Was ist eigentlich queer? Kann ein Mensch „queer sein“ und wenn ja, dann wie? Und was soll das Ganze überhaupt? Im Deutschen erinnert es bestenfalls an quer, was weder sonderlich negativ noch positiv besetzt ist, ein bisschen sperrig vielleicht, aber nicht weiter schlimm.
Queer ist ein Modebegriff, ein Schlagwort, eins dieser unzähligen Anglizismen, von denen kaum jemand zu wissen scheint, was konkret dahinter steckt. Queer macht es uns aber auch besonders schwer. Denn es verweigert sich einer klaren Definition. Was fangen wir also damit an?
Eins schon mal vorneweg: Um der sprachliche Monstrosität LSBTI… zu entgehen, die so unaussprechlich wie verzweifelt um politische Korrektheit bemüht ist, wird queer im Deutschen immer häufiger als eine Art Platzhalter eingesetzt, für lesbisch, schwul, bi-, trans-, intersexuell, neuerdings auch ein A für die Asexuellen, die vielleicht überhaupt nichts mit Sex zu tun haben wollen, ein P für die polyamore Fraktion, für die Zweierbeziehungen kaum attraktiv sind, oder ein K für jene aus dem „kinky“ Spektrum, sprich: SM- und Fetisch-Bereich. Aber letztlich geht es gar nicht um das Aufzählen der 43 046 721 unterschiedlichen Sexualtypen, wie sie Magnus Hirschfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts errechnet hat, als vielmehr darum, einen Begriff zu finden für all diejenigen, die sich den normierenden Zwängen unserer Gesellschaft – in diesem Fall der heterosexuellen Matrix – nicht einfügen können oder wollen.
Sich den normativen gesellschaftlichen Zwängen entziehen? Das klingt doch vertraut für alle, die sich mit Jugendkulturen und Subkulturen jeglicher Art beschäftigen. Aber dazu kommen wir später noch. Zuerst stellt sich die Frage, wo der Begriff queer sprachlich und kulturell hergekommen ist. Queer war nämlich ursprünglich eine nicht gerade freundliche Bezeichnung aus dem englischen bzw. amerikanischen Sprachraum.
Schimpfwörter umzudrehen und als Selbstbezeichnung zum identitätstragenden Kampfbegriff zu erheben – das funktioniert gelegentlich im Englischen, so geschehen mit „Punk“ als Subkultur oder dem „Slut-Walk“ als Protestform. Im Deutschen war das bislang weniger erfolgreich. Würde hier eine sagen, dass sie zum „Schlampenspaziergang“ geht? Oder sich ein Irokesenträger stolz als „Quatsch“ bezeichnen? Ebenso hat der Begriff „schwul“ eine eher zwiespältige Karriere hinter sich – bis in die 1990er Jahre außerhalb von Bewegungskontexten eher diskret geflüstert, ist er seit der letzten Entkriminalisierung (männlicher) Homosexualität im Jahr 1994 zwar alltäglich geworden, zugleich aber auch immer weiter in dem alltäglichen Beleidigungskanon von Jugendlichen, ja selbst von Grundschülern aufgestiegen.
Mit „queer“ ist das etwas anderes. Befragen wir leo.org, erhalten wir für „queer“ als Adjektiv „eigenartig, komisch, seltsam, sonderbar“, danach noch „suspekt, verdächtig, verrückt, verschroben, wunderlich, zweifelhaft“ und mittlerweile auch, jedoch erst an 11. Stelle: „homosexuell“. Als Substantiv, allerdings mit der Notiz „slang“, bekommen wir immerhin umgehend die simple Übersetzung „der Schwule“ oder „die Tunte“. Da wir Online-Übersetzungen aber nie so ganz trauen, können wir queer auch noch googeln – und werden dann gleich mit hochkomplexen Ergebnissen erschlagen, mit Queer Theory und Queer Studies, Feminismus und Dekonstruktivismus, Teresa die Lauretis und Judith Butler. Und eben mit der Feststellung, dass der Begriff „queer“ so offen ist, dass er sich im Grunde genommen jeder Definition verweigert.
Wie lässt sich „queer“ also erklären? Um mit einem kurzen Blick in die Bewegungsgeschichte zu beginnen: Die Gay Liberation, also die Schwulenbewegung der 1960/70er Jahre, wurde ebenso wie die damalige lesbisch-feministische Bewegung dahingehend kritisiert, sie würden nur für „ihre Leute“ kämpfen, also wieder die eine oder andere Art von „Wir“-Kategorie bilden und andere Menschen, wie Transidente oder Bisexuelle, ausgrenzen. Also im Prinzip demselben Mechanismus folgen, mit dem der heterosexuelle Mainstream nonkonforme Menschen degradiert. Zudem würden „Nebenwidersprüche“, wie der auch in Bewegungskontexten existierende Rassismus oder Antisemitismus, ausgeblendet. Genau hier setzt die Queer Theory an und bringt dekonstruktivistische Denkansätze ins Spiel: Wenn wir uns scheinbar grundlegenden, angeblich natürlichen Kategorien wie „Frau/Mann“, „homosexuell/heterosexuell“, „schwarz/weiß“ verweigern, diese als sozial oder kulturell konstruiert und damit als künstlich entlarven (und das bestätigen all die transidenten, intersexuellen oder bisexuellen Menschen jeglicher Hautfarbe), dann brauchen wir dafür auch einen neuen Begriff: Hallo, queer.
Das könnte alles ganz einfach und entspannt sein, ist es aber für die meisten Menschen nicht, da sie gewohnt sind, in Kategorien zu denken und damit eine Sicherheit in der Wahrnehmung ihrer Umwelt zu erhalten. Nur so als Beispiel: Küssen sich zwei langhaarige Menschen in Kleidchen und Stöckel auf offener Straße, so löst das bei manch einem heterosexuellen Mann vielleicht noch erotische „Flotter-Dreier“-Fantasien aus, solange er die beiden für Frauen hält. Stellen sich die zwei Küssenden jedoch als Männer in Drag heraus, möchte der Hetero schon nicht mehr so gerne in der Mitte liegen. Sind es aber womöglich zwei Transsexuelle, sind die dann jetzt schwul oder lesbisch? Stöckelt einer dieser beiden Menschen später nach Hause zu Frau und Kind, ist es dann doch ein bisexueller, polygamer Transvestit oder gar eine untreue Femme mit per Bechermethode gezeugtem Kind und toleranter Partnerin? Und sollte diese dann Hosen und Kurzhaarschnitt tragen? Und, für den Vertreter der hegemonialen Männlichkeit vielleicht am allerschlimmsten: Wie kommt das Kind damit zurecht? Das womöglich aufgrund der Samenspende eines hilfsbereiten schwarzen schwulen Freundes auch noch eine dunklere Hautfarbe hat? Oder hat sich bei der oben beschriebenen Szenerie jemand eine_n der Küssenden als schwarz vorgestellt? Und überlegt, dass dann noch mal ganz andere normative Maßstäbe angelegt werden? Wäre der Mainstream queer, wäre das alles nicht weiter hinterfragenswürdig: Sollen sich doch alle lieben, wie sie wollen.
Wer sich jetzt zurücklehnt mit dem Gedanken: „DAS ist doch alles total konstruiert! Flirten jetzt schwarze Transen mit weißen Skinheads oder wie? Das gibt es doch alles gar nicht, das hab ich ja noch nie gesehen?“ Doch, natürlich gibt es das. Auch außerhalb der CSD-Paraden, dann aber vielleicht eher nicht auf offener Straße, weil die Reaktionen von stumpfem Anstarren über dumme Sprüche bis hin zu handfester Gewalt praktisch schon vorprogrammiert sind. In unserer „westlichen“ Gesellschaft (und nicht nur in dieser) ist schnell die Kategorie „unnormal“ oder „krank“ zur Hand, um Unbekanntes in stigmatisierender und diskriminierender Weise abzufertigen.
Also treffen sich Queers in ihrer eigenen Subkultur, so wie Punks beim Slime-Konzert oder Skinheads beim Ska-Nighter? Ganz so einfach, sorgfältig getrennt und kategorisierbar ist das wieder nicht – sonst hätten Subkulturforschende auch nichts mehr zu forschen.
Die Idee von einer queeren Subkultur ist eine Konstruktion, die auf den ersten Blick nicht viel mit altbekannten Subkulturformationen zu hat. Queere Menschen haben nicht unbedingt einen durchgängig erkennbaren Kleidungsstil, einheitlichen Musikgeschmack oder gemeinsamen sozialen Hintergrund. Es handelt sich auch nicht um eine klassische Jugendkultur, wenngleich die Präsenz in der Öffentlichkeit – sei es auf dem CSD oder im Nachtleben – häufig von Menschen bestimmt wird, die relativ jung sind oder zumindest versuchen, jugendlich zu wirken.
Es existiert also keine singuläre und uniforme queere Subkultur. Stattdessen gibt es zahlreiche und vielfältige queere Szenen, die sich vor allem in größeren Städten konzentrieren. Sie bewegen sich im Umfeld von Veranstaltungen und Orten, von denen manche auch widerständigen politischen Ansätzen verpflichtet sind, und können dann als alternativ oder subversiv bezeichnet werden. Oft gehen sie aber auch mit den Normen und Werten der Mainstream-Kultur konform, und so kann ein homosexueller Szene-Lebensstil auch mit einer neoliberalen oder konservativen politischen Grundeinstellung vereinbar sein.
Aber ganz abgesehen davon, dass die queeren Szenen so vielfältig sind wie die Geschlechter und Orientierungen ihrer Vertreter_innen, kommt es auch zu Überschneidungen, mit denen auf Anhieb vielleicht nicht zu rechnen war. Postsubkulturelle Ansätze berücksichtigen unter dem Stichwort „Lifestyle“ oder „Szene“ eher die fließenden Übergänge und flexiblen Identitäten der queeren Gruppierungen, ohne eine Subkulturzugehörigkeit als oberflächlich oder beliebig abzuwerten. Idee und Begriff von Subkultur sind damit jedoch nicht ganz hinfällig. Deren bisher begrenzter Rahmen kann weniger eng gefasst werden, und so lässt sich Subkultur in erweiterter Form auch mit Szene oder Bewegung gleichsetzen.
In der Abkehr vom alten, starren Subkulturmodell und ganz besonders im Hinblick auf Gender und sexuelle Identität kann dieses zeitgemäßere Modell zudem unter dem Aspekt der Performativität, wie ihn Judith Butler eingeführt hat, betrachtet werden. Demnach sind alle – auch subkulturelle – Identitäten zutiefst instabil, und die Parodie dient als Mittel zur Unterwanderung vermeintlich stabiler Strukturen, wie die Beispiele des Gay Skinhead als hypermaskuline und der Lipstick Lesbian als hyperfeminine Parodie heterosexueller Stile zeigen. Diesem Denkansatz folgend stehen subkulturelle Identitäten nicht in vorgefertigter Form zur Verfügung, sondern sind als Konstruktionen zu betrachten, die durch stete Wiederholung alltäglicher Handlungen immer wieder reproduziert werden.
Wenn Subkulturzugehörigkeiten heute nicht mehr als voneinander abgegrenzt angesehen werden können, sondern als fließend und untereinander kompatibel, dann ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass sich der Gay Skinhead und die Lipstick Lesbian zum Beispiel auf einem Ska-Konzert treffen, ohne deplatziert oder gar verfeindet zu wirken. Abgesehen vom gemeinsamen Musikgeschmack – wer jemals im TV-Vorabendprogramm durch Kochshows gezappt hat, kennt diesen eingängigen Musikstil, er wird am häufigsten als Hintergrundbeschallung eingesetzt – können beide, auch in Bezug auf Stil und Konsumverhalten, nicht als widerständig in Bezug auf die dominante Kultur bezeichnet werden. So kann die Schuhsammlung eines Gay Skinhead vom Umfang her schon mal mit der einer Lipstick Lesbian mithalten. Ebenso wird die erwartete Abgrenzung zum anderen subkulturellen oder zum dominantkulturellen Stil nicht erfüllt, was die Auswahl der Marken und Modelle angeht. Beider Schuhschränke enthalten ganz ähnliche Produkte von Modemarken, die sowohl im Mainstream als auch subkulturell anerkannt sind – schicke Doc Martens-Stiefel für das Konzert, sportliche Chucks für die restliche Freizeit und die bequemen trendy Birkenstöcker für die Entspannung zu Hause.
Trotz aller Begeisterung für Musikkonsum und Shopping können sich queere Szenen auch als politische Gegenkulturen erweisen. In postsubkulturellen Ansätzen erscheinen Szenen zwar oft als hedonistisch und apolitisch, allein in der offenen und konsequenten Widerständigkeit zur heterosexuellen Matrix des Mainstream liegt bei Angehörigen queerer Szenen jedoch bereits genug politischer Sprengstoff. Es ist also legitim, queere Szenen als Formen von Subkultur zu betrachten, auch wenn die Ebene des Widerstands sich nicht in erster Linie auf die Kategorien Musik, Kleidung oder Klasse, sondern auf die der Geschlechtszugehörigkeit bzw. der sexuellen Orientierung bezieht. Und genau darin liegt die Herausforderung, der sich nicht-queere Menschen stellen müssen: Wer queer verstehen will, muss Uneindeutigkeit aushalten können.
Gabriele Vogel
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