Das Ende von Eddy

Édouard Louis
Das Ende von Eddy
S. Fischer 2015
208 Seiten
18,99 €

u1_978-3-10-002277-6.38011915.jpg„Das Ende von Eddy“ ist der Debutroman des jungen Franzosen Édouard Louis, der gebürtig Eddy Bellegueule heißt und um dessen Autobiografie es sich bei diesem Werk eigentlich handelt. Das Buch erzählt die tragische und schockierende Geschichte des jungen Franzosen, der in seinem Heimatort diffamiert und auf grausamste Weise misshandelt und gedemütigt wird. Es behandelt jedoch nicht nur die Homosexualität des Protagonisten bzw. Autors, sondern auch den Umgang mit den im Norden Frankreichs immer noch erstaunlich konservativen Geschlechterrollen. Eddys Leidensweg  beginnt damit, dass er anders geht als die anderen Jungs im Ort, anders als seine doch so „männlichen“ Brüder, und damit, dass er eine hohe Stimme hat. All diese Äußerlichkeiten lassen ihn von klein auf zum Gespött der Leute im Ort werden, die ihn auslachen und mit seinen Eltern über ihn reden. Als er das alles mitbekommt, versucht er krampfhaft seine äußere Erscheinung zu ändern. Als wäre all das nicht schon schlimm und traumatisierend genug, so wird es noch schlimmer, als herauskommt, dass er schwul ist und zwei Klassenkameraden anfangen, ihm aufzulauern und ihn zu misshandeln. Sie treten ihm in den Bauch, bespucken ihn und zwingen ihn die Rotze abzulecken, beschimpfen ihn aufs derbste und lachen ihn aus. Und das an jedem Tag seiner Schulzeit. Diese Misshandlungen finden statt, nur weil Eddy anders liebt, anders als sie es tun wollen, von Können kann nicht die  Rede sein. Zu tief sitzt der Hass auf Schwule, auf alles was nicht so ist wie sie, also wie die „echten, harten Kerle“ im Ort. Nach Jahren der Unterdrückung und der Misshandlung gelingt es ihm irgendwann aus diesem Kaff zu verschwinden, er geht auf eine weiterführende Schule in einer anderen Stadt. Er lässt sein Leben als Eddy hinter sich und beginnt ein neues Leben, sein Leben als Édouard Louis.

Soviel zu dem Roman, welcher mich zutiefst erschüttert, aber auch gleichzeitig aufgrund seiner schonungslosen Ehrlichkeit sehr berührt hat. Schockierend ist, dass selbst in den 90er Jahren und dem 21. Jahrhundert Homosexualität in Frankreich, wenn auch im Hinterland, so sehr missbilligt wird. „Das Ende von Eddy“ ist gewiss keine Coming-Out-Story, es ist auch kein Ratgeber oder etwas dergleichen, sondern ein Buch voller Gefühl über den Mut, der zu sein, der man sein will. Ich habe in letzter Zeit viel Literatur zu diesem Thema gelesen und frage mich, ob es in unserer heutigen Gesellschaft, wo Homosexualität in vielen Ländern akzeptiert oder zumindest toleriert wird, ob es dort überhaupt noch nötig ist, sich zu outen. Warum soll die Frage danach, ob jemand Homo-, Hetero-, A-, Bi-, Trans- oder sonst wie sexuell ist, im Alltag überhaupt noch eine Rolle spielen? „Das Ende von Eddy“ gibt einen schockierenden, aber höchst authentischen Einblick in die Welt der jungen Homosexuellen in Frankreich und regt zum Nachdenken darüber an, was noch getan werden muss, damit alle Menschen, egal welche Sexualität sie leben oder welchem Geschlecht sie angehöre, so leben können, wie sie es wollen.

Crimeflair

Crimeflair ist Praktikantin im Archiv und betreibt einen eigenen Blog

Zone C

Sebastian Caspar
Zone C
KLAK Verlag 2014
153 Seiten
12,90 Euro

imageMedienprodukte, die den Konsum von Drogen im Focus haben, besitzen meist so unglückliche Eigenschaften wie mit erhobenem Zeigefinger zu belehren, durch reißerische Machart erst recht neugierig aufs Ausprobieren zu machen – oder einfach nur zu langweilen. Zone C, das Erstlingswerk von Sebastian Caspar, begeht keinen dieser Fehler. Der Roman schildert die Auswirkungen der Modedroge Crystal Meth („ein Gemisch aus Ephedrin, Abflussreiniger und Batteriesäure“) aus der Innensicht seines Protagonisten: Sten, 19 Jahre alt und gerade wieder arbeitslos, nimmt seine Welt praktisch nur noch im Rausch wahr: „In dem düsteren Flur, der nur spärlich von einer nackten Glühbirne erhellt wird, knackt es beängstigend, und dann beginnt das Licht in der ganzen Wohnung zu flackern. Ich drehe meinen Kopf in Richtung dieses Lautes, bereite mich darauf vor, dass gleich der verweste Torso eines Menschen um die Ecke kriecht und meinen Namen flüstert. Doch wie immer geschieht nichts und ich drücke noch mal auf dieses verdammte Feuerzeug. Ich habe dieses Leben nie gemocht.“

Sten wohnt in einer nicht weiter benannten ostdeutschen Stadt – könnte Leipzig sein, aber auch jede andere –, sein Vater hat die Familie verlassen und sich mitsamt neuer Frau nach Saigon abgesetzt, die Mutter ist depressiv, der geliebte Großvater stirbt bald. Weitere typische Loser-Szenarien werden nicht bedient – die Hauptfigur ist weder sozial isoliert noch dumm noch rechtsradikal. Ihm öffnet sich nach der Schule schlicht keine greifbare Perspektive. Und die Droge, meist billig in Labors in Tschechien hergestellt, ist immer da und bietet sich an, um den drögen Alltag zu übertünchen. Stens Freundin Asic, die durch ihn auch drogensüchtig wurde, hat ihn verlassen, um in Westdeutschland clean zu bleiben und zu studieren. Auch über diesen Verlust kommt er nicht hinweg. Eine neue Beziehung bleibt oberflächlich, ebenso wie sich seine Freundschaften hauptsächlich über Partys und Drogenkonsum definieren. Aber Sten hat einen besten Freund, Monti, der stets an seiner Seite ist und unbeschwert alle Exzesse mit ihm teilt. Doch gerade diesen Freund umgibt ein Geheimnis, das sich am Ende unerwartet offenbart und der Geschichte eine Dimension des Grauens gibt, die dafür sorgt, dass man das Buch so schnell nicht wieder vergisst.

Der Autor zeigt das Leben eines Abhängigen, mit innerer Leere, Trostlosigkeit und Wahnvorstellungen, ohne dass man das Lesen nach einer Weile entnervt aufgeben will. Denn ebenso wie die Sprache mal poetisch, mal vulgär ist, geben die Gedanken des Protagonisten in all ihrer Realitätsverzerrung auch einfach nur die Sehnsüchte eines jungen Menschen wieder, der einerseits um die halbe Welt reisen würde, um seine große Liebe noch ein Mal wiederzusehen, und andererseits mit einer flüchtigen Affäre alle im Porno abgeschauten Sexvarianten durchexerziert.

Der Text kommt gänzlich ohne Dialoge aus. Das versinnbildlicht vielleicht auch die Sprachlosigkeit der abgehängten, ostdeutschen Nachwendejugend, aber nicht nur – denn kommuniziert wird ja. Vor allem jedoch macht es deutlich, dass sich die Handlung im Kopf des Protagonisten abspielt, wobei die Hauptrolle, neben anderen Drogen, das „große C“ spielt. Und damit wird klar, dass Crystal Meth mehr ist als nur eine beliebige Partydroge und auch nicht mit dem Hintergrundwissen verharmlost werden kann, dass bereits Soldaten im Zweiten Weltkrieg ein vergleichbares Mittel („Pervitin“) verabreicht bekamen, um ihre Kampfbereitschaft zu steigern. Letztlich führt der Text ganz nebenbei auch zu der Idee, dass es doch schlauer ist, die Finger von Crystal zu lassen. „Ich erinnere mich an die Nächte, in denen ich voll drauf bin, wach auf meinen Atem höre und an meinen Körper, der vom C schweißnass ist und zittert. An den Versuch, ein Buch zu lesen, das Gefühl, etwas verloren zu haben, den Moment, als alles begann. Wind, der warmen Regen über Felder treibt.“

Sebastian Caspar, Jahrgang 1977, wurde in Weißenfels/Saale geboren und arbeitete mehrere Jahre in Australien und Asien. Er absolvierte ein Sozialarbeitstudium, lebt jetzt in Leipzig, und er weiß, wovon er schreibt. Laut Welt am Sonntag „[erinnert sich] Sebastian Caspar, der einstige Abhängige, noch heute an die ‚immense Kerbe’, die ‚Crystal ins Suchtgedächtnis schlägt’“. Dabei hat er, so Steffen Könau auf http://www.mz-web.de, Zone C „nicht […] geschrieben, um auf die Gefahren durch Drogenmissbrauch hinzuweisen“, sondern ihn „hätten schon immer die Verlierer interessiert, die Leute ohne Stimme, ohne Lobby“.

Gabi Vogel

Skogtatt

Ulrike Serowy
Skogtatt
Illustrationen von Faith Coloccia
Hablizel 2013
60 Seiten
16,90 Euro

skogtattEs ist im tiefsten Wald. Es ist im tiefsten Winter. Und es ist sehr, sehr kalt. Eine Gruppe Black-Metal-Musiker beendet ihre Bandprobe in einer einsamen Hütte über einem Fjord. Sie verteilen sich auf drei Autos und fahren in getrennten Richtungen davon. Nur der Gitarrist sitzt allein in seinem Wagen und sucht sich seinen Weg durch die verschneite Landschaft. Doch die Strecke ist lang, und noch vor dem nächsten Dorf bleibt das Auto liegen. Als er feststellt, dass auch sein Telefon keinen Empfang hat, beschließt der junge Mann, seinen Weg durch den Winterwald zu Fuß fortzusetzen.

So beginnt Ulrike Serowys Novelle, die kurz, aber eindrucksvoll ein Portrait nicht nur des jungen Musikers und seines Weges in den Wald, sondern auch ein Stimmungsbild des Black Metal entwirft, ohne diesen explizit bei Namen zu nennen. Dass das Buch überhaupt auf sechzig Seiten kommt, liegt zum einen an der zweisprachigen Aufmachung (der Text ist einmal in Deutsch und einmal in Englisch abgedruckt) und zum anderen an den zehn darin enthaltenen, künstlerischen Illustrationen. Ebenso kunstvoll ist der Einband aus grobem und ungebleichtem, geprägtem Karton, der einen Eindruck vom rauen skandinavischen Wald entstehen lässt.

Beeindruckend ist jedoch auch die Sprache, mit der sowohl Landschaft als auch Gedanken dargestellt werden, und die einen Einklang von schroffer Natur und gewaltiger Musik widerspiegelt, wie er sich im Denken des einsamen und immer weiter abdriftenden Wanderers manifestiert. Sinnierend über seine romantisierende Liebe zur Natur und seinen Hass auf die Menschen, deren geistige Fähigkeiten er als unnatürlich empfindet, verstrickt er sich in eine grandiose Unlogik, die ihn vergessen lässt, dass es doch gerade der Geist ist, der Menschen dazu befähigt, Instrumente zu bauen, Musik zu produzieren, und nicht zuletzt auch den Weg aus einem bedrohlichen Wald zu finden.

Wer des Norwegischen mächtig ist, kann sich den Titel des Buches mit „vom Walde genommen“ übersetzen. Hinten im Einband wird der Begriff „skogtatt“ als eine Anlehnung an „bergtatt“ – „verzaubert, gefesselt, gebannt und: von Unterirdischen in den Berg gelockt“ erklärt. Wie sehr die Natur, deren Bilder und Klänge, den Musiker in Bann geschlagen haben, beschreibt die junge Autorin mit messerscharf gesetzten Worten, deren Impressionen ihre Wirkung nicht verfehlen. Das mag für manche zuviel des Guten sein, aber wer sich, unabhängig vom Musikgeschmack, darauf einlassen kann, wird sich auch dem Sog, den dieses Buch ausübt, kaum entziehen können.

Der Schnee, der den Boden bedeckte, leuchtete nicht mehr, sondern war papierweiß, bleichweiß, knochenweiß. Der fallende Schnee fauchte und rauschte und trommelte auf ihn ein, der Frost riss mit aller Gewalt an seiner Haut, Nase und Ohren waren voller dicker weißer Flocken, so dass er zu ersticken glaubte wie in einem zerrissenen Federbett, auch sehen konnte er nichts mehr, kaum noch etwas, nur noch weiß, weiß, und zwischen den fedrigen Stieben hin und wieder die schwarze Schattenwand, auf die er zulief, denn der Weg krümmte sich und führte ihn an einer dichten, dunklen Tannengruppe vorbei, oder mitten hinein?

Letztendlich können Menschen, die Stil und Ästhetik des Black Metal grundsätzlich für bis ins Alberne gehend pathetisch finden, ihre Ansicht in diesem Buch ebenso bestätigt finden wie Anhänger_innen dieser Musik, die das Naturgewaltige und abgrundtief Schöne daraus erklingen hören mögen. Unberührt lässt es eine_n auf keinen Fall.

Gabi Vogel

Kein Weinfest in Tenever

Dirk T.
Kein Weinfest in Tenever – Eine Bremer Geschichte
Trolsen Verlag 2013
220 Seiten
12,90 €

Kein WeinfestIch-Erzähler Dirk wächst im Bremer Stadtteil Osterholz-Tenever auf und beschreibt seine Jugend als Werder-Bremen-Hooligan. Zündender Funke für den kleinen Dirk, Kind von Mittelschichteltern und durchaus nicht perspektivlos aufwachsend, ist die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 – ein Großereignis für die ganze Familie:

„Nachdem Neeskens den Ball mit voller Wucht in die Maschen gehämmert hatte, wurde nach kurzen Unmutsäußerungen die Stimmung schnell wieder besser, als von Papa für alle ein neues Bier geöffnet wurde und von Onkel Heinzi ‚Bomben auf Amsterdam‘ angestimmt wurde.“

Etwas später lernt der Erzähler die Welt des runden Leders auch bei Stadionbesuchen mit seinem Vater und beim eigenen Fußballtraining kennen. Als Elfjähriger ist er schwer beeindruckt von der ersten Prügelei unter Fans verschiedener Vereine, und mit 13 trinkt er sich mit Schulfreunden zu Sylvester seinen ersten Vollrausch an. Damit sind dann auch die Eckpunkte der biografisch anmutenden Erzählung umrissen.

Fußball an sich ist hier eher Nebensache. Spiele werden oft mit Verspätung besucht oder vorzeitig verlassen – viel wichtiger scheint es, den gegnerischen Fans aufzulauern, um sich gegenseitig zu verprügeln. Und natürlich, sich vor und nach den Spielen gnadenlos zu besaufen. Zu diesem Zweck geht es auch immer wieder auf Reisen, vor allem zu Auswärtsspielen. Eine interessantere Ausnahme hier ist die Begegnung mit einem „Groundhopper“ der mangels ernstzunehmenden Heimatvereins (er kommt aus Bad Schwartau) eine Leidenschaft dafür entwickelt hat, möglichst viele Stadien auf der ganzen Welt zu besuchen. Die gelungenste Episode ist jedoch die Beschreibung einer Englandfahrt, auf welcher der Erzähler zwar letztlich weder das angestrebte Fußballspiel besucht noch den Louvre findet, den er in London vermutet, dafür aber Sympathien für einen englischen Bobby entwickelt, dessen deutsche Kollegen dem jungen Dirk im Allgemeinen nicht sehr freundlich gesonnen sind. Und auch Frauen tauchen hin und wieder in seinen Erzählungen auf, erscheinen aber eher als Trophäen, die man meistens nicht kriegt, oder die nicht allzu lange bleiben.

Kein Weinfest in Tenever liest sich als eine Fortsetzung oder Ergänzung von Ostkurve, dem ersten Buch des Autors. Der vorliegende Band bietet jedoch in erster Linie die Innensicht einer Fußball-zentrierten Männermonokultur, in der ausdauerndes Lamentieren über das eher geringe Interesse an und Verständnis für die Hooligans von Seiten junger Frauen ebenso zum Alltag gehört wie die Sorglosigkeit gegenüber Jobverlust und kleinkriminellen Aktivitäten.

Leser – und es dürften in erster Linie männliche Leser sein, die dieses Buch anspricht – die selbst in ihrer Jugend ähnlich Fußball-bewegt waren (oder es noch sind), werden sicherlich ihre Freude an diesem Band haben, denn wer das alkoholbeflügelte Fan-Dasein selbst erlebt hat, kann die Begeisterung nachfühlen. Für alle anderen erscheint die Lektüre vielmehr als eine Art persönliche Dokumentation einer verschwendeten Jugend, da der Ich-Erzähler am Ende, nach all den Jahren und trotz abgeschlossenen Studiums, als alleinstehender Mann ohne berufliche Perspektiven durchs Leben trudelt und nicht einmal die Ansichten seines Kumpels, der den bevorzugten Fußballverein als seine „große Liebe“ und eine Art Ersatz für Freundin, Familie und alles andere sieht, so recht teilen mag.

„[…] Die beste Frau ist eben immer noch der Verein! Glaub’ mir das. Der Verein ist immer da, egal, ob du reich und berühmt bist oder in der Gosse hängst. Egal, ob er Champions League spielt oder dritte Liga“
Die Getränke wurden vor uns hingestellt.
„So ein Blödsinn kannst auch nur du erzählen! Der Verein ist immer für dich da! Was für ein Schwachsinn! Und wenn ich mal ficken will, was mach ich dann? Dann frag ich Tim Borowski, ob er mal Zeit hat, oder was? Ich will nicht mit Tim Borowski ficken! Außerdem will ich mir meine Freundin nicht mit Tausenden anderer Idioten teilen. Wir haben heute alleine zwanzigtausend Dauerkartenbesitzer, wusstest du das?“, stellte ich besorgt fest, während ich einen besonders großen Schluck Ice Tea durch meinen Strohhalm saugte.
„Dirk, vergiss es einfach! Du kapierst es nicht! Die Liebe zum Verein ist doch nicht zu vergleichen mit der zu einer Frau. Es geht hierbei doch gar nicht ums Ficken, sondern um Dauerhaftigkeit! Nein, um Ewigkeit! Ewige Treue gibt es nur zu deinem Verein. Verstehst du, was ich meine? Oder warst du schon mal einer Freundin ewig treu?“, wollte Terry wissen.
„Ist ja gut! Lass uns einfach über was anderes reden!“

Gabriele Vogel

Ein toter Lehrer

Simon Lelic
Ein toter Lehrer
Knaur 2012
348 Seiten
9,99 €

Ein Amoklauf in einer Londoner Eliteschule bildet den Fokus dieser Geschichte – ausgerechnet während einer Rede des Direktors bei einer Veranstaltung zum Thema Gewalt in der Aula. Der Täter ist jedoch hier kein Schüler, sondern ein von seinen Schüler_innen und Kolleg_innen gemobbter junger Geschichtslehrer. Kaum besser ergeht es der ermittelnden Polizistin, die zudem gezwungen wird, den Fall möglichst schnell abzuschließen, ohne die Hintergründe – die Gewaltverhältnisse an der Schule, das Wegsehen der Schulleitung – zu ermitteln, um den Ruf der Schule und der staatlichen Bildungspolitik nicht zu gefährden.

Ich mag „Amok“-Literatur eigentlich grundsätzlich nicht; fast alles, was ich dazu bisher gelesen habe, ist sensationsheischend, stellt „die Jugend“ oft unter Generalverdacht als asoziale, gewalttätige Generation und dient nicht zuletzt in zynischer Weise vor allem dem Geschäft der AutorInnen – wer über solch grausame Taten schreibt, gilt pauschal als mutig, kritisch, aufklärerisch, von hehren Motiven – „Betroffenheit“ – getrieben, die Qualität der Arbeit und die pekuniären Motive der Autor_innen werden da gar nicht erst hinterfragt. Der hier ist potentiell anders. Keine Sensationsmache, die Täter-Opfer-Verhältnisse sind auf alle beteiligten Generationen gleichermaßen verteilt. Die ruhige Erzählweise, hauptsächlich aus der Perspektive der ermittelnden Polizistin bzw. den Ich-Erzählungen der von ihr befragten ZeugInnen, die in Krimimanier nach und nach den Hintergrund der Tat aufblättern und den Täter auch als Opfer präsentieren, ohne die Tat zu verharmlosen, konterkariert angenehm die Aufgeregtheit des Themas. Nur ihr eigenes sexistisches Mobbing bis hin zur Fast-Vergewaltigung durch einen Kollegen in der Parkgarage der Polizei wirkt in seiner Offenheit – fast alles findet quasi unter den Augen und mit Billigung des Vorgesetzten statt – ein wenig aufgesetzt und unglaubwürdig, selbst für die britische Polizei, die bis in die 1990er Jahre hinein in der Tat pausenlos durch Mobbingskandale und interne wie externe Gewalttätigkeiten für Aufregung sorgte. Insgesamt zum Glück kein „Jugendbuch“, dieses literarische Debüt des Ex-Journalisten, aber sehr geeignet als Diskussionsanregung in der Schule und natürlich auch für individuelle Leser_innen.

Klaus Farin

Blutsbrüder

Ernst Haffner
Blutsbrüder – Ein Berliner Cliquenroman
Metrolit 2013
260 Seiten
19,99 €

Um die 50.000 arbeitslose Jugendliche lebten Anfang der 1930er Jahre in Berlin, darunter 15.000 obdachlose, meist aus „Fürsorgeanstalten“ entlaufene Jungen. Sie hielten sich als Tagelöhner und Laufburschen über Wasser, aber häufig führte ihr Weg sie auch in die Kriminalität oder Prostitution. Zuflucht fanden sie in selbstorganisierten Cliquen. Davon erzählt der 1932 unter dem Titel „Jugend auf der Landstraße Berlin“ erschienene Roman von Ernst Haffner. Von den Nationalsozialisten 1938 zu den „schädlichen und unerwünschten Büchern“ gezählt, verboten und öffentlich verbrannt, wurde das Buch vergessen und nun, gut 80 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, erneut publiziert.

Ernst Haffner arbeitete zwischen 1925 und 1933 als Journalist und Sozialarbeiter in Berlin. Mit der Machtergreifung der NSDAP verliert sich seine Spur. Der hier vorgestellte Roman blieb seine einzige Buchpublikation. Der Feuilletonist Siegfried Kracauer nannte Haffners Buch in der Frankfurter Zeitung eine „Roman-Reportage“ und trifft damit das Besondere des Textes, der zwischen Milieuschilderung und Abenteuerroman changiert.

Haffner beschreibt darin den Überlebenskampf der „Blutsbrüder“-Gang in einer Welt zwischen Wärmehalle und billigen Schlafquartieren, Kneipen und Bahnhofswartesälen, Flucht und drohendem Gefängnis oder erneute Einweisung in die Fürsorgeanstalt. Es ist die Welt der Arbeitslosen und Prostituierten, der Stricherjungen und Kleinkriminellen, die im Berlin der zweiten und dritten Hinterhöfe zu Hause sind. Der Kampf der „Blutsbrüder“ ums Überleben hat wenig Heroisches. Der Roman schildert Machtkämpfe innerhalb der Clique und Rivalitäten unter ihren Anführern, den „Cliquenbullen“, er beschreibt blutige Rachefeldzüge und dunkle Rituale des Zusammenlebens, doch der Kontrast zu den kleinen Freuden des Alltags, von denen der Roman auch erzählt, könnte nicht größer sein: Sie bestehen in einem Teller warmer Suppe, einem Sitzplatz in der Wärmehalle, genug Geld für Zigaretten oder einen Tag mit einem Mädchen auf dem Rummelplatz. Haffner beobachtet präzise.

Die Blutsbrüder sind das proletarische Gegenbild zu Erich Kästners Emil und die Detektive. Während diese nach bestandenem Abenteuer zum Abendbrot in die (klein-)bürgerlichen Wohnungen ihrer Eltern kehren, erwartet jene ein feuchter Strohsack in einer Kellerabsteige – aber auch das nur, wenn es ihnen tagsüber gelungen ist, die 50 Pfennig Miete dafür aufzutreiben. Emils Detektive stammen aus Wilmersdorf, die Blutsbrüder sind in Mitte zu Hause. West gegen Ost: Schon lange vor dem Bau der Mauer war Berlin gespalten in einen reichen West- und einen proletarischen Ostteil. Und in Haffners Roman wird klar, dass die Kluft zwischen Arm und Reich eine fast ebenso unüberwindliche Grenze darstellte wie später die Mauer. Einmal geraten Ludwig und Wilhelm, die eigentlichen Helden des Romans, nach ihrem Ausstieg bei den Blutsbrüdern in den Westen: „Ihnen ist, als seien sie in einer fremden Stadt. Berlin. Nie war ihnen der Einfall gekommen, einmal in den Berliner Westen zu gehen. Die grauen Straßen mit ihren ersten und zweiten und noch mehr Hinterhöfen, das war ihre Heimat. Hier sind sie, ja wirklich, hier sind sie in der Fremde. In einer reichen, heiteren Fremde, wie es den Anschein hat. Die Menschen haben alle funkelnagelneue Kleider an, als sei heute ein hoher Feiertag und nicht irgendein Mittwoch. Die Läden gleichen Palästen, in denen seine Majestät, der Kunde, gelangweilt nach irgendeiner kostbaren Kleinigkeit sucht. Und die Frauen. Die Damen. Jede, aber auch jede ist so reich gekleidet, riecht so gut, ist so schön.“ In dieser Welt werden Ludwig und Wilhelm schon bald zum Objekt der Begierde pelzbemäntelter Herren, die, „müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen“.

Die beiden waren der Hölle der Fürsorgeanstalten entlaufen, in denen Machtmissbrauch und schwarze Pädagogik an der Tagesordnung waren. Auch darin erweist sich der Roman als erschreckend aktuell: Schon in den 1920er Jahren waren die Missstände in den Erziehungsheimen ein großes Thema, nicht zuletzt, weil es mehrere Aufstände von Zöglingen gegeben hat, die bis zur Schließung ganzer Einrichtungen führten. Ohne Papiere aber haben Jungen wie Ludwig und Wilhelm keine Chance auf legale Arbeit – werden sie von der Polizei aufgegriffen, droht ihnen die Rücküberweisung in die Fürsorgeanstalt. Das einzige Ziel, das diese Jungen vor Augen haben, ist der 21. Geburtstag und damit der Eintritt in die Volljährigkeit, die sie der Zuständigkeit der Fürsorgeanstalten für immer entzieht.

Klaus Farin

Nationalsatanist

Erlend Erichsen
Nationalsatanist
kuk 2012
190 Seiten
18 €

Die Erzählung beginnt mit einem Konzertbesuch der Band Gorgoroth und führt damit auch in die Welt der norwegischen Black-Metal-Szene ein, die das Setting des ganzen Romans bestimmt. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist Runar (bzw. Ljåvold, wie er sich später als Musiker nennt), der, tief beeindruckt von diesem Konzert, mit seinem neuen Freund Vintervold beschließt, eine eigene Black-Metal-Band zu gründen. Was dann folgt, erscheint wie eine Horrorgeschichte aus Hass und Gewalt, die als überzogene Gruselfiktion abgetan werden könnte, gäbe es nicht den Dokumentarfilm Until the Light Takes Us aus dem Jahr 2008, der die Hintergründe von abgebrannten Kirchen und Mord in dieser Szene als erschreckend realistisch erkennen lässt.

Die Beschreibung der auftretenden Musiker lässt bereits erahnen, dass es hier nicht um die Aufstiegsgeschichte zweier junger Musiktalente geht, sondern vielmehr um die Geisteshaltung innerhalb einer Szene, die in erster Linie durch Negativschlagzeilen bekannt geworden ist: „Das waren Gorgoroth. Ihre Kleidung war schwarz, ihre Haare waren schwarz, und die Augen waren schwarz abgehoben von den kreidebleichen Gesichtern. Wie in Hass und Trauer uniformiert, wie Gestalten aus einem anderen Universum, wie eine andere Rasse. […] Majestätisch und selbstsicher kamen sie immer näher auf uns zu. Wie aus dem Traum eines Geisteskranken. […] Sie sprachen weder, noch war ein Lächeln auf ihren Gesichtern zu sehen, sie bewegten sich langsam und schwer. Spitze Nieten und Nägel, die in alle Richtungen abstanden, zierten die schwarzen Lederjacken. […] Das war keine Schauspielerei. Es wirkte völlig natürlich, und sie strahlten eine eigenartige Abscheu aus für uns, die wir gekommen waren, um sie zu erleben. Sie sahen ganz einfach durch uns hindurch.“

Das Erstlingswerk des norwegischen Musikers Erlend Erichsen, selbst Schlagzeuger der Death-Metal-Band Molested und zeitweise auch von Gorgoroth, besticht nicht gerade durch seine sprachliche Ausdrucksform. In pathetischem Tonfall erzählt er von der Freundschaft zwischen Runar/Ljåvold und Vintervold, von dem wir nur diesen „Künstlernamen“ erfahren und der offenbar keine bürgerliche Existenz in Form von Familie, Freunden oder einem Beruf hat. Runar scheint fasziniert von diesem neuen Freund, trotz oder gerade wegen seines misanthropischen und auch frauenverachtenden Charakters. Aufgrund des Erfolgs ihres ersten gemeinsamen Demo-Tapes erlangen sie Anerkennung in der Szene – Vintervold zieht Runar aber auch durch seine brutalen Auseinandersetzungen mit Rockern und anderen „Feinden“ in den Bann. Die weibliche Hauptfigur Helga, eine alte Freundin Runars, wird ebenso zur Zielscheibe seines Hasses, behält aber auch als einzige einen klaren Blick auf den Strudel aus Gewalt und Kriminalität, in den Runar immer tiefer hineingezogen wird. Nur sie schafft es, sich der machtvollen Ausstrahlung Vintervolds zu entziehen.

Insgesamt rankt sich die Geschichte nur am Rande um die Bands und noch weniger um konkrete nationalsozialistische Ausrichtungen innerhalb der Black-Metal-Szene. Wer hier politischen oder philosophischen Tiefgang erwartet, wird von diesem Buch eher enttäuscht werden. Auch ist die literarisch nicht gerade anspruchsvolle Sprache anfangs gewöhnungsbedürftig, transportiert aber doch das Pathos dieser Black-Metal-Jugend, die sich selbst als Hüter einer Art düsteren norwegischen Urkultur betrachten, die sie über die von ihnen verachtete Masse erhebt. Ob die sprachlichen Defizite bereits im Original bestanden oder der Übersetzung geschuldet sind, bleibt Spekulation. Dennoch ist die Geschichte aufgrund der Insiderposition des Autors spannend zu lesen und lässt in ihren guten Momenten erahnen, was die Faszination ausmacht, die eine sonst eher unsympathische Szene auf – in erster Linie männliche – Jugendliche ausübt.

Gabriele Vogel

Kopfüber. Kopfunter.

Anja Tuckermann
Kopfüber. Kopfunter.
KLAK 2013
112 Seiten
6,90 €

Hier handelt es sich um eine bearbeitete Version ihres Titels Das verschluckte Lachen von 2006: Elli und Sascha sind die allerbesten Freunde. Sie verstehen sich auch ohne Worte, verbringen jede freie Minute miteinander. Meistens sind sie zusammen auf Achse, albern herum, denken sich Geschichten aus und machen daraus Hörspiele. Elli liebt Saschas Heiterkeit und seine unerschöpfliche Phantasie. Doch andere haben damit Probleme, in der Schule gilt Sascha als verhaltensauffällig. Die Erwachsenen sagen, irgendetwas funktioniere in seinem Kopf nicht wie bei anderen. Die Ärzte nennen das ADHS. Als Sascha deshalb Tabletten bekommt, verändert er sich. Und auch für Elli verändert sich alles. Für die beiden beginnt eine Achterbahn der Gefühle, die zu einer harten Probe für ihre Freundschaft wird.

Das Buch wurde unter dem Titel Kopfüber von Bernd Sahling verfilmt; Premiere war bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2013 und um die Jahreswende lief der Film auch regulär in den Kinos.

Klaus Farin

Nirgendwohin. Irgendwohin.

Anja Tuckermann
Nirgendwohin. Irgendwohin. Erzählungen
KLAK Verlag 2013
190 Seiten
12,90 €

Anja Tuckermann erzählt in 22 Geschichten von jungen Erwachsenen in Städten, von Gefahren, Abenteuern, Auswegen, Glück. Von jungen Menschen, die ihren Weg finden. Ihr Alleinsein, ihre Suche und das Zusammenfinden. Von Zweien, die sich nur von ihren Balkonen über die Berliner Mauer hinweg gesehen hatten. Von einem Liebespaar, das nach dem Mauerfall erstmals zusammen sein kann, ohne auf die Uhr zu achten. Über Weihnachten im Mieterkeller. Über den Hunger nach Leben.

Klaus Farin

Vielleicht will ich alles

QueDu Luu
Vielleicht will ich alles
Kiepenheuer & Witsch 2011
336 Seiten
14,95 €

9783462042955Die scheinbar heile Welt des 16-jährigen Addi, der genug Geld und viele Freunde hat, ist bei genauerer Betrachtung ein Trümmerfeld, auf dem die Eltern sich in regelmäßigen Abständen prügeln und dabei auch vor dem eigenem Sohn nicht halt machen. Der Roman beginnt schonungslos und ohne einstimmende Worte. Addi bekommt von seiner Mutter eine abgebrochene Bierflasche in den Bauch gerammt. Aus Versehen.

Verständlich, dass er unter diesen Verhältnissen versucht, so viel Zeit wie möglich draußen zu verbringen. Der Leser begleitet Addi auf seiner Reise durch die Straßen; was er dort entdeckt stellt die gesamte Bandbreite des Lebens dar. Er erlebt Gewalt und Hass, aber auch Freundschaft und Liebe. Und er beginnt zu verstehen, dass seine Familie nicht die einzige ist, bei der Schein und Sein nicht übereinstimmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass Jonas, der in der Schule als Streber verschrien ist, für seine Eltern, die von Hartz IV leben, nachts um 3 Uhr das Bier von der Tanke holt? Und wie kann es sein, dass Addi der obdachlose und oft geistig verwirrte Balduin vernünftiger und zufriedener als seine Eltern vorkommt?

Die Autorin QueDu Luu, deren Wurzeln in China und Vietnam liegen, verzichtet in Vielleicht will ich alles nicht nur auf jegliche klischeehafte Darstellung, sie wählt sogar oftmals Bilder, die den Leser geradezu veranlassen, nachzudenken und die gewohnten Assoziationen zu hinterfragen. So wirkt es erst ungewöhnlich, dass es Addis Mutter ist, die den Vater tätlich angreift und es sich nicht umgekehrt verhält. Auch vermutet man derartige Gewaltausbrüche wohl eher in Familien, die von der Gesellschaft als Unterschicht bezeichnet werden; doch auch dies ist im Falle von Addis Eltern – der Vater Arzt, die Mutter Krankenschwester – wohl kaum zutreffend.

Der Roman zieht den Leser oft an düstere und einsame Orte, doch der schwarze Humor QueDu Luus lockert diese Momente immer wieder auf. Feinfühlig schildert sie verschiedene Lebensweisen; zeigt, dass letzten Endes Jeder auf der Suche nach Nähe und Geborgenheit ist und enthält sich selbst jeder Wertung. Was bleibt, ist eine Vielzahl an Identifikations und Interpretationsmöglichkeiten und eine Einladung zum Nachsinnen.

Maria Danelius

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Cherryman jagt Mr. White

Jakob Arjouni
Cherryman jagt Mr. White
Diogenes Verlag 2011
167 Seiten
19,90 €

978-3-257-06755-2In Storlitz möchte man nicht leben. Nicht mal tot sein. Das Kaff in der brandenburgischen Provinz ist weit genug von Berlin weg, um absolut gar nichts vom Großstadtflair abzubekommen, aber noch nahe genug dran, um es zu kennen und zu hoffen, irgendwann dort zu leben. Im Dorf gibt es immerhin eine Frittenbude und einen Supermarkt. An diesem trostlosen Schauplatz sieht sich der Anti Held des Romans, der 18-jährige Rick Fischer, gezwungen, sein Dasein zu fristen. Als Waisenkind, das seine Eltern früh bei einem Autounfall verloren hat, wächst er bei seiner selbsternannten Tante Bambusch auf. Sie hat ihn liebevoll großgezogen und nun kümmert er sich um die alte Frau. Nach dem Realschulabschluss erwartet ihn wie alle Jugendlichen im Ort die aussichtslose Jobsuche.

Rick ist ein Träumer, ein stiller, harmloser Junge, der gerne Comics zeichnet und mit seiner Katze spielt. Und somit das ideale Opfer für die rechtsradikale, dummgesoffene Clique, die arbeits und perspektivlos auf dem örtlichen Supermarktparkplatz herumlungert und Bier trinkt. Die Gang schikaniert ihn, nimmt ihm regelmäßig das Taschengeld ab und quält seine Katze. Rick versucht, ihnen so gut es geht aus dem Weg zu gehen und sich unauffällig zu verhalten. Wenn das mal wieder nicht klappt, flüchtet er sich in seine selbst gezeichnete Comicwelt, in welcher der übermächtige Held „Cherryman“ (seines Zeichens ein menschgewordener Kirschbaum) es immer schafft, seine Feinde zu besiegen.

Eines seltsamen Tages bietet eben dieser Schlägertrupp sich plötzlich an, ihm eine Lehrstelle im verheißungsvollen Berlin zu vermitteln. Rick ist von Anfang an misstrauisch. Aber das Gefühl, endlich einmal Glück zu haben und die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz in seinem Traumberuf Gärtner lassen ihn alle Zweifel verdrängen. Der Mittelsmann Pascal, ein schmieriger und unsympathischer Vorstadtgauner, macht ihm schnell deutlich, dass die Lehrstelle an Bedingungen geknüpft ist. Rick soll für den örtlichen Neonazi Verein „Heimatschutzbund“ einen jüdischen Kindergarten ausspionieren. Er wird genötigt mitzumachen, da seine neuen rechten Kumpanen alles bedrohen, was ihm wichtig ist: seine Tante, seine Freundin, seine Lehrstelle. So wird Rick trotz moralischer Bedenken und Gewissensbissen zum Werkzeug von Leuten, die er eigentlich verabscheut. Als ihn die Neonazis in eine Falle locken wollen und er die offensichtliche Kriminalität des Heimatschutzbundes nicht mehr länger verleugnen kann, wächst Rick über sich hinaus. Die Angst um seine Freunde und seine Tante bringt ihn dazu, sich zu wehren. Die aufgestaute Frustration und all seine Furcht entladen sich in einer überdimensionalen Reaktion.

Der/Die LeserIn erfährt gleich zu Beginn, wo die Geschichte endet. Nämlich mit Rick im Gefängnis. Wie es dazu kam, erzählt Jakob Arjouni in Form von Briefen des Protagonisten an den Knastpsychologen. Er stellt so nur die eine Sicht der Dinge dar und die Sympathien sind von Anfang an eindeutig verteilt. Es ist die Geschichte eines schwachen Jugendlichen, der in einer scheinbar ausweglosen Situation durchdreht. Der Autor zeigt, wie leicht man zum Mitläufer werden kann und wie schwer der Kampf eines Einzelnen gegen organisierte Neonazigruppierungen ist. Die Grenze zwischen Opfer und Täter verwischt. Es stellt sich die Frage, ob Gewalt tatsächlich nur mit noch mehr Gewalt begegnet werden kann und ob es moralisch akzeptable Motive für ein schwerwiegendes Verbrechen gibt.

Die Geschichte behandelt ein bedrückendes Thema auf unterhaltsame, fast skurrile Weise, so wie es für den Autor typisch ist. Der leichte Schreibstil und die Kürze des Buches machen den Roman zum idealen Lesestoff auch für Jugendliche, und die Lektüre bietet ordentlich Diskussionsstoff.

Lydia Busch

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Dorfdefektmutanten

Markus Köhle
Dorfdefektmutanten – Ein Heimatroman
Milena Verlag 2010
154 Seiten
14,90 €

978-3-85286-186-9Dorfdefektmutanten. Auf so ein Wort muss man erst einmal kommen. Ein „Defektmutant“ ist laut Schweizer Tierschutzverordnung ein „Tier, das durch das Zuchtziel bedingte oder damit verbundene Schmerzen, Leiden, Schäden, Ängste oder andere Verletzungen seiner Würde aufweist. Es können herkömmlich gezüchtete oder gentechnisch veränderte Tiere sein“.

In diesem Buch geht es aber gar nicht um Tiere, sondern um einen jungen Tiroler, der aus seinem Leben erzählt und von dem gescheiterten Versuch, aus der Provinz auszubrechen. Seine Schilderungen bewegen sich auf verschiedenen Zeitebenen, die durch Play‑, Rewind‑ und Stoppsymbole wie auf einem Videorecorder angezeigt werden. Als Ich‑Erzähler liefert er nebenbei mit morbidem Humor eine dichte Beschreibung seines ländlichen Mikrokosmos und seiner etwas beschränkten Fähigkeiten zu sozialer Interaktion.

Das Dorf selbst stirbt nicht aus, es wuchert an den Rändern wie ein Krebsgeschwür. Diese Dorfrandmetastasen werden nicht als Bedrohung wahrgenommen und deshalb nicht behandelt. Ich wohne allein. Ich hatte Beziehungen, aber Probleme damit. Zypriotische Honigbienen bilden gemeinsam eine Kugel um ihre Feinde (beispielsweise orientalische Hornissen) und ersticken sie – fügen ihnen so viel Wärme zu, dass das Innere dieses Bienenballs ihre Todesstätte wird. Es war immer der Freundeskreis meiner Freundinnen, der mir zu schaffen machte. Mit einer Person konnte ich mich arrangieren, Freundinnen, Freunde, Verwandte und noch dazu die meist unerträglichen, potenziellen Schwiegereltern aber brachen mir regelmäßig mein Toleranzkreuz.

Sein Job als Hausmeister im „Raststadel“, einer ländlichen Multifunktionsgaststätte, bietet dem Erzähler gelegentlich unerwartete und zuweilen auch unappetitliche Herausforderungen. Lieber bewegt er sich im Internet und kommuniziert mit virtuellen Freunden, mit denen er lexikalische Mengen angelesenen Wissens austauscht und, wenn das nicht ausreicht, auch mit Zitaten großer Philosophen nachlegen kann. Um das Interesse der von ihm umschwärmten Rasthauskollegin Marika zu wecken, hilft ihm dies jedoch herzlich wenig. Kaum kommt er ihr näher, verpasst er schon wieder seine Chance.

Wir trinken, wir schlucken, wir machen ahh, und dann überrumpelt mich Marika.
Sie sagt: „Willst Du mich heiraten?“
Ich sag: „Was kostet mich das?“
Die Kellnerin sagt: „Ein großer Brauner mit Mitarbeiterbonus EUR 1,50. Aber trinken musst du ihn schon selber.“
Der Kaffee ist kalt. Ich sitze allein an der Bar. Kalter Kaffee macht Bauchweh. Man muss das wohl irgendwie anders angehen.

Köhles Heimatroman, eher die Persiflage eines Heimatromans oder ein Entwicklungsroman ohne Entwicklung, hat einen ganz eigenen Charme. In seiner alltagsuntauglichen Belesenheit erinnert der namenlose Held dieser Erzählung ein wenig an Ingvar Ambjörnsens Elling, ohne jedoch den Sympathiebonus seines norwegischen Pendants zu erreichen. Dafür ist der Tiroler dann doch zu verwurzelt in seinen Dorfritualen aus Besäufnissen, plumper Frauenanmache und zweifelhafter Dienstleisterkarriere. Doch auch gerade aus diesem Grund ist der vorliegende Band ein schön böses, gelungenes Buch. Allein der Einband ist des genaueren Betrachtens wert. Und wer urbanes Leben liebt, weiß auch wieder ganz genau, warum.

Gabriele Vogel

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

JPod

Douglas Coupland
JPod
Tropen 2011
528 Seiten
24,95 €

110605_UZ_Coupland_JPod.indd„JPod“ ist eine Abteilung einer Spieldesignfirma, in der ein halbes Dutzend Leute arbeiten, deren Nachname mit J anfängt. Ihr Leben spielt sich zwischen der Entwicklung idiotischer Computerspiele, nihilistischem Konsum, Identitätskrisen und verrückten Mitmenschen ab. Stellenweise ist das zwar originell und lustig, aber ich kann mit solcher Literatur, bei der immer der Anspruch mitschwingt, „Abbild einer Generation“ zu sein, wenig anfangen, und Coupland (Generation X, Generation A) macht es selten darunter und das inzwischen in mehr als einem Dutzend Romane, die sich alle um dieses eine Thema drehen: Junge Menschen aus besseren Kreisen zwischen Konsumwahn und ‑verzweiflung auf der Suche nach ihrer Identität, dem Sinn des Lebens und dem großen Kick. Stilistisch fällt Coupland mit JPod in seine Phase vor Girlfriend in a Coma von 1999 zurück. Eher nervig ist sein Versuch, über Dutzende Seiten – insgesamt rund ein Fünftel des Romans – von sinnlosen Aufzählungen, z. B. reine Zahlenreihen (etwa S. 377‑437, 61 Seiten!) das klassische Romanschema zu brechen, peinlich platt ist sein eigenes Auftreten als bekannter Romanautor erst in den Gesprächen der ProtagonistInnen, schließlich sogar als entscheidende Figur. Über weite Strecken ist JPod nicht schlecht geschrieben, wie eigentlich alle Werke Couplands, aber was bleibt, ist der fade Geschmack von Marshmallows.

Klaus Farin

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Die Ballade der Trockenpflaumen

Pulsatilla
Die Ballade der Trockenpflaumen
Graf Verlag 2011
215 Seiten
14,99 €

9783843700207_coverValeria di Napoli, die Autorin dieses Buches, schreibt unter dem Pseudonym Pulsatilla, lateinisch für ein giftiges Kraut namens Kuhschelle, das gleichwohl ein homöopathisches Heilmittel gegen Boshaftigkeit sein soll. Soweit informiert der Klappentext, aber offenbar hat das Kraut nicht viel geholfen. Ursprünglich als Einträge in ihrem Blog veröffentlicht, widmet sich die junge Italienerin in kurzen Kapiteln allerlei Aspekten des (Frauen‑)Lebens – zumeist denen, die sonst unausgesprochen bleiben – und das in einem bissig-witzigen Tonfall, der erkennen lässt, dass sie in ihrer Jugend nicht gerade auf Rosen gebettet war. Oder doch, aber dass bei ihr die Stiele mit dran geblieben sind.

Ansatzweise chronologisch beginnt der Band mit Pulsatillas Geburt und Kindheit und der Bürde, in einem links‑chaotischen Elternhaus aufzuwachsen. Die Unbillen der Adoleszenz und die Mühen mit zahlreichen Männerbekanntschaften bilden im weiteren Verlauf den Rahmen, auf Details (der weiblichen Pubertät und der männlichen Anatomie) aufmerksam zu machen, die man vielleicht gar nicht so genau wissen wollte, aber die ausreichend Gelegenheit geben, mit viel Spott und Hohn kommentiert zu werden. Zu Beginn ist das ganz amüsant, gelegentlich auch richtig erheiternd, aber nach einer Weile lässt der Spaßfaktor beim Lesen merklich nach.

Im Allgemeinen erhöhen Tabubrüche die Erfolgschancen eines Buches, aber wenn einen oder eine beim Lesen ständig das Gefühl beschleicht, zum Schlüssellochkucken gezwungen zu werden, wird das Ganze auf Dauer etwas fad. Und, was noch schlimmer ist, es hört komplett auf lustig zu sein, wenn sich mit der Zeit nur noch Mitleid mit der Autorin einstellt. Das arme Geschöpf scheint an nichts echte Freude haben zu können, was das (italienische) Frauenleben anscheinend so mit sich bringt, hat aber auch nicht den Mut, dem ganzen Zirkus aus Modeallüren, Schönheitsvorschriften und Männeridealen die rote Karte zu zeigen und sich erst einmal mit sich selbst anzufreunden. So arbeitet sie sich an einer Peinlichkeit nach der anderen ab und am Ende kann man ihr nur von ganzem Herzen wünschen, dass ihr zukünftiges Leben nicht weiter von ständigen Frustrationen gekürt sein wird, die sie nur mit spitzer Zunge bzw. Feder bewältigen kann.

Sicher, wer einen Hang zu Schadenfreude und eben Boshaftigkeit hat, wird sich mit diesem Buch gut amüsieren können. Wer Fußball nicht mag, auch. Ein Roman, von dem man doch eine gewisse Spannung erwartet, ist der vorliegende Band allerdings nicht.

Gabriele Vogel

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)