürgen Voß, welches im Februar 2013 im Unrast-Verlag erschien, berichtet über die Entstehung der zentrale Begrifflichkeiten und stellt verschiedene Theorien vor. Man erfährt dabei zum Beispiel, wer als „der erste Schwule“ gilt, und dass die starren Kategorisierungen „Homosexualität“ und „Heterosexualität“ erst während der Moderne aufkamen, sprich, dass sie neuer sind, als man vielleicht vermutet hat.

Da Voß selbst Biologe ist, schafft er es, die verschiedenen Theorien, welche sich mit der Wirkung und Ausprägung von Keimdrüsen, Hormonen und Genen befassen, auch für Laien anschaulich darzustellen. Dabei geht er auch auf die zum Teil gruseligen Biografien und Karrieren der Forschenden ein. Generell gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass vielerorts in der Biologie gleichgeschlechtliche Liebe noch immer als Abweichung von der Norm begriffen wird und nach einer Heilung bzw. Ursache gesucht werden soll.

Abgerundet wird das Ganze noch einmal mit einer kürzeren Darstellung der zentralen biologischen Studien weiblicher und männlicher Sexualität sowie einer Liste mit empfohlener, weiterführender Literatur.

Ein absolut lesenswertes Buch, welches viele Infos in sich birgt und einen phasenweise sprachlos macht.

Christian Ganske

Der Junge von nebenan

Martin Büsser
Der Junge von nebenan
Verbrecher Verlag 2009
100 Seiten
14,00 €

1162_LIllustrierte Erzählung, Graphic Novel oder irgendwo dazwischen: Der Junge von nebenan ist der Titel der ersten und leider auch letzten fiktionalen Erzählung von Martin Büsser. Gewidmet „all jene[n], die nie Männer werden wollen oder es geschafft haben, nie Männer zu werden“, ihre Hauptfigur ein Junge in den 1970er Jahren zwischen Erwachsenwerden, Coming out und der Ohnmacht gegenüber den Eltern. Während diese sich für den Kampf im Untergrund entscheiden, beginnt für den Jungen der Kampf mit der eigenen Sexualität. Vom 18. Stockwerk hinabblickend in eine „unbestimmte Zukunft“, voller „Liebschaften, Möglichkeiten“ und „wie auch immer geratene Wege“. Nachdem Mutter und Vater verfolgt, gefunden und „in der spektakulärsten Polizeiaktion des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ erschossen werden, kommt der Junge zu den Großeltern. Dort träumt er von Berlin, der einzigen Stadt, die groß genug ist und deren Sprache er spricht. Um der Tristesse zu entkommen, flüchtet er in Fantasiewelten und entdeckt Literatur, Politik und Popmusik.
Die Coming of Age Story reißt nicht nur queere Diskurse und Identitätssuche an, sondern thematisiert auch ganz nebenbei ein Stück BRD Geschichte, wunderbar naiv und zugleich entlarvend ehrlich und direkt. In seinen Zeichnungen pflegt Büsser einen bewussten Dilettantismus, eine Art D.I.Y. Ästhetik, rotzig, unfertig und simpel. Mit wenigen Sätzen und schlichten Zeichnungen geht die Geschichte nah, durch die Einfachheit der Dinge, das Minimalistische. Martin Büsser hat das „offenste aller offensten Bücher“ geschrieben. Als ob er sich mit diesem Werk verabschieden wollte. Das ist ihm fürwahr gelungen. Er wird fehlen.

Martin Büsser ist im September 2010 gestorben. Er schrieb unter anderem für das ehemalige Punk Hardcore Fanzine Zap, für die Intro und Konkret. Er war Mitbegründer und Herausgeber des Mainzer Ventil Verlags und der Buchreihe testcard, außerdem Musiker, Autor, Theoretiker und einiges mehr. Roger Behrens schrieb über ihn: „Pop war ihm mehr als Musik, Musik mehr als Pop – es ging um Gender, Filme, Comics, Fernsehen, Romane, Nationalismus, D.I.Y., es ging ums Ganze.“

Leyla Dewitz

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)