Faszination Gewalt

Josef Sachs & Volker Schmidt
Faszination Gewalt. Was Kinder zu Schlägern macht
Orell Füssli 2014
224 Seiten
22,95 €

SachsSchmidt_FaszinationGewalt_RZ.indd„Cyber-Mobbing, Überfälle und Messerstechereien: Was geht in Jugendlichen vor, die sich brutal verhalten? Was können wir dagegen tun? (…) Der Trend zu mehr Brutalität und Gewalt schreckt auf. Was macht Jugendliche zu Tätern? Sind zu viele Freiheiten in der Erziehung, instabile Familienverhältnisse oder die Gewaltverherrlichung in Videos oder Computerspielen daran schuld?“ (Klappentext)

In ihrem verständlich geschriebenen und nachvollziehbar aufgebauten Buch geben die beiden Psychiater Josef Sachs und Volker Schmidt Antworten aus der Sicht von Experten, die jungen Gewalttäter_innen häufig als Gutachter begegnen. Beide Autoren skizzieren Herausforderungen und praktische Handlungsansätze, die das Risiko, dass Jugendliche zu Täter_innen werden, verringern sollen.

Unter der Fragestellung „Woher kommt die Gewaltbereitschaft?“ liefern Sachs und Schmidt einen aktuellen Überblick über begünstigende Faktoren. Fehlende Sicherheit und Bindung in der Familie, Orientierung an delinquenten Vorbildern in der Peer Group, Konsum von Aggression begünstigenden Drogen und zweifelhaften Medien sind hinreichend bekannt. Bei der Beschreibung der Gehirn-Entwicklung von Jugendlichen neigen die Psychiater zu einer biologistischen Sichtweise, die den Blick auf menschliche Möglichkeiten verkürzt. Dabei betonen sie, dass kein zwingender Zusammenhang zwischen einzelnen Faktoren und Gewalt besteht, sondern dass erst das Zusammenwirken mehrerer ungünstiger Faktoren den Einsatz von Gewalt nahelegt. Somit stellen sie einerseits Ego-Shooter spielende Jugendliche nicht unter Generalverdacht, weisen andererseits jedoch auf die Möglichkeit hin, dass die Beschäftigung mit solchen Medien unter bestimmten Bedingungen dazu führen kann, Gewalt als Problemlösung zu favorisieren.

Mit Sorge beschreiben die Psychiater jene Möglichkeiten, die sich mittels neuer Medien bieten, vor allem psychische Gewalt auszuüben und Jugendliche bis zum Suizid zu treiben. Die öffentliche Demütigung durch das Publizieren von intimen Photos oder Gewalt-Videos geschehe oft ohne eine Ahnung der juristischen Verhältnisse. Für viele Jugendliche sei das Internet ein als rechtsfrei empfundener Raum, in dem sie überfordernde Inhalte finden. Wer sich in jungen Jahren an den Anblick von – auch sexualisierter – Gewalt gewöhnt, der kann dazu neigen, sich mit den Gewalttäter_innen zu identifizieren und dementsprechend zu handeln. Neue Formen von Demütigung erkennen die Psychiater bei Vergewaltigungen durch mehrere Täter_innen (zu 95% männliche Jugendliche), bei denen die Erniedrigung der Opfer (meist sehr junge Mädchen) per Handy gefilmt und im Internet veröffentlicht wird.

Den so genannten „School Shootings“ als seltener Form der Jugendgewalt widmen sich die Autoren vor allem im Hinblick auf Warnsignale, die das Umfeld des Täters veranlassen sollten, aktiv zu werden, anstatt Außenseiter_innen ihren eigenen Gewaltphantasien zu überlassen. Es gibt, so die Autoren, „bestimmte Äußerungen oder Verhaltensmuster des potenziellen Täters, die eine stufenweise Entwicklung hin zu einem Gewaltakt charakterisieren“. Häufig würden die Anzeichen zwar von Einzelpersonen bemerkt, doch zu selten in verantwortungsvolles Handeln umgesetzt. Sachs und Schmidt sprechen sich daher für interdisziplinäre Anlaufstellen wie z.B. das Berliner „Leaking Projekt“ aus. Zudem kritisieren sie eine Berichterstattung, welche dem Täter viel Beachtung schenkt und seinen Lebenslauf romantisiert, während die Opfer und ihr Leid eher ausgeblendet werden, was bei entsprechend veranlagten Jugendlichen zu einer Idolisierung der Täter_innen führe. Bei ihren Anregungen für ein gutes Schulklima und für eine Verringerung des Drucks auf Jugendliche ahnen die Autoren wohl selbst, dass sie allenthalben an der Oberfläche gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen kratzen.

Die Psychologen warnen ferner vor einer „emotionalen Wohlstandsverwahrlosung“, in welcher Kinder mit materiellen Dingen überhäuft werden, jedoch nicht in vertrauensvollen Beziehungen von ihren Eltern getragen werden. Diese sollten sich Zeit nehmen, nicht zuletzt, um sich mit der Mediennutzung ihrer Kinder vertraut zu machen, kritische Internetinhalte offen zu besprechen und den Wert von Privatsphäre zu verdeutlichen. Im Hinblick auf den komplexen Auftrag der Schulen fällen die Autoren ein klares Plädoyer für die Vermittlung sozialer Kompetenzen: „Pisa-Studien dürfen nicht dazu führen, die humanistische Bildung im Grunde abzuschaffen und durch simples Wissen zu ersetzen.“ Hier fehle es einmal mehr zu oft an Vertrauen stiftenden Beziehungen und an Möglichkeiten, lernschwache Schüler besser zu fördern und zu integrieren.

Therapeutische Erfolge bei psychisch erkrankten jugendlichen Gewalttäter_innen bauen den Autoren zufolge ebenfalls auf einer belastungsfähigen Beziehung auf, in welcher dem Täter einerseits seine Tat wiederholt vor Augen geführt wird, andererseits Verantwortung und Empathie erlernt werden sollen. Dass es dabei nicht um sinnfreies „Nachplappern“, sondern um die Entwicklung eines tieferen Unrechtsbewusstseins geht, machen Sachs und Schmidt unmissverständlich klar, und liefern auf rund 200 Seiten erstaunlich viele Anregungen für thematische Vertiefungen bei anderen Autoren.

„Faszination Gewalt – Was Kinder zu Schlägern macht“ ist ein wohl mit Bedacht provokant angelegter Titel, der die Hoffnung auf einfache Antworten wecken mag. Josef Sachs und Volker Schmidt gelingt es in ihrem Einführungsband, von Jugendlichen verübte Gewalt differenziert und in nüchternem Tonfall darzustellen und die Motive der Täter_innen sowie gesellschaftliche Antworten sachlich zu hinterfragen. Leider unterscheiden sie nicht zwischen Aggression und Gewalt, und auch der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln wird sprachlich nicht klar gezogen. Diese Uneindeutigkeit verstärkt die Frage, ab wann Jugendliche für ihr zerstörerisches Handeln wie weit verantwortlich sein können. Nüchtern formuliert sind auch die konkreten Ratschläge, um Jugendgewalt einzudämmen. Dabei wird deutlich, dass ein Hin- und Herschieben von Verantwortung zwischen verschiedenen Institutionen Gewalt ebenso begünstigt wie ein Zurückweichen vor komplexen Herausforderungen. Ermutigende Erfahrungen zur Bildung verantwortungsvoller junger Menschen gibt es genug – vielleicht sollte statt Ängste schürender Berichterstattung mehr darüber geschrieben und diskutiert werden.

Thor Joakimsson

Skogtatt

Ulrike Serowy
Skogtatt
Illustrationen von Faith Coloccia
Hablizel 2013
60 Seiten
16,90 Euro

skogtattEs ist im tiefsten Wald. Es ist im tiefsten Winter. Und es ist sehr, sehr kalt. Eine Gruppe Black-Metal-Musiker beendet ihre Bandprobe in einer einsamen Hütte über einem Fjord. Sie verteilen sich auf drei Autos und fahren in getrennten Richtungen davon. Nur der Gitarrist sitzt allein in seinem Wagen und sucht sich seinen Weg durch die verschneite Landschaft. Doch die Strecke ist lang, und noch vor dem nächsten Dorf bleibt das Auto liegen. Als er feststellt, dass auch sein Telefon keinen Empfang hat, beschließt der junge Mann, seinen Weg durch den Winterwald zu Fuß fortzusetzen.

So beginnt Ulrike Serowys Novelle, die kurz, aber eindrucksvoll ein Portrait nicht nur des jungen Musikers und seines Weges in den Wald, sondern auch ein Stimmungsbild des Black Metal entwirft, ohne diesen explizit bei Namen zu nennen. Dass das Buch überhaupt auf sechzig Seiten kommt, liegt zum einen an der zweisprachigen Aufmachung (der Text ist einmal in Deutsch und einmal in Englisch abgedruckt) und zum anderen an den zehn darin enthaltenen, künstlerischen Illustrationen. Ebenso kunstvoll ist der Einband aus grobem und ungebleichtem, geprägtem Karton, der einen Eindruck vom rauen skandinavischen Wald entstehen lässt.

Beeindruckend ist jedoch auch die Sprache, mit der sowohl Landschaft als auch Gedanken dargestellt werden, und die einen Einklang von schroffer Natur und gewaltiger Musik widerspiegelt, wie er sich im Denken des einsamen und immer weiter abdriftenden Wanderers manifestiert. Sinnierend über seine romantisierende Liebe zur Natur und seinen Hass auf die Menschen, deren geistige Fähigkeiten er als unnatürlich empfindet, verstrickt er sich in eine grandiose Unlogik, die ihn vergessen lässt, dass es doch gerade der Geist ist, der Menschen dazu befähigt, Instrumente zu bauen, Musik zu produzieren, und nicht zuletzt auch den Weg aus einem bedrohlichen Wald zu finden.

Wer des Norwegischen mächtig ist, kann sich den Titel des Buches mit „vom Walde genommen“ übersetzen. Hinten im Einband wird der Begriff „skogtatt“ als eine Anlehnung an „bergtatt“ – „verzaubert, gefesselt, gebannt und: von Unterirdischen in den Berg gelockt“ erklärt. Wie sehr die Natur, deren Bilder und Klänge, den Musiker in Bann geschlagen haben, beschreibt die junge Autorin mit messerscharf gesetzten Worten, deren Impressionen ihre Wirkung nicht verfehlen. Das mag für manche zuviel des Guten sein, aber wer sich, unabhängig vom Musikgeschmack, darauf einlassen kann, wird sich auch dem Sog, den dieses Buch ausübt, kaum entziehen können.

Der Schnee, der den Boden bedeckte, leuchtete nicht mehr, sondern war papierweiß, bleichweiß, knochenweiß. Der fallende Schnee fauchte und rauschte und trommelte auf ihn ein, der Frost riss mit aller Gewalt an seiner Haut, Nase und Ohren waren voller dicker weißer Flocken, so dass er zu ersticken glaubte wie in einem zerrissenen Federbett, auch sehen konnte er nichts mehr, kaum noch etwas, nur noch weiß, weiß, und zwischen den fedrigen Stieben hin und wieder die schwarze Schattenwand, auf die er zulief, denn der Weg krümmte sich und führte ihn an einer dichten, dunklen Tannengruppe vorbei, oder mitten hinein?

Letztendlich können Menschen, die Stil und Ästhetik des Black Metal grundsätzlich für bis ins Alberne gehend pathetisch finden, ihre Ansicht in diesem Buch ebenso bestätigt finden wie Anhänger_innen dieser Musik, die das Naturgewaltige und abgrundtief Schöne daraus erklingen hören mögen. Unberührt lässt es eine_n auf keinen Fall.

Gabi Vogel

Die Identitären

Kathrin Glösel, Natascha Strobl, Julian Bruns
Die Identitären – Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa
Unrast Verlag 2014
263 Seiten
16 €

978-3-89771-549-3Die Entstehung der Identitären Bewegung in Europa muss als eine Anpassung an die rechtlichen Sanktionen gegen rechtsextreme Organisationen und die gesellschaftliche Situation in Frankreich gesehen werden: der französische bloc identitaire wurde 2003 in Reaktion auf das Verbot der neofaschistischen Unité radicale (UR) 2002 gegründet. Die „Bewegung“ orientiert sich inhaltlich an Denkern der Neuen Rechten. Mit dem Begriff der „Neuen Rechten“ wird jener Teil des rechten Lagers gefasst, der sich ideologisch an der Konservativen Revolution orientiert und als Gegenbewegung zu den „Ideen von 1968“ versteht. Man lehnt den demokratischen, parlamentarischen Staat zugunsten einer autoritären und homogenen Staatsform ab und spricht sich gegen Individualismus und Menschenrechte aus. Durch eine „Kulturrevolution von Rechts“ sollen die eigenen Inhalte diskursfähig gemacht und die „kulturelle Hegemonie“ erlangt werden. Um diese Ziele zu erreichen, werden eine Abkehr von Praxis und eine Beschränkung auf Metapolitik propagiert. Mit Bezug auf Personen aus dem nationalrevolutionären Lager der 20er und 30er Jahre und deren Interpretation von Philosophen wie Nietzsche und Heidegger wird ein „Dritter Weg“ propagiert. Dieser sollte historisch eine Alternative zu kommunistischer, liberaler und klassisch konservativer Politik darstellen. Die Inszenierung als Jugendbewegung ist für die Identitäre Bewegung zentral. Auf der einen Seite rekrutieren sich ihre Mitglieder – im Besonderen in Österreich – vor allem aus dem studentischen, burschenschaftlichen Milieu. Auf der anderen Seite werden aus einer vermeintlichen „Jugendlichkeit“ die Legitimität der eigenen Position sowie eine besondere Einsicht in gesellschaftliche Problematiken abgeleitet.

Für die Neue Rechte ist der Anspruch, nicht rassistisch zu sein, zentral. Man habe sich von einem biologistischen Rassismus ab- und dem Ethnopluralismus zugewendet. Bei diesem wird im Kern von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit nationaler wie regionaler „Volksgruppen“ ausgegangen. Regionale Identitäten in kleinen, homogenen Einheiten sind dabei das positive Gegenbild zur multinationalen, multikulturellen Einheitskultur. Die angestrebten kulturellen Gemeinschaften spiegeln dann ein Bedürfnis nach Identität und Homogenität wider, aus denen Differenz, Konflikt und Veränderung verbannt werden. Außerdem wird die angestrebte Kultur re-biologisiert, in dem unterschiedliche kulturelle Entwicklungen von Völkern auf die jeweilige „genetische Basis“ – begründet durch fragwürdige wissenschaftliche Befunde – zurückgeführt werden.

Für Leser_innen, die einen Einblick in die Bewegung der Identitären gewinnen wollen, ist das Buch von Bruns, Glösel und Strobl sicher ein guter Einstieg. Allein durch seine Fülle an Material und die Einführungen in einige der zentralen Begrifflichkeiten der Neuen Rechten, stellt es einen guten Anfangspunkt für eine Auseinandersetzung mit diesem Teil der europäischen rechtsextremen Szene dar. Im ersten Abschnitt wird eine Einleitung in die Diskussionen um Begriffe wie „Rechtsextremismus“ und „Neue Rechte“ geliefert, die Entwicklung der Neuen Rechten nachvollzogen und das historische Vorbild dieser – die Konservative Revolution – dargestellt. Im zweiten Abschnitt folgen eine große Materialsammlung zu den länderspezifischen Ausprägungen und dem publizistischen wie politischen Umfeld (vor allen Dingen im deutschsprachigen Raum) der Bewegung. Im dritten Teil des Buchs werden die zentralen ideologischen Bezugspunkte der Neuen Rechten sowie ihre politischen Strategien erläutert.

Problematisch ist das Buch jedoch in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist es ärgerlich, wenn die Lektüre dadurch erschwert wird, dass das Buch von Formatierungs- und Grammatikfehlern durchzogen ist. Auch hat man in sprachlicher Hinsicht den Eindruck, eine wenig überarbeitete Seminararbeit von Studierenden in der Hand zu halten. Dies sorgt dafür, dass Gedankengänge und Zusammenhänge immer wieder wenig nachvollziehbar sind. Zum anderen weist das Handbuch einige inhaltliche Lücken auf. Zugute muss man den Autor_innen halten, dass auf diese teilweise in der Einleitung hingewiesen wird. Trotzdem muss sich fragen lassen, wieso eine der zentralen Bezugsperson der Identitären Bewegung – Aleksandr Dugin – nicht behandelt wird. Dessen Werk würde eine exemplarische Auseinandersetzung mit den Inhalten der „Bewegung“ bieten und sich des Weiteren wichtige Netzwerke und Bezugspunkte darstellen lassen. Außerdem sind die verwendeten Begrifflichkeiten im Handbuch wiederholt ungenau. Auch wenn zuerst die Begriffe der „Neuen Rechten“ sowie „Rechtsextremismus“ ausführlicher diskutiert werden, wird später der Begriff „identitär“ für Organisationen verwandt – ein Begriff, der an keiner Stelle eingeführt wird und somit ungenau bleibt. Außerdem bleiben die länderspezifischen Differenzen der Organisationen wenig beleuchtet.

Florian Franke

Go Ost!

Alexander Pehlemann
Go Ost! Klang – Zeit – Raum. Reisen in die Subkulturzonen Osteuropas
Ventil Verlag 2014
224 Seiten mit CD
24,90 €

Manfred Schwartz, Heike Winkel, Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.)
osteuropa (Heft 11-12 / November-Dezember 2013)
Auf einen Zug – Anpassung und Aufbruch: Jugend in Osteuropa
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde
216 Seiten
20,00 €

go_ostAlexander Pehlemann, Herausgeber des enzyklopädisch inspirierten Fanzines Zonic, legt hier eine streng subjektive Darstellung seiner Reisen in die osteuropäischen Länder vor. Es gibt Kapitel zu Polen, der Ex-CSSR, Russland/Sowjetunion, ein extra Kapitel zum Baltikum, einen Beitrag über Ungarn, (ex-)Jugoslawien, zu Bulgarien und Rumänien. Jedes Land wurde vom Verfasser mehrmals (seit den späten 80ern bis heute) besucht, besonders in der letzten Zeit hatte er Gelegenheit, Protagonist_innen der Szene zu interviewen und seine Tonträgersammlung wachsen zu lassen. Die größte Rolle spielt dabei Punk und New Wave, aber auch Industrial, Reggae oder Avantgarde aller Art interessieren den Reisenden. Auf jeder Seite finden sich etwa zehn Hinweise, Bandnamen, Referenzen und Festivals, weshalb es sich für die Leser_innen empfiehlt, parallel zur Lektüre einen Youtube-Kanal zu öffnen, um nicht wie in einem Schnellzug an den ganzen Sehens- und Hörenswürdigkeiten vorbeizurasen. Zusätzlich gibt es zwischen den Kapiteln von Subkulturjournalist_innen, Kulturschaffenden und -aktivist_innen zusammengestellte und kommentierte Musik-, Ereignis- und Ortslisten. So wird der einerseits persönliche und andererseits umfassende Blick dieses – hier benutze ich das Wort mit vollem Bewusstsein – Werkes um zahlreiche weitere Sichten ergänzt.

2013_11_12_JugendEinen weiter gefassten Einblick in diesen Themenbereich, der nicht nur Subkulturen betrifft, gibt die Ausgabe der Zeitschrift osteuropa über Jugend in Osteuropa. Der Band befaßt sich mit kulturwissenschaftlichen und soziologischen Fragen, nur wenige Texte sind Reise- oder Augenzeugenberichte. Diese tiefergehende Sicht auf spät – und postsozialistische Jugend in den Ländern des ehemaligen Ostblocks ermöglicht Einsichten in Phänomene, die bisher wenig oder gar nicht beschrieben worden sind. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Vorkuta, entstanden aus einem Gulag, mit ihrer regen und als authentisch empfundenen Punkszene.

Ebenso wie genaue Szenebeobachtungen sind analytische Überblickstexte enthalten, die sich mit Entwicklungen gesellschaftlicher Phänomene wie der Jugendmobilisierung in Rußland oder der Situation der jungen Generation in Weißrussland befassen. Das Buch ist eine Fundgrube für alle Osteuropa- und Jugendkulturinteressierten, die hier viel Aktuelles und so einiges über die Jugend- und Subkulturen in der Vergangenheit erfahren.

Dazu passend finden in naher Zukunft einige vielversprechende Veranstaltungen in Leipzig und Wien statt:

Am 5.11., 20 Uhr im naTo in Leipzig:
1984! Kunst & Subkultur: Leipziger Herbstsalon, „Hungary can be yours“ und die Neue Slowenische Kunst

Am 6. und 7.11. an verschiedenen Orten in Wien:
Konzerte anlässlich der 100. Ausgabe des österreichischen Musikmagazins Skug

Peter Auge Lorenz

Black Metal

Dayal Patterson
Black Metal – Evolution Of The Cult
Feral House 2014
484 Seiten
$27.95 (17,95 €)

black-metalGroßkotzig präsentiert der amerikanische Verlag Feral House ein (englischsprachiges) Buch, das als neues Standardwerk in Sachen Black Metal gelten soll. Auf dem Einband ist nicht nur fälschlicherweise von knapp 600 Seiten die Rede, sondern auch davon, dass Black Metal „die extremste Form von Musik ist, die ihre Hörer bei lebendigem Leib verspeist“. Klappern gehört also auch hier zum Handwerk, allerdings widmet sich der Autor Dayal Patterson trotz des fragwürdigen Untertitels mehr als nur einer mythischen Nacherzählung von Krach und Verbrechen im schwarzmetallischen Untergrund.

Der u. a. für Terrorizer und Metal Hammer schreibende Journalist hat zahlreiche Musiker persönlich befragt und liefert in seinem ansprechend strukturierten Wälzer auch unveröffentlichte Interview-Passagen, die es nicht in die jeweiligen Magazine geschafft haben. Das liegt vor allem daran, dass Patterson tatsächlich so sehr ins Detail geht, dass selbst Szene-Kenner mitunter noch staunen mögen. In dieser Hinsicht liefert Black Metal – Evolution Of The Cult zahlreiche Informationen aus erster Hand, wenn auch teilweise im arg mildernd gefärbten Rückblick. Da wird schon mal ein Mord fast damit gerechtfertigt, dass das homosexuelle Opfer den jungen Täter mit seiner Anmache so bedrängt habe, dass sich dieser kaum anders zu helfen wusste als ihm mit 37 Messerstichen und anschließenden Tritten gegen den Kopf das Leben zu nehmen.

Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf den hinlänglich bekannten Bands und ihren Umfeldern, wobei gerade Mayhem viel Raum zugestanden wird, doch auch Darkthrone und Burzum werden ausführlich gewürdigt und mit ihnen die Hinwendung zum Achtziger-Metal und -Punk auf der einen, sowie zum Rechtsextremismus auf der anderen Seite. Daneben kommen nicht nur Gründerväter des männlich dominierten Genres zu Wort, sondern auch Vertreter radikaler Interpretationen von Black-Metal-Ethos und -Underground. Patterson vertraut hier auf die kritische Urteilskraft seiner Leser_innen und hält sich mit moralischen Wertungen weitgehend zurück. Dass Black Metal keine Sackgasse für die persönliche und künstlerische Entwicklung darstellen muss, belegen etliche Musiker, die neue Visionen entwickeln und ungewöhnliche Richtungen einschlagen. Hier fehlen allerdings auch markante Protagonisten wie Solefald, welche Black-Metal-Tradition mit dem in der Szene gemeinhin kaum Vorstellbaren verbinden.

Gleichwohl das Buch plakativ in Szene gesetzt wird, reiht es sich nicht in die überflüssigen Veröffentlichungen zur Metal-Geschichtsschreibung ein. Patterson genießt das Vertrauen seiner Gesprächspartner, fragt konkret nach und geht in die Tiefe. Das resultiert nicht zuletzt in Widersprüchen, Plattitüden und ideologischer Propaganda. Es besteht insofern kein Zweifel, dass die Musikszene eine Plattform bleibt, die von Narzissten mit übergroßem Ego ebenso wie von politischen Extremisten für ihre eigenen Zwecke genutzt bzw. missbraucht wird. Andererseits wird auch deutlich, mit welcher humorvollen oder selbstkritischen Wahrnehmungen einige Akteure heuer aufwarten. Wer also vielschichtige Einblicke in die Hintergründe gewinnen möchte, die nicht nur in der Tat Erschreckendes, sondern auch erschreckend Banales und allzu Menschliches beinhalten, der wird hier in epischen Ausmaßen fündig.

Thor Joakimsson

Die Nacht ist Leben

Sven Marquardt
Die Nacht ist Leben
Ullstein 2014
14,99 €
224 Seiten

9783864930256_coverSven Marquardt ist vielen bekannt als der Mann mit dem tätowierten Gesicht und der gepiercten Unterlippe, der die Tür des Berliner Clubs Berghain bewacht. Nun hat er im besten Alter von 52 Jahren seine Autobiographie vorgelegt, die unter Mitarbeit der Berliner Autorin Judka Strittmatter, einer Enkelin des Schriftstellers Erwin Strittmatter, entstanden ist. Der größte Teil des Buchs handelt von Marquardts Leben in der DDR und zu einem Drittel von der Zeit ab 1990 bis zur Gegenwart. Mit „wir lebten in ´Grenzen frei´“ charakterisiert Marquardt ziemlich am Anfang des Buches sein Außenseiterdasein in der DDR. Seine Anekdoten gewähren nicht nur einen Einblick in seine persönliche Geschichte, sondern auch in die Nischen und Freiräume, die sich in der DDR von den jugendlichen Unangepassten aneignen ließen. Die Erzählung setzt im Kindesalter an, als die Scheidung seiner Eltern ihm den ersten „dramatischen Einschnitt“ bescherte. Sie berichtet auf den folgenden Seiten vom Umherschweifen in der Stadt und Altstoffe sammeln, von jugendlichen Erfahrungen als „Frischfleisch auf dem Schwulenmarkt“ und als Punk und Wohnungsbesetzer im Prenzlauer Berg, von Psychatrieaufenthalten und einigem mehr. Ein Großteil der im Buch abgebildeten Fotos stammen von Marquardt selbst. Die Kamera hat den gelernten Fotograf schon seit seiner Jugend begleitet und wesentliche Momente seines Lebens festgehalten.

In der ersten Hälfte der 90er spielt sich sein Leben in der boomenden Berliner Clubszene ab. Es geht um Drogen, Techno und wie zu erwarten: Tattoos und Piercings. Man erfährt wie er zu seinen Gesichtstätowierungen gekommen ist und merkt, dass der wirklich spannende Teil des Buches schon hinter einem liegt. Ab Mitte der Neunziger beginnt Marquardts Arbeit als Einlasser, die ihn bis an die Tür des Berghains führt.

Die Stimmung dieser Autobiographie ist wie seine Bilder eher melancholisch, jedoch ohne schwarz-weiß daherzukommen. Sie hält viel Interessantes bereit und lebt eindeutig von den Beschreibungen der DDR und ihrem Untergrund, worüber man noch so viel mehr erfahren möchte. Mitunter, besonders gegen Ende, hat es seine Längen. Trotzdem: An Sven Marquardt kommt keiner so leicht vorbei. Wer etwas über dessen Herkunft und den subkulturellen DDR-Alltag der 80er erfahren möchte, sollte dieses Buch zur Hand nehmen und lesen.

Jakob Warnecke

Kein Weinfest in Tenever

Dirk T.
Kein Weinfest in Tenever – Eine Bremer Geschichte
Trolsen Verlag 2013
220 Seiten
12,90 €

Kein WeinfestIch-Erzähler Dirk wächst im Bremer Stadtteil Osterholz-Tenever auf und beschreibt seine Jugend als Werder-Bremen-Hooligan. Zündender Funke für den kleinen Dirk, Kind von Mittelschichteltern und durchaus nicht perspektivlos aufwachsend, ist die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 – ein Großereignis für die ganze Familie:

„Nachdem Neeskens den Ball mit voller Wucht in die Maschen gehämmert hatte, wurde nach kurzen Unmutsäußerungen die Stimmung schnell wieder besser, als von Papa für alle ein neues Bier geöffnet wurde und von Onkel Heinzi ‚Bomben auf Amsterdam‘ angestimmt wurde.“

Etwas später lernt der Erzähler die Welt des runden Leders auch bei Stadionbesuchen mit seinem Vater und beim eigenen Fußballtraining kennen. Als Elfjähriger ist er schwer beeindruckt von der ersten Prügelei unter Fans verschiedener Vereine, und mit 13 trinkt er sich mit Schulfreunden zu Sylvester seinen ersten Vollrausch an. Damit sind dann auch die Eckpunkte der biografisch anmutenden Erzählung umrissen.

Fußball an sich ist hier eher Nebensache. Spiele werden oft mit Verspätung besucht oder vorzeitig verlassen – viel wichtiger scheint es, den gegnerischen Fans aufzulauern, um sich gegenseitig zu verprügeln. Und natürlich, sich vor und nach den Spielen gnadenlos zu besaufen. Zu diesem Zweck geht es auch immer wieder auf Reisen, vor allem zu Auswärtsspielen. Eine interessantere Ausnahme hier ist die Begegnung mit einem „Groundhopper“ der mangels ernstzunehmenden Heimatvereins (er kommt aus Bad Schwartau) eine Leidenschaft dafür entwickelt hat, möglichst viele Stadien auf der ganzen Welt zu besuchen. Die gelungenste Episode ist jedoch die Beschreibung einer Englandfahrt, auf welcher der Erzähler zwar letztlich weder das angestrebte Fußballspiel besucht noch den Louvre findet, den er in London vermutet, dafür aber Sympathien für einen englischen Bobby entwickelt, dessen deutsche Kollegen dem jungen Dirk im Allgemeinen nicht sehr freundlich gesonnen sind. Und auch Frauen tauchen hin und wieder in seinen Erzählungen auf, erscheinen aber eher als Trophäen, die man meistens nicht kriegt, oder die nicht allzu lange bleiben.

Kein Weinfest in Tenever liest sich als eine Fortsetzung oder Ergänzung von Ostkurve, dem ersten Buch des Autors. Der vorliegende Band bietet jedoch in erster Linie die Innensicht einer Fußball-zentrierten Männermonokultur, in der ausdauerndes Lamentieren über das eher geringe Interesse an und Verständnis für die Hooligans von Seiten junger Frauen ebenso zum Alltag gehört wie die Sorglosigkeit gegenüber Jobverlust und kleinkriminellen Aktivitäten.

Leser – und es dürften in erster Linie männliche Leser sein, die dieses Buch anspricht – die selbst in ihrer Jugend ähnlich Fußball-bewegt waren (oder es noch sind), werden sicherlich ihre Freude an diesem Band haben, denn wer das alkoholbeflügelte Fan-Dasein selbst erlebt hat, kann die Begeisterung nachfühlen. Für alle anderen erscheint die Lektüre vielmehr als eine Art persönliche Dokumentation einer verschwendeten Jugend, da der Ich-Erzähler am Ende, nach all den Jahren und trotz abgeschlossenen Studiums, als alleinstehender Mann ohne berufliche Perspektiven durchs Leben trudelt und nicht einmal die Ansichten seines Kumpels, der den bevorzugten Fußballverein als seine „große Liebe“ und eine Art Ersatz für Freundin, Familie und alles andere sieht, so recht teilen mag.

„[…] Die beste Frau ist eben immer noch der Verein! Glaub’ mir das. Der Verein ist immer da, egal, ob du reich und berühmt bist oder in der Gosse hängst. Egal, ob er Champions League spielt oder dritte Liga“
Die Getränke wurden vor uns hingestellt.
„So ein Blödsinn kannst auch nur du erzählen! Der Verein ist immer für dich da! Was für ein Schwachsinn! Und wenn ich mal ficken will, was mach ich dann? Dann frag ich Tim Borowski, ob er mal Zeit hat, oder was? Ich will nicht mit Tim Borowski ficken! Außerdem will ich mir meine Freundin nicht mit Tausenden anderer Idioten teilen. Wir haben heute alleine zwanzigtausend Dauerkartenbesitzer, wusstest du das?“, stellte ich besorgt fest, während ich einen besonders großen Schluck Ice Tea durch meinen Strohhalm saugte.
„Dirk, vergiss es einfach! Du kapierst es nicht! Die Liebe zum Verein ist doch nicht zu vergleichen mit der zu einer Frau. Es geht hierbei doch gar nicht ums Ficken, sondern um Dauerhaftigkeit! Nein, um Ewigkeit! Ewige Treue gibt es nur zu deinem Verein. Verstehst du, was ich meine? Oder warst du schon mal einer Freundin ewig treu?“, wollte Terry wissen.
„Ist ja gut! Lass uns einfach über was anderes reden!“

Gabriele Vogel