Wir Kinder der 90er

Johannes Engelke, Karin Weber, Maren Ziegler, Jacob Thomas
Wir Kinder der 90er.  Alles, was wir damals liebten (und was uns heute peinlich ist)
Goldmann Verlag 2017
206 Seiten
12,00 EUR

The Dream of the 90s is alive

Ob in der Arte-Dokureihe „Welcome to the 90s“, in der US-amerikanischen Comedyserie „Portlandia“ oder als Modetrend in den Berliner Clubs: „The 90s are back “ und sie haben ihren Platz in der popkulturellen Geschichtsschreibung eingenommen. Mit dem Buch „Wir Kinder der 90er“ wollen die Herausgeber*innen nun auch, dass wir einen Platz in unseren Bücherregalen für die 90er freimachen. Dabei geht es in diesem Lexikon über Musik, Mode(sünden), technische Errungenschaften sowie Alltagsgegenständen weniger um eine (pop-) kulturelle oder kulturkritische Kontextualisierung der 90er à la Spex oder testcard, als vielmehr um eine subjektive, scheinbar wahllose Aneinanderreihung von all jenen Dingen, die die Herausgeber*innen damals liebten und die ihnen heute peinlich sind.

Als erster Gegenstand wird der Game Boy beschrieben, gefolgt von dem Bum Bum Eis. Ein stringentes Lexikon von A-Z findet sich hier also nicht, was mich persönlich aber weniger stört und nach meiner Auffassung auch nicht unbedingt zu dem bunten und auch manchmal musikalisch und modisch etwas uneindeutigen Jahrzent der 90er passen würde. Stattdessen sind die ausgewählten Gegenstände der 90er eher nach Beliebheits- oder Bekanntheitsgrad sortiert, das legt jedenfalls der Auftakt mit dem Kultobjekt Game Boy nahe. Gerahmt werden die vorgestellten Gegenstände durch kurze, oft persönliche Texte der Herausgeber*innen, die dabei Einblicke in Familienleben, identitätstiftende Schul-Battles (Lamy vs. Pelikan und Scout vs. McNeill) und Freizeitaktivitäten (Freundschaftsbänder knüpfen, Stickeralben vervollständigen) dieser Kinder der 90er geben.

It was acceptable in the 90s?!

Für mich, ebenfalls ein Kind der 90er, bietet das Buch einen kurzweiligen nostalgischen Ausflug in ein Kaleidoskop verschiedener Kindheits-und Schulzeit-Erinnerungen. Vor allem bestimmte Modesünden von Mitschüler*innen erwachen zum Leben, wie die Kombination des Grauens schlechthin, bestehend aus Helly-Hansen-Jacke, Buffalo-Schuhen und abgerundet durch die berühmt-berüchtigte Schnellfickerhose. Aber auch damals innig geliebte Süßigkeiten, wie die Erdbeerschnüre und das Ed-von-Schleck-Eis sowie heutige technische Kultobjekte, wie die NES- Spielkonsole und das Nokia 3210 Handy mit dem legendären Snakespiel, finden ihren Platz in diesem Buch. Auch wieder in der Versenkung verschwundene Modetrends, wie Henna-Tattoos, Schnapparmbänder, Kangol-Caps und Miss-Sixty-Jeans oder technische (Weiter-)Entwicklungen, wie Mini-Discs, die Telefonkarte und die Showview-Funktion an Videorecordern werden einem beim Durchblättern wieder ins Gedächtnis gerufen. Vermeintliche technische Revolutionen, über die man in Zeiten von Smartphones, Spotify und Netflix nur noch müde lächeln kann.

Es kommt alles wieder

Am Ende gibt es vieles in diesem Buch, das zurecht in Vergessenheit geraten ist. Doch vor allem die Errungenschaften, die dem Zahn der Zeit getrotzt haben und auch heute noch Kultobjekte sind, sowie das Mantra, dass alle Modetrends irgendwann wieder ‚in‘ sind, machen dieses Buch zu einem amüsanten und kurzweiligen Lesevergnügen.  Und vor allem die Menschen, die ihre Kindheit bzw. Jugend in den 90ern verbracht haben, erwartet hier eine nostalgische Achterbahnfahrt durch die Pop- und Trashkultur dieses Jahrzehnts.  Nostalgiker*innen, die ein Wechselbad der Gefühle von Freude bis Scham gut aushalten können, dürfen beherzt zugreifen, aber auch Trendsetter*innen können dieses Buch als Beweis heranziehen, dass wirklich jedes Jahrzehnt sein Mode-Revival bekommt. Vielleicht auch genau die Trends, die uns Kindern der 90er heute immer noch peinlich sind: Ich ganz persönlich hab schon wieder das ein oder andere Tattoo-Halsband an Jugendlichen entdecken können. 

Giuseppina Lettieri

Projektleitung „Diversity Box“, http://www.diversitybox.jugendkulturen.de

Kein Bremen ohne Buchte

Kein Bremen ohne Buchte – Ein Haus schreibt Geschichte(n). 1974-2014 – 40 Jahre „Buchtstraße“
224 Seiten
Bezug über Tel 0421/32 60 22 oder www.die-buchte.de (Richtpreis ca. 10 bis 15 € plus Versand)

Buchte-CoverAls vor einigen Jahren nach dem endlich geglückten Kauf des Gebäudes „Buchtstrasse 14/15“ in Bremen die Grundsanierung mit einem großen Entrümpeln begann, stand die Frage im Raum, was an Dokumenten aus der Geschichte des Hauses aufbewahrt werden sollte. Die Idee eines Buches war schnell geboren. Wer heute das großformatige Buch zur Geschichte von 1974 bis 2014 in den Händen hält, und die vielen unterschiedlichen Beiträge liest, spürt die Kraft, die solch ein Haus hervorrufen kann. Die Buchte hat in Bremen viele geprägt, wenn nicht verändert.

Das Grundkonzept des formal von der Naturfreundejugend Bremen getragenen Hauses blieb über die Generationen gleich: Kinder- und Jugendarbeit, Party, Konzerte, daneben Raum für politische Gruppen. Es sollte ein Platz für Selbstorganisation, ein Ort zum Gestalten, zum Ausprobieren und Lernen sein. Viele, die sich in der Buchte engagierten, spürten, dass ihr Tun Sinn machte, dass sie gebraucht wurden und dass dort in der Regel interessante Leute mit spannenden Ideen anzutreffen waren. Dass es immer ziemlich vollgemüllt aussah und die Haustreffen manchmal ätzend waren, spielte für sie nur eine untergeordnete Rolle. Dies war in den 1970ern, als in der Buchte über sozialistische Erziehung diskutiert, auf einer eigenen Maschine gedruckt und aus dem Haus heraus die ersten „alternativen Betriebe“ gegründet wurden, nicht anders, als in den 1990ern. In dieser Phase firmierte die Buchte unter dem Namen „3. Welt-Haus“, im obersten Stockwerk wurde eine kleine internationalistische Zeitschrift produziert und über Rüstungsexporte informiert. Die Teestube im Erdgeschoß gab es immer, Partys und Konzerte zuerst im 1987 abgerissenen Saal, dann im weit kleineren im Keller. Parallel dazu Kinderfreizeiten, feministische Walpurgisnachtfeiern, die erste Impro-Theatergruppe Bremens, Aktivitäten von Autonomen und antifaschistischen Fußballultras: Diskutieren und Handanlegen, Schreiben und demonstrieren, Feiern und Putzen, das gehörte und gehört in der Buchte zusammen.

Die Herausgeber_innen ermöglichen mit ihrem Buch einen beispielhaften Blick in die Geschichte Bremens. Sie bieten Einblicke in die Welt eines „selbstverwalteten“ Jugendhauses und leisten damit einen lesenswerten Beitrag zur Bewahrung der Geschichte alternativer Räume und Bewegungen. Eines Hauses, das, obwohl es vergleichsweise klein ist, immer mehr war als ein Jugendhaus.

Das durchweg vierfarbige Buch wirkt authentisch, kommt ohne Weinerlichkeit und die für solche Produkte typische, falsche Nostalgie aus. Bo Beckmann hat es sehr ansprechend gestaltet. Deshalb ihnen ein „Danke“ – und ebenso an alle, die das Haus mit ihrem Engagement getragen haben: Hut ab! Ohne die Buchte wäre Bremen (noch) ärmer.

Bernd Hüttner

Anmerkung des Rezensenten: Vergleichbare Bücher sind das zur walli in Lübeck (alternative e.V. (Hrsg.): 30 Jahre alternative! Das Buch; Lübeck 2008, 258 Seiten) zum AJZ in Bielefeld (AutorInnenkollektiv (Hrsg): AUTONOM und SELBSTVERWALTET. Eine Dokumentation über das ArbeiterInnen-Jugend-Zentrum, Bielefeld 2003, 435 Seiten) oder das zur Reitschule in Bern/Schweiz (Hansdampf (Hrsg.): Reithalle Bern – Autonomie und Kultur im Zentrum, Rotpunkt Verlag, Zürich 1998) – auch wenn die dort beschriebenen Häuser strukturell und von der Größe ganz andere sind.

Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen

Melzer, Hermann, Sandfuchs, Schäfer, Schubarth, Daschner (Hrsg.)
Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen
UTB / Klinkhardt 2014
640 Seiten
39,99 €

9783825285807_1Einen sehr facettenreichen Einblick in eine mitunter aufgeregt diskutierte, manchmal jedoch auch tabuisierte Thematik ermöglicht dieses Handbuch in 125 Beiträgen, gegliedert in fünf große Abschnitte. Dabei werden aktuelle Ergebnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kritisch reflektiert, bisherige Versäumnisse der Forschung klar benannt, und Verantwortung an alle Menschen delegiert, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.

Die Gliederung macht Sinn, die beiden größten Abschnitte zu „Formen, Ursachen, Akteure(n)“ sowie „Prävention und Intervention“ umfassen rund 400 Seiten. Thematische Überschneidungen und inhaltliche Widersprüche lassen sich bei 125 Beiträgen weder vermeiden, noch stören sie. Vielmehr spiegeln sie die Vielzahl der interdisziplinären Ansätze und Sichtweisen, sowie die Tatsache, dass wir auf hilfreiche Wissensbestände zurückgreifen könnten, wenn wir nur wollen. Dies gilt für alltägliche Formen von Aggression und Gewalt ebenso wie für außergewöhnliche Handlungen, z. B. in Form von Amokläufen an Schulen. Dabei stellen die Autor_innen unmissverständlich klar, dass die Mehrzahl der Schüler_innen Aggression und Gewalt als gängiges Mittel zur Auseinandersetzung einerseits ablehnt, dass jedoch andererseits (Cyber-)Mobbing oder scheinbar „weiche“ Formen von Gewalt von vielen Schüler_innen nicht unbedingt als solche wahrgenommen werden.

In der Entwicklung männlicher Identität spielt Gewalt und Gewaltakzeptanz eine deutlich größere Rolle als bei der Entwicklung weiblicher Identität. Für genderspezifische Herausforderungen gilt dasselbe wie für die gesellschaftlichen Aufgaben angesichts politisch motivierter Gewalt oder der Angst bzw. Ignoranz gegenüber Gewalt an Schwachen: Es gibt derweil zahlreiche evaluierte Programme und Trainings, von denen viele in der Schule angeboten werden könnten. Studien der letzten Jahrzehnte rücken Aggression und Gewalt fördernde Ursachen ebenso klar in den Blickpunkt wie Möglichkeiten der Prävention oder der Nachbearbeitung. Relativ neue Ansätze wie z. B. konfrontative Verfahren werden dabei auf wenigen Seiten verhältnismäßig kritisch und differenziert skizziert.

An klaren Empfehlungen und Positionierungen mangelt es nicht von Seiten der Expert_innen, deren kleinster gemeinsamer Nenner vielleicht darin liegt, dass insbesondere Professionelle bei Aggression und Gewalt nicht wegschauen dürfen, sondern entschieden und vorbildhaft eingreifen sollten. Dass der Mangel an tragfähigen wie vertrauensvollen Bindungen in der frühen Kindheit in der Familie nicht allein in der Schule ausgeglichen werden kann, leitet sich aus verschiedenen Beobachtungen ab. Die Vielzahl der Ansätze – hier seien Medien-, Sport-, Musik-, Theater- und Demokratiepädagogik beispielhaft für eine von mehreren Disziplinen genannt – spannt einen weiten Horizont an Handlungsmöglichkeiten auf, um sowohl subtiler Aggression als auch heftiger Gewalt nicht planlos gegenüberstehen zu müssen. Hier sind nicht zuletzt die Politik und die Gesellschaft gefordert, vor allem pädagogische Einrichtungen entsprechend auszustatten.

Ob sexuelle Gewalt in der Familie oder in der Schule, fremdenfeindliche Gewalt, oder Gewalt im Umfeld des Fußballs, ob Förderung der Zivilcourage oder Peer-Mediation: Dieses Handbuch erweist sich durch seine inhaltliche Breite, seinen besonnen-kritischen Tonfall und die Literaturhinweise als nahezu unerlässliches Nachschlagewerk für Professionelle wie thematisch Interessierte. Zahlreichen Autor_innen gelingt es, den aktuellen Forschungsstand prägnant zusammenzufassen, sowie Kernthesen und Handlungsbedarfe klar zu formulieren. Hier findet sich auf 640 Seiten wahrlich kompaktes Wissen.

Thor Joakimsson

Die heimlichen Revolutionäre

Erik Albrecht/Klaus Hurrelmann
Die heimlichen Revolutionäre: Wie die Generation Y unsere Welt verändert
Beltz Verlag 2014
255 Seiten
18,95 €

Hurrelmann_GenerationY_K1_140312.inddNach den Babyboomern (geboren 1955-1970) und der Generation X (geboren 1970-1985) hat das Feuilleton und die Jugendsoziologie nun die Generation Y ausgerufen. Diese Generation der derzeit ungefähr 18-30 Jährigen stellen der renommierte Jugendforscher Klaus Hurrelmann (geb. 1944) und der halb so alte Journalist Erik Albrecht in ihrem Buch vor. Sie werten vor allem Literatur bzw. bereits vorliegende Studien und Umfragen aus, Albrecht hat wohl auch Interviews geführt.

Quantitativ umfasst diese Generation ca. 12 Millionen Personen, also 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, während die Babyboomer eineinhalb Mal so viele sind (der Peak war 1964, in diesem Jahr gab es 1,4 Millionen Geburten). Die Anzahl der über 65-Jährigen beträgt heute über 20 Millionen, ebenso die der unter 20-Jährigen. Die geringe Anzahl der Angehörigen der Y-er-Kohorte und ihr derzeitiger geringer Einfluss darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, so eine der zentralen Thesen des Buches, dass diese Generation auch irgendwann (verspätet) die Geschicke Deutschland entscheidend prägen wird. Zweitens, und weit wichtiger, werden die Bedürfnisse und Vorstellungen dieser Generation Bildung, Freizeit, Politik und vor allem Familie, Beruf und die gesamte Arbeitswelt verändern. Nicht zuletzt ist und war die Jugend schon immer ein Seismograph für anstehende Veränderungen.

Die Generation Y ist frühreif bei Medien, Konsum und Freizeit, und aufgrund der prekären ökonomischen Rahmenbedingungen und wegen ihrer eigenen Wünsche bei Beruf und Familiengründung so spät dran, wie noch keine Generation vor ihr. In sich ist sie heterogen, viele sind auch durchaus sehr egoistisch. Die beiden Autoren untergliedern in 30 Prozent egozentrische Leistungselite, weitere 30 Prozent pragmatische IdealistInnen, weitere 20 Prozent „robuste MaterialistInnen“ und die restlichen beschreiben sie als zögerlich, unauffällig, wenn nicht resignierte Teilkohorte.

Alle Y-er stünden, jenseits von individuellen Prägungen durch Herkunft und Erziehung, vor vielen persönlichen und gesellschaftlichen Paradoxa. So sei vielen unklar, wann man erwachsen wird und vor allem, an was man das dann merken würde. Für viele sei es nahezu unmöglich geworden, nicht so zu werden, wie die eigenen Eltern, zumal diese in den wohlhabenden Schichten eh als Vorbilder angesehen werden. Oder es sei allerorten vom noch ansteigenden Fachkräftemangel die Rede, während doch konkret überall an Bildung gespart werden.

Aus der politischen und gesellschaftlichen Realität, die im bisherigen Leben der Y-er durchgängig von Krisen, angefangen von 9/11, über diverse Kriege, die Finanzkrise bis zu Fukushima geprägt war, ziehen diese bemerkenswerte Konsequenzen: „Nichts ist mehr sicher. Aber es geht immer irgendwie weiter“. Es ist permanent Krise, also warum sich aufregen, außerdem ist jene meist anderswo, oder dort zumindest schlimmer.

So werden diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu „Egotaktikern“. Sie haben erfahren, dass in ihrem Leben wenig planbar ist, ja wollen sich vielleicht oftmals auch (noch) gar nicht festlegen. Sie erfassen schnell und mit bemerkenswert hoher Sensibilität die Situation. Dann handeln sie so, dass sie möglichst viel Gewinn für sich selbst daraus haben, und sich gleichzeitig noch möglichst viele weitere Optionen offen halten. Sie setzen angesichts der Höhe ihrer erwartbaren Rente notgedrungen auf (lebenslanges) Lernen, Netzwerken und Flexibilität, während sie sich gleichzeitig im Hier und Jetzt stark an formalen Abschlüssen ausrichten. Sie wollen Beteiligung und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, sie wollen Nutzenmaximierung und Stressreduktion, wollen Sicherheit und Genuss, sie verausgaben sich, ja müssen dies vielleicht oftmals und wollen doch gleichzeitig entschleunigt und gesund leben, und grade die Männer, auch Zeit für ihre Kinder haben.

Wer kann ihnen dieses immanent-widersprüchliche auch verdenken, addiert man noch die Mega-Trends des absehbaren Endes der Ressourcen oder zumindest des Wachstumswahns und den ja schon laufenden kompletten Umbau des Generationenvertrages hinzu? Dies kann einzelne nur überfordern:Kollektives, womöglich auf Dauer gestelltes Handeln ist- im völligen Gegensatz zu den Babyboomern und den vorhergehenden 68ern (geboren 1940-1955) – nicht vorgesehen. Diese Generation, und das ist für emanzipatorische Politik oder Bildungsarbeit wichtig, nimmt die traditionellen Parteien nicht ernst und diese erreichen jene auch nicht.

Spannend dürfte der Fortgang in der Arbeitswelt werden (vgl. Parment 2013). Die Y-er haben Ansprüche an Arbeitgeber, die müssen angesichts des Fachkräftemangels reagieren. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Prognose bewahrheitet, die Debatte um die Zunahme berufsbedingter psychischer Krankheiten deutet eher in eine andere Richtung.

Das Buch genügt sicher nicht strengen materialistischen Kriterien: So wird etwa das Verhältnis von Kontinuität und Bruch nicht näher untersucht (gab es auch nicht früher generationenprägende Krisen oder schlicht: Neues?). Was ist mit der Bedeutung von Eliten und ihrer Reproduktion? Hurrelmann/Albrecht nennen die Y-er „heimliche Revolutionäre“. Es bleibt jedoch zu unklar, inwiefern der von ihnen konstatierte Wandel über das normale Maß an kultureller Innovation hinausgeht. Wer etwas über das Leben und damit auch die politische Kultur der Bundesrepublik erfahren will, dem und der sei die Lektüre dieses ansprechend komponierten und flüssig geschriebenen Buches jedoch dringend empfohlen.

Bernd Hüttner

Jugend in der Eifel

Bettina Bartzen
Jugend in der Eifel
Seltmann+Söhne 2012
144 Seiten
22,90 Euro

22_jugend-in-der-eifelwebDas Leben von Jugendlichen „auf dem Land“ (oder „in der Provinz“) wird an dieser Stelle ja eher selten thematisiert, was auch daran liegt, dass es dazu deutlich weniger Publikationen gibt als zum Leben Jugendlicher in Städten. Jugendkulturen werden meist mit den urbanen Zentren in Verbindung gebracht, was oftmals nicht ganz falsch ist, aber doch auch Ausdruck einer gewissen Blindheit oder Ignoranz ist. Da ist es mal sehr angenehm, durch ein Buch wie Jugend in der Eifel der Fotografin Bettina Bartzen daran erinnert zu werden, dass es mehr als nur Städte gibt – und dass nicht alle Jugendlichen in die großen Städte ziehen wollen, sondern auch auf dem Land glücklich sein können. Gerade dieser Aspekt ist zwar eigentlich nicht überraschend, aber als Zugezogener aus Westdeutschland in Berlin, der es sich gar nicht vorstellen kann, in einer Kleinstadt oder gar in einem Dorf zu leben, erscheint er mir doch relativ fremd. Dabei ist es laut der in diesem Buch enthaltenen Studie sogar folgendermaßen: „Junge Menschen, die auf dem Land wohnen, sehen sich gegenüber ihren Altersgenossen aus der Stadt keineswegs benachteiligt. Im Gegenteil, die Bleibeorientierung ist bei den Landjugendlichen sogar etwas höher als bei den Jugendlichen, die in urbanen Räumen leben.“

Diese wissenschaftliche Studie, 2011 von der Universität Trier durchgeführt, kommt zu dem Schluss, dass die Heimatbindung der Jugendlichen in der Eifel groß ist und sie ein überwiegend positives Bild ihrer Heimat haben. Die oftmals festgestellte Landflucht junger Menschen und die damit verbundene Verödung ganzer Landstriche scheint in dieser Region kein ernstzunehmendes Problem zu sein – was wohl auch an den vorhandenen beruflichen Möglichkeiten liegt, die anscheinend besser sind als in vielen anderen Regionen Deutschlands. Die Studie macht aber nur einen kleinen Teil dieses Bandes aus, er ist vor allem ein Fotoband mit kurzen Portraits von insgesamt 58 Jugendlichen, die in zum Teil winzigen Dörfern leben (z. B. Birtlingen: 76 Einwohner, Etteldorf: 22 Einwohner, Hargarten-Gesotz: 90 Einwohner, etc. – die größten Städte in der Eifel sind Bitburg mit 13.000 Einwohnern und Prüm mit 5.000 Einwohnern) und zum Großteil tatsächlich ganz zufrieden mit ihrem Leben zu sein scheinen. Auf den Fotografien sind die Jugendlichen in alltäglicher Umgebung zu sehen, manche zeigen darin welche Hobbies sie haben, andere posieren mit Tieren – hier wiederholen sich bestimmte Motive und auch die Texte enthalten immer wieder ähnliche Statements. Viele Jugendliche sind in Vereinen aktiv, beispielsweise dem Fußballverein, dem Karnevalsverein, der freiwilligen Feuerwehr oder auch dem BDM – was die ungeschickte Abkürzung für den Bundesverband Deutscher Milchviehhalter ist. Ansonsten spielt der Freund_innenkreis meistens die größte Rolle in der Freizeit, wobei hier doch teilweise die langen Wege, die zurückgelegt werden müssen, als Problem angesprochen werden; Facebook spielt bei vielen eine wichtige Rolle, bei anderen wieder nicht; viele wollen mal ins Ausland – also größtenteils eigentlich keine Überraschungen oder neuen Erkenntnisse. Jugendkulturelle Aspekte kommen nur ganz selten zur Sprache, ob Jugendkulturen für diese Jugendlichen relevant sind, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, da die Texte recht kurz sind, aber von zentraler Bedeutung sind sie offensichtlich nicht.

Daniel Schneider

Faszination Gewalt

Josef Sachs & Volker Schmidt
Faszination Gewalt. Was Kinder zu Schlägern macht
Orell Füssli 2014
224 Seiten
22,95 €

SachsSchmidt_FaszinationGewalt_RZ.indd„Cyber-Mobbing, Überfälle und Messerstechereien: Was geht in Jugendlichen vor, die sich brutal verhalten? Was können wir dagegen tun? (…) Der Trend zu mehr Brutalität und Gewalt schreckt auf. Was macht Jugendliche zu Tätern? Sind zu viele Freiheiten in der Erziehung, instabile Familienverhältnisse oder die Gewaltverherrlichung in Videos oder Computerspielen daran schuld?“ (Klappentext)

In ihrem verständlich geschriebenen und nachvollziehbar aufgebauten Buch geben die beiden Psychiater Josef Sachs und Volker Schmidt Antworten aus der Sicht von Experten, die jungen Gewalttäter_innen häufig als Gutachter begegnen. Beide Autoren skizzieren Herausforderungen und praktische Handlungsansätze, die das Risiko, dass Jugendliche zu Täter_innen werden, verringern sollen.

Unter der Fragestellung „Woher kommt die Gewaltbereitschaft?“ liefern Sachs und Schmidt einen aktuellen Überblick über begünstigende Faktoren. Fehlende Sicherheit und Bindung in der Familie, Orientierung an delinquenten Vorbildern in der Peer Group, Konsum von Aggression begünstigenden Drogen und zweifelhaften Medien sind hinreichend bekannt. Bei der Beschreibung der Gehirn-Entwicklung von Jugendlichen neigen die Psychiater zu einer biologistischen Sichtweise, die den Blick auf menschliche Möglichkeiten verkürzt. Dabei betonen sie, dass kein zwingender Zusammenhang zwischen einzelnen Faktoren und Gewalt besteht, sondern dass erst das Zusammenwirken mehrerer ungünstiger Faktoren den Einsatz von Gewalt nahelegt. Somit stellen sie einerseits Ego-Shooter spielende Jugendliche nicht unter Generalverdacht, weisen andererseits jedoch auf die Möglichkeit hin, dass die Beschäftigung mit solchen Medien unter bestimmten Bedingungen dazu führen kann, Gewalt als Problemlösung zu favorisieren.

Mit Sorge beschreiben die Psychiater jene Möglichkeiten, die sich mittels neuer Medien bieten, vor allem psychische Gewalt auszuüben und Jugendliche bis zum Suizid zu treiben. Die öffentliche Demütigung durch das Publizieren von intimen Photos oder Gewalt-Videos geschehe oft ohne eine Ahnung der juristischen Verhältnisse. Für viele Jugendliche sei das Internet ein als rechtsfrei empfundener Raum, in dem sie überfordernde Inhalte finden. Wer sich in jungen Jahren an den Anblick von – auch sexualisierter – Gewalt gewöhnt, der kann dazu neigen, sich mit den Gewalttäter_innen zu identifizieren und dementsprechend zu handeln. Neue Formen von Demütigung erkennen die Psychiater bei Vergewaltigungen durch mehrere Täter_innen (zu 95% männliche Jugendliche), bei denen die Erniedrigung der Opfer (meist sehr junge Mädchen) per Handy gefilmt und im Internet veröffentlicht wird.

Den so genannten „School Shootings“ als seltener Form der Jugendgewalt widmen sich die Autoren vor allem im Hinblick auf Warnsignale, die das Umfeld des Täters veranlassen sollten, aktiv zu werden, anstatt Außenseiter_innen ihren eigenen Gewaltphantasien zu überlassen. Es gibt, so die Autoren, „bestimmte Äußerungen oder Verhaltensmuster des potenziellen Täters, die eine stufenweise Entwicklung hin zu einem Gewaltakt charakterisieren“. Häufig würden die Anzeichen zwar von Einzelpersonen bemerkt, doch zu selten in verantwortungsvolles Handeln umgesetzt. Sachs und Schmidt sprechen sich daher für interdisziplinäre Anlaufstellen wie z.B. das Berliner „Leaking Projekt“ aus. Zudem kritisieren sie eine Berichterstattung, welche dem Täter viel Beachtung schenkt und seinen Lebenslauf romantisiert, während die Opfer und ihr Leid eher ausgeblendet werden, was bei entsprechend veranlagten Jugendlichen zu einer Idolisierung der Täter_innen führe. Bei ihren Anregungen für ein gutes Schulklima und für eine Verringerung des Drucks auf Jugendliche ahnen die Autoren wohl selbst, dass sie allenthalben an der Oberfläche gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen kratzen.

Die Psychologen warnen ferner vor einer „emotionalen Wohlstandsverwahrlosung“, in welcher Kinder mit materiellen Dingen überhäuft werden, jedoch nicht in vertrauensvollen Beziehungen von ihren Eltern getragen werden. Diese sollten sich Zeit nehmen, nicht zuletzt, um sich mit der Mediennutzung ihrer Kinder vertraut zu machen, kritische Internetinhalte offen zu besprechen und den Wert von Privatsphäre zu verdeutlichen. Im Hinblick auf den komplexen Auftrag der Schulen fällen die Autoren ein klares Plädoyer für die Vermittlung sozialer Kompetenzen: „Pisa-Studien dürfen nicht dazu führen, die humanistische Bildung im Grunde abzuschaffen und durch simples Wissen zu ersetzen.“ Hier fehle es einmal mehr zu oft an Vertrauen stiftenden Beziehungen und an Möglichkeiten, lernschwache Schüler besser zu fördern und zu integrieren.

Therapeutische Erfolge bei psychisch erkrankten jugendlichen Gewalttäter_innen bauen den Autoren zufolge ebenfalls auf einer belastungsfähigen Beziehung auf, in welcher dem Täter einerseits seine Tat wiederholt vor Augen geführt wird, andererseits Verantwortung und Empathie erlernt werden sollen. Dass es dabei nicht um sinnfreies „Nachplappern“, sondern um die Entwicklung eines tieferen Unrechtsbewusstseins geht, machen Sachs und Schmidt unmissverständlich klar, und liefern auf rund 200 Seiten erstaunlich viele Anregungen für thematische Vertiefungen bei anderen Autoren.

„Faszination Gewalt – Was Kinder zu Schlägern macht“ ist ein wohl mit Bedacht provokant angelegter Titel, der die Hoffnung auf einfache Antworten wecken mag. Josef Sachs und Volker Schmidt gelingt es in ihrem Einführungsband, von Jugendlichen verübte Gewalt differenziert und in nüchternem Tonfall darzustellen und die Motive der Täter_innen sowie gesellschaftliche Antworten sachlich zu hinterfragen. Leider unterscheiden sie nicht zwischen Aggression und Gewalt, und auch der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln wird sprachlich nicht klar gezogen. Diese Uneindeutigkeit verstärkt die Frage, ab wann Jugendliche für ihr zerstörerisches Handeln wie weit verantwortlich sein können. Nüchtern formuliert sind auch die konkreten Ratschläge, um Jugendgewalt einzudämmen. Dabei wird deutlich, dass ein Hin- und Herschieben von Verantwortung zwischen verschiedenen Institutionen Gewalt ebenso begünstigt wie ein Zurückweichen vor komplexen Herausforderungen. Ermutigende Erfahrungen zur Bildung verantwortungsvoller junger Menschen gibt es genug – vielleicht sollte statt Ängste schürender Berichterstattung mehr darüber geschrieben und diskutiert werden.

Thor Joakimsson

Go Ost!

Alexander Pehlemann
Go Ost! Klang – Zeit – Raum. Reisen in die Subkulturzonen Osteuropas
Ventil Verlag 2014
224 Seiten mit CD
24,90 €

Manfred Schwartz, Heike Winkel, Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.)
osteuropa (Heft 11-12 / November-Dezember 2013)
Auf einen Zug – Anpassung und Aufbruch: Jugend in Osteuropa
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde
216 Seiten
20,00 €

go_ostAlexander Pehlemann, Herausgeber des enzyklopädisch inspirierten Fanzines Zonic, legt hier eine streng subjektive Darstellung seiner Reisen in die osteuropäischen Länder vor. Es gibt Kapitel zu Polen, der Ex-CSSR, Russland/Sowjetunion, ein extra Kapitel zum Baltikum, einen Beitrag über Ungarn, (ex-)Jugoslawien, zu Bulgarien und Rumänien. Jedes Land wurde vom Verfasser mehrmals (seit den späten 80ern bis heute) besucht, besonders in der letzten Zeit hatte er Gelegenheit, Protagonist_innen der Szene zu interviewen und seine Tonträgersammlung wachsen zu lassen. Die größte Rolle spielt dabei Punk und New Wave, aber auch Industrial, Reggae oder Avantgarde aller Art interessieren den Reisenden. Auf jeder Seite finden sich etwa zehn Hinweise, Bandnamen, Referenzen und Festivals, weshalb es sich für die Leser_innen empfiehlt, parallel zur Lektüre einen Youtube-Kanal zu öffnen, um nicht wie in einem Schnellzug an den ganzen Sehens- und Hörenswürdigkeiten vorbeizurasen. Zusätzlich gibt es zwischen den Kapiteln von Subkulturjournalist_innen, Kulturschaffenden und -aktivist_innen zusammengestellte und kommentierte Musik-, Ereignis- und Ortslisten. So wird der einerseits persönliche und andererseits umfassende Blick dieses – hier benutze ich das Wort mit vollem Bewusstsein – Werkes um zahlreiche weitere Sichten ergänzt.

2013_11_12_JugendEinen weiter gefassten Einblick in diesen Themenbereich, der nicht nur Subkulturen betrifft, gibt die Ausgabe der Zeitschrift osteuropa über Jugend in Osteuropa. Der Band befaßt sich mit kulturwissenschaftlichen und soziologischen Fragen, nur wenige Texte sind Reise- oder Augenzeugenberichte. Diese tiefergehende Sicht auf spät – und postsozialistische Jugend in den Ländern des ehemaligen Ostblocks ermöglicht Einsichten in Phänomene, die bisher wenig oder gar nicht beschrieben worden sind. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Vorkuta, entstanden aus einem Gulag, mit ihrer regen und als authentisch empfundenen Punkszene.

Ebenso wie genaue Szenebeobachtungen sind analytische Überblickstexte enthalten, die sich mit Entwicklungen gesellschaftlicher Phänomene wie der Jugendmobilisierung in Rußland oder der Situation der jungen Generation in Weißrussland befassen. Das Buch ist eine Fundgrube für alle Osteuropa- und Jugendkulturinteressierten, die hier viel Aktuelles und so einiges über die Jugend- und Subkulturen in der Vergangenheit erfahren.

Dazu passend finden in naher Zukunft einige vielversprechende Veranstaltungen in Leipzig und Wien statt:

Am 5.11., 20 Uhr im naTo in Leipzig:
1984! Kunst & Subkultur: Leipziger Herbstsalon, „Hungary can be yours“ und die Neue Slowenische Kunst

Am 6. und 7.11. an verschiedenen Orten in Wien:
Konzerte anlässlich der 100. Ausgabe des österreichischen Musikmagazins Skug

Peter Auge Lorenz

Don’t Spotify your Life – Die Nischen auf der Berlin Music Week

„Betrug“ und „Skandal“, so hallt es am 1. Konferenztag der Berlin Music Week (BMW) durch den Postbahnhof. Dieter Meier (Yello) sitzt auf dem Eröffnungspodium der WORD! -Konferenz und macht erst mal alle Anwesenden richtig wach. Streaming, der neuer Streif am Horizont des sich jahrelang immer mehr verdüsternden Musikindustriehimmels? Sind Musikstreamingportale wie Spotify eine neue Möglichkeit für Künstler_innen endlich wieder Geld mit ihrer Musik zu verdienen? Nicht für Dieter Meier. Denn auch mit Streamingzahlen im Millionenbereich wird man bei Spotify mit so wenig Geld abgespeist, dass „es kaum reicht die Wasserrechnung zu zahlen“, so Meier. Die Intransparenz, was Zahlen, Abrechnungsmodi und faire prozentuale Beteiligung der Musiker_innen angeht, prangert er dabei weniger in Bezug auf seine Person an, schließlich habe er das Glück gehabt mit Yello mehrere Millionen (physische) Tonträger verkauft zu haben, sondern vor allem stellvertretend für junge Künstler_innen, die in der „Ära nach der CD“ auf neue Absatzmöglichkeiten angewiesen sind.

Da sind wir dann schon mitten im Themenschwerpunkt der fünften BMW angekommen: Digitalisierung und Streaming. Ein wenig abseits finden sich aber interessante Nischen, die pop- und jugendkulturelle Entwicklungen in den Fokus nehmen. Da gibt es dann Fragen zur Indie- Ästhetik heute, ein bisschen Popfeminismus- und Diversitydiskurs und als Glasur noch Bestandsaufnahmen zu DIY-Strukturen im urbanen Raum und politischen Haltungsfragen im Pop obendrauf.

Von DIY zu DIT

Wie in DIY-Strukturen professionell arbeiten? Dieser Frage stellen sich verschiedene Akteur_innen, die seit vielen Jahren in der Berliner und Hamburger Club- und Labelandschaft (u.a. Schokoladen, about blank, Audiolith) als DIY-Booker_innen, Veranstalter_innen und Labelbetreiber_innen aktiv sind. Zugegeben, ein etwas widersprüchliches Unterfangen bei DIY überhaupt in Chiffren von Professionalität zu denken. Der Ausgangsfrage wird im Gespräch dann auch nur wenig Raum gegeben. Es geht vielmehr um Aspekte wie Authentizität, den Kollektivgedanken, Fairness im Umgang mit Bands, Spaß bei der Sache und natürlich um die Liebe zur Musik an sich. Hauptsache keinen Job machen, den man hasst und schon gar nicht in Abhängigkeit arbeiten, so das Credo. Da verwundert es dann auch nicht, dass alle in die Empowerment-Hymne einstimmen und „denen da draußen“ als Ratschlag auf den Weg geben, sich und ihre Ideen einfach auszuprobieren. Und das natürlich am besten nicht alleine, sondern in einem Netzwerk ähnlich interessierter Menschen, am besten Freund_innen, um im Sinne einer Bottom-up-Strategie gemeinsam Nischen für selbstverwaltete Freiräume und Veranstaltungen zu besetzen. Denn der Sinn hinter „Do it yourself“ (DIY) soll weniger als ein „Mach alles alleine“, sondern eher als ein gemeinsames Tun, ein „Do it together“ (DIT) verstanden und gelebt werden. Wie leicht es heute noch ist in einem immer stärker spekulationsverseuchten Berlin solche Freiräume zu etablieren und aufrechtzuerhalten, das sollen sich „die da draußen“ dann aber doch lieber selbst beantworten.

Did we make any progress? 20 Jahre nach dem Riot Grrrl Manifest

„Revolution Girl Style Now“. Mehr als 20 Jahre nach der so betitelten Bikini-Kill-Platte und dem Riot Grrrl Manifest, erstaunt mich, dass mir 2014 ein Panel mit diesem Titel ins Auge springt, um auf den zweiten Blick zu fragen, wie es um die Rolle und Sichtbarkeit von Frauen im Musikgeschäft heute bestellt ist.

Sonja Eismann (Missy Magazin) deprimiert dann gleich zu Anfang. Das hat weniger mit ihrer Moderationsleistung zu tun, als vielmehr mit den ernüchternden Zahlen, die sie zum Diskussionseinstieg liefert. Denn auch die Musikindustrie, welch Wunder, ist ein Abziehbild der Gesamtgesellschaft. Auch hier greifen und perpetuieren sich Mechanismen und Strukturen der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. So verdienen Frauen auch in der Musikindustrie deutlich weniger als Männer, findet man in den Führungsetagen der Labels eher selten eine Frau und auch bei der Produktion von Musik überflügeln Männer Frauen um Längen.

Dem Impuls aufzustehen und mich lieber in die Sonne zu setzen, widerstehe ich nur knapp, denn Eismann beteuert „We are not here to complain“. Doch die Frage, ob sich in den vergangenen Jahren eine sichtbare Entwicklung zum Besseren ausmachen lässt, wird wenn nur zaghaft positiv beantwortet. Die Rede ist da von mehr „Awareness“ dem Thema gegenüber (Electric Indigo/ Female Pressure). Es wird also mehr darüber diskutiert, was sich jedoch immer noch viel zu wenig in der Praxis bemerkbar macht. Jetzt bin ich nicht mehr nur deprimiert, sondern fast schon desillusioniert. Doch: ein Lichtblick. So recht weiß zwar keiner warum, aber das Berghain hat im vergangenen Jahr mehr weibliche DJs gebucht als jemals zuvor. Momentaufnahme oder doch ein erstes Aufbrechen verkrusteter Entscheidungsstrukturen im Zuge der Female Pressure Studie 2013?

Aber eine wirkliche Revolution à la Girl Style muss doch anders aussehen? Mehr Empowerment. Natürlich! Etablierte Musikerinnen sollen ihre Vorbild- und Mentoringfunktion für Nachwuchskünstlerinnen stärker wahrnehmen. Absolut! Bei Quotenregelungen und speziellen Musikawards für Künstlerinnen gehen die Meinungen dann doch stärker auseinander. Vor allem in Bezug auf die Wirkung und Symbolkraft dieser Instrumente, die in der öffentlichen Wahrnehmung auch mal nach hinten losgehen kann und Geschlecht eher als unterscheidendes Merkmal manifestiert, als diese Kategorie obsolet zu machen. Das zeigt nicht zuletzt die jahrelang geführte Debatte über die Einführungen von Frauenquoten in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen.

Am Ende bleibt: Alles keine schlechten Ideen, aber irgendwie schon tausendmal gehört. Wirklich revolutionäre Lösungsansätze sucht man vergebens. Ich muss an eine Textzeile aus dem Song „Rebel Girl“ (Bikini Kill) denken: „When she talks, I hear the revolution“ singt Kathleen Hanna. So ein Rebel Girl hätte diesem Panel sicher auch ganz gut getan.

Die neue Indieästehtik ist Hi-Tech

Adam Harper reißt mich dann mit seinen Vortrag „Indie goes Hi-Tech“ aus meiner 90er-Jahre-Nostalgie. Obwohl er mit einer Szene aus Portlandia, einer amerikanischen Comedyserie mit Fred Armisen (Saturday Night Live) und Carrie Brownstein (Sleater Kinney, Wild Flag) beginnt. „We put a bird on it“ heißt es da und „The Dream of the 90s is alive in Portland“. Doch wer sich jetzt in sicheren Gefilden wähnt, was Stile, Referenzen und Codes der heutigen Indie-Kultur angeht, den duscht Harper schon gleich im nächsten Augenblick wieder kalt ab. Seiner Meinung nach gehört die in Portlandia zelebrierte Indie-Ästhetik schon längst der Vergangenheit an und ist nur noch was für Nostalgiker_innen, die in den 80ern groß geworden sind. Autsch, getroffen.

Das naiv verspielte, oftmals charmant rohe und selbstgemachte ist vielmehr einer unterkühlten, dekadent anmutenden, modernen Bildsprache in Videos, Plattencovern und Visuals gewichen. Vor allem in der elektronischen Musik verweben sich minimalistische Musikstile mit reduzierten, futuristischen Bildwelten und Motiven. Spannende Vertreter_innen dieser neuen pasticheartigen Indieästhetik sind neben James Ferraro vor allem auch viele Künstlerinnen, wie Fatima al Quadiri, FKA Twigs, Laurel Halo und auch queere Acts wie Le1f und Mykki Blanco. Die neuen Musikgenres heißen Vaporwave oder Cuteness und sind in ihrer Ästhetik auch stark vom Manga-Stil beeinflusst, oft gefährlich nah an klischeehaften Darstellungen, die in Exotismus abzugleiten drohen. Das findet man sicher nicht mehr auf den Parties im Jugendzentrum um die Ecke. Also alle Nostalgie über Board. Jugendliche und Künstler_innen entwerfen ihre Idee von Indie-Ästhetik neu, und diese wird, wie so vieles, von den Möglichkeiten digitaler Technik bestimmt.

We are the Teenagers

Um Jugendliche und technischen Fortschritt geht es auch bei dem „When Teenage Music Fans are your Audience“-Panel. Genauer gesagt, um deren Hörgewohnheiten und Musikkonsumverhalten. In der vorgestellten Studie zeigt sich, dass mittlerweile 90% der Jugendlichen ein Smartphone besitzen und dieses zum Musik hören nutzen. Das tun sie hauptsächlich über Youtube und noch recht verhalten über Spotify (20%). Und nur noch knapp 14% besitzen überhaupt ein Gerät mit dem man CDs abspielen kann.

Wie Jugendliche Musik hören und konsumieren hat sich im Vergleich zu den Vorgängergenerationen somit gravierend verändert. Physische Tonträger (Kassetten, Vinylplatten und CDs) spielen bei Ihnen kaum eine Rolle. In Zeiten von MP3s und der Verbreitung von Musik über das Internet bedeutet das auch, dass ein Großteil der Jugendlichen in ihrer musikalischen Sozialisation nie für das Hören von Musik bezahlt haben und die Frage, die sich daran anschließt und nicht nur die Musikindustrie umtreibt, ist: Warum sollten sie es dann als Erwachsene tun?

Schlechte Haltungsnoten im Pop

Mit schwierigen Fragen startet auch mein letztes Panel „Pop + Politik = Haltung ?“ der BMW. Hat Popmusik heute noch gesellschaftspolitische Relevanz? Was ist Haltung für euch?

Was dann eine gute Stunde lang folgt ist ein diffuses Potpourri aus Gedankenfetzen und Beiträgen, die immer wieder um die sicher nicht einfache Begriffsdefinition Haltung kreisen. Sookee, Rapperin aus Berlin, nähert sich dem Begriff Haltung mit der Unterscheidung zwischen Dogmen („anstrengend“) und Prinzipien („wichtig“). Stoppok, deutscher Rockmusiker, findet, dass heutzutage „eh alle eine Meise haben, die noch Plattenverträge bei Majorlabels unterschreiben“ und Labelbetreiber Gregor (Sounds of Subterannia) übernimmt in der Runde die Rolle des Kulturpessimisten, der in die „früher war alles besser“-Attitüde verfällt und fragt, wo sich heute noch Bands finden lassen, wie es sie in den 70ern gab?

Wie Sookee dann richtig einwendet, wird es nicht nur für Künstler_innen, sondern für alle in Zeiten von Globalisierung und zunehmend fragmentierten Teilöffentlichkeiten immer schwerer sich klar zu positionieren. Die Komplexität mancher Themen tut dazu ihr übriges. Samsa wünscht sich eine strikte Trennung zwischen Meinung („haben ziemlich viele Menschen“) und Haltung („lässt sich bei Bands auch immer weniger finden“). Woran er das festmacht?  U. a. an der Crowdfundigkampagne von Marcus Wiebusch (But Alive, Kettcar), der für die Produktion seines Musikvideos „Der Tag wird kommen“ (zum Thema Homophobie im Fußball) 50.000 Euro gesammelt hat. Samsa fragt sich und in die Runde, warum Wiebusch das Geld nicht lieber dafür verwendet, um es direkt Initiativen gegen Homophobie zur Verfügung zu stellen? Die fragwürdige Instrumentalisierung von Themen wie Homophobie aus Imagegründen, soll Wiebusch an dieser Stelle zwar nicht unterstellt werden, etwas mulmig ist mir bei dieser Art von „Awareness-Rising“ aber schon.

Leider fehlt durch die generell sehr zerfahrene Diskussion, Raum für viele weitere spannende Fragen zu Jugendkulturen, die im Vorfeld angekündigt waren. Stattdessen macht Sookee ungeniert Eigenwerbung für ihr Label, dass „wie kein anderes fernab kapitalistischer Verwertungslogiken arbeitet“. Aber gut, auch Sympathieträgerinnen haben mal einen nicht so guten Tag. Und Stoppok rühmt sich dafür in seiner gut 40jährigen Karriere, auch ohne Majorlabel im Rücken, die Hallen gefüllt zu haben. Ärgert sich aber trotzdem, so mein Eindruck, darüber, dass er nie bei „Wetten dass..?“ eingeladen wurde. Da macht es dann am Ende auch fast gar nichts, dass Sookee nicht weiß, wer Marcus Wiebusch ist.

Um Distinktion bemüht

Dass sich angeblich 3.5000 Delegierte auf der Konferenz tummeln sollen merkt man bei der BMW zu keinem Zeitpunkt. Weder bei den Panels, an den Bars oder vor den Toiletten bilden sich nennenswerte Schlangen. Das mag zwar schlecht für die BMW sein, deren Relevanz ja schon seit Bestehen in Frage gestellt wird, für mich bedeutet das eine sehr entspannte Konferenzatmosphäre. Selbiges lässt sich auch über die Konzerte im Rahmen von First We Take Berlin sagen. Ob nun im YAAM bei Zugezogen Maskulin, in der Berghain Kantine bei Ballet School oder im Astra bei Zoot Woman. Reindrängeln muss man sich nirgends. Bei den Musikevents wird aber noch stärker deutlich, wie wenig es der BMW gelingt, sich vom dem üblichen Partyangebot Berlins distinktiv abzuheben.

Mit einer Überraschung wartet dann der Abschlußevent der BMW, der New Music Award, auf. Newcomer findet man unter den Bands im Wettbewerb zwar kaum, denn fast alle haben schon einen Plattenvertrag in der Tasche und auch der Blick ins Programmheft manifestiert eher, was beim Panel zu Frauen und Vielfalt im Musikbusiness schon schlechte Laune machte: In einem Meer von Indierock- und Hip-Hop Acts, viele mit einer Art Casper-Clon in ihren Reihen, finden sich gerade mal drei Künstlerinnen im Wettbewerb wieder. Doch worin besteht dann die Überraschung? Dass am Ende eine von ihnen, nämlich die Berliner Musikerin Lary den NMA gewinnt. Es bleibt also die vage Hoffnung, dass sich musikalisches Talent, ob im Mainstream oder Underground, immer wieder durchsetzen kann und wir vielleicht schon bei der kommenden BMW nicht mehr über spezielle Awards zur Förderung von Musikerinnen nachdenken müssen.

Giuseppina Lettieri

Toleranz Online

Simon Schnetzer
Toleranz Online –  eine Jugendstudie über Respekt, Sicherheit und Freiheit im Internet
Diplomica Verlag 2014
48 Seiten
29,99 € (Print)
16,99 € (E-Book)

www.toleranzonline.de

9783842890824-orgJugend im Global Village

Welche Chancen und Risiken sehen Jugendliche in Bezug auf das Internet? Wie tolerant wird mit der Meinungsäußerung anderer umgegangen? Wie kann das Internet im zwischenmenschlichen Umgang respektvoller werden?

Die Studie Toleranz Online, die seit dem 19.02.2014 im Handel erhältlich ist, verwandelt den gesichtslosen, digitalen Raum in einen sozialen und untersucht diesen als Forum der Meinungsäußerung von jungen Menschen zwischen 14 und 34 Jahren.

Als von Google gesponsertes Open Science Projekt beruht die von Simon Schnetzer geleitete Studie auf öffentlicher Beteiligung, wurde transparent und partizipativ durchgeführt und soll dadurch ungefilterte Ergebnisse liefern. Repräsentativ ist die Studie, an der sich von Dezember 2012 bis Juni 2013 insgesamt 872 junge Menschen beteiligten, aufgrund der Zufälligkeit der Stichprobe zwar nicht, liefert durch eine Verschränkung von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden jedoch einen nicht zu unterschätzenden Erkenntnisgewinn.

Neben Statistiken, die auf der Auswertung teilstandardisierter Online-Fragebögen beruhen, sind auch Interviews, die deutschlandweit von den Initiatoren der Studie während eines Road Trips gesammelt wurden, Bestandteil der Studie. So werden nicht nur die Pros und Contras im täglichen Umgang mit dem Internet ermittelt (Stärkung der politischen Teilhabe und Meinungsäußerung, Crowdfounding etc. vs. Datenschutz, Diskriminierung, fehlende Aufklärung im Umgang mit Darknet und Cybermobbing), sondern auch persönliche Geschichten erzählt. Vom U13-jährigen Gamer von Mittelalterspielen, dessen arabische Herkunft anders als im Alltag im Internetforum keine Rolle spielt, oder einer Transperson, die über ihre negativen wie auch über empowernde Erfahrungen spricht – Toleranz Online wirft einen Blick hinter die Zahlen, geht reflektiert mit Differenzkategorien wie Geschlecht, religiöser oder kultureller Zugehörigkeit um und fächert ein buntes Spektrum an Meinungen auf.

Sprachlich weist sie eine große Nähe zur Lebenswirklichkeit junger Menschen auf und widerspricht nicht zuletzt auch durch ihr schickes Layout dem Bild der trockenen Sozialstudie.

Hannah Zipfel

Generation Ego

Bernhard Heinzlmaier & Philipp Ikrath
Generation Ego – Die Werte der Jugend im 21. Jahrhundert
Promedia 2013
208 Seiten
17,90 €

Der andauernden Diskussion über den Werteverfall der Jugend, ihre Politikverdrossenheit und ihren übertriebenen Egoismus wird mit diesem Buch eine wissenschaftlich fundierte und umfassende Argumentationsgrundlage gegenübergestellt. Die beiden österreichischen Autoren bedienen sich dabei soziologischer Theorien, philosophischer und psychologischer Ansätze sowie der Analyse geschichtlicher Entwicklungen, um nicht nur den tatsächlichen Ist-Zustand abseits der medialen Aufschreie zu beschreiben, sondern auch um herzuleiten, wie es zu der aktuellen Situation kommen konnte. Unter Zuhilfenahme aktueller wissenschaftlicher Studien sowie Klassiker der Theorie wie Marx, Weber, Mead, Bourdieu oder Elias (um nur einige zu nennen) wird so ein kompetentes Bild der jugendlichen Gegenwart gezeichnet, welches sich trotz der Orientierung auf österreichische Jugendliche gleichwohl auch auf die Situation in Deutschland, wenn nicht sogar in Teilen auf ganz Westeuropa beziehen lässt.

Das Buch beginnt mit einer Erläuterung des  Phänomens Jugend, ihres Stellenwerts in der Gesellschaft sowie mit der Entwicklung und Bedeutung von Werten. Jugend ist dabei ein dehnbarer Begriff und wird im Folgenden sowohl für die klassische Jugend der Teens als auch für die Generation der jungen Erwachsenen gebraucht. In Kapitel 2 geben die Autoren eine Einführung in die jugendliche Alltagskultur und den gegenwärtigen Trend zur Individualisierung, welcher vor allem geschichtlich nachvollzogen wird. Es folgt eine Skizzierung der Gegenwart, in welcher dargelegt wird, wie Medien, Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Bedingungen der Beschleunigung sowie der Marktwirtschaft auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen einwirken und ihre moralischen Auffassungen, ihre religiösen Orientierungen sowie ihre Werteorientierungen beeinflussen. Eine umfassende Diskussion über politische Partizipation und Wahrnehmung, eine veränderten Protestkultur und die zunehmende Differenzierung der großen politischen Strömungen umfasst Kapitel 5. Anschließend bearbeiten die Autoren den großen Komplex Bildung, Ausbildung und Arbeitswelt und beschreiben, wie sich die Auffassungen von Arbeit und Freizeit verändern und welche Auswirkungen das neue Dogma des lebenslangen Lernens auf die Arbeitsmarktsituation der Jugend hat. Insbesondere dem Einfluss des Marktes  wird hier umfassend Rechnung getragen. Zudem wird die Rolle des Internets dargelegt, welche den Stellenwert des Egos und der Selbstdarstellung betont und damit die Individualisierung vorantreibt. Doch auch dem Phänomen der digitalen Gemeinschaft und der sozialen Netzwerke wird auf den Grund gegangen. Im abschließenden Kapitel wagen die Autoren einen vorsichtigen Blick in eine mögliche Zukunft, welcher momentane Entwicklungen weiterspinnt und stellenweise als Warnung gelesen werden kann.

Leser_innen zwischen 20 und 35 werden bei der Lektüre sicher oft ihre eigene arbeitsmarktunsichere und strukturell instabile Situation wiedererkennen und zumindest dahingehend getröstet werden, mit diesen Problemen nicht alleine dazustehen, sondern einer systematischen und scheinbar unaufhaltsamen gesellschaftlichen Entwicklung ausgeliefert zu sein. Jüngere Leser_innen werden vor der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung gewarnt und können das Buch als Offenlegung ihrer Handlungsoptionen und –grenzen begreifen. Ältere Leser_innen werden demgegenüber erkennen müssen, dass alles Schimpfen über die heutige Jugend nichts nützt: die Vorherrschaft von Kapitalismus und Marktwirtschaft wurde durch die Lebensweise ihrer Generation weiter vorangetrieben, wobei die Konsequenzen nun von der Jugend getragen werden müssen. Zudem wird ihnen klar werden, dass sie viele Phänomene durch die Allgegenwärtigkeit der neuen Medien und der veränderten Lebensorganisation nicht mehr begreifen können und gut daran täten, die Jugend nicht von Vornherein zu verurteilen. Mit der Lektüre dieses Buches zweier kompetenter Jugendkulturforscher hätten sie jedoch eine große Chance auf Verständnis und Toleranz gegenüber der alltäglichen Realität der nachwachsenden Generation.

Ute Groschoff

Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert

Wilfried Ferchhoff
Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert – Lebensformen und Lebensstile
2., aktualisierte und überarbeitete Auflage
VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
496 Seiten
29,95 €

Das hier rezensierte Buch ist mittlerweile in zweiter Auflage in der VS‑Lehrbuchedition erschienen und richtet sich laut Verlagsangaben insbesondere an Studierende und Dozierende der Geistes‑ und Sozialwissenschaften, Lehrende und Praktizierende der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik sowie Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler in Lehre und Forschung. Ziel der Reihe ist es, in komprimierter Form Grundlagenkenntnisse zu vermitteln. In neun Kapiteln thematisiert Ferchhoff den Gegenstand des vorliegenden Bandes, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, auf insgesamt 496 Seiten.

Nach den obligatorischen Reprints der Vorworte vergangener Auflagen sowie der Einleitung skizziert der Autor zunächst die sozialhistorische Entwicklung von Jugendkulturen und beleuchtet deren wissenschaftliche Rezeption. Anschließend diskutiert er die veränderten Strukturen sozialer Ungleichheit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Globalisierung und Individualisierung und geht auf die Differenzierung des Jugendbegriffs ein. Der darauf folgende Abschnitt befasst sich mit den Entwicklungs‑ und Lebensbewältigungsaufgaben im Kontext der Lebensphase Jugend, die der Autor anhand des Patchwork‑Konzeptes betrachtet. Des Weiteren erörtert der Autor pauschale Jugendbilder und Generationsgestalten, um daran anknüpfend „Jugendgenerationen im Wandel nach dem zweiten Weltkrieg“ darzustellen. Ein weiteres Kapitel stellt zeitgenössische jugendkulturelle Szenen und Stile vor. Darüber hinaus thematisiert Ferchhoff am Beispiel von Sport und Mode die Idealisierung und Individualisierung von Jugend. Schlussendlich werden veränderte Erziehungs‑ und Sozialisationsbedingungen in Familie, Schule, Beruf, Freizeit und Gleichaltrigengruppe dargestellt. Nachstehend findet sich ein umfangreiches kapitelübergreifendes Literaturverzeichnis.

Die Beschreibung der historischen Entwicklung von Jugend und Jugendkulturen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen sowie deren wissenschaftliche Auslegung wirkt profund. Darüber hinaus werden Ergebnisse und Erkenntnisse jüngerer und jüngster Jugend‑, Jugendkultur‑ und Szeneforschung in kondensierter Form dargeboten. Begriffe wie „Peers“ werden ebenso wie Kontexte jugendlicher Lebenswelten, Handlungsfelder Jugendlicher sowie Entwicklungsaufgaben im Jugendalter anschaulich beschrieben. Insbesondere im letzten Abschnitt wird eine präzise analytische Darstellung von sich verändernden Sozialisationsbedingungen geboten, die anhand von 19 Thesen entfaltet wird.

Die Differenzierung jugendkultureller Szenen und Stile im siebenten Abschnitt („Jugendkulturelle Stile und Szenen im 21. Jahrhundert“) erscheint dagegen willkürlich und empirisch wenig gesättigt. So erschließ sich beispielsweise nicht, warum Serienfans und „Trekkies“ (Fans der Serie Star Trek) separat betrachtet werden. Auch die Differenzierung zwischen „Heavy Metal; White‑, Trash‑ [sic!], Black‑, Dark‑, Death Metal“ sowie „Satansrock“ einerseits und „Metallern“ andererseits erscheint nicht plausibel. Wichtige Subgenres wie „Pagan‑“, „Speed­‑“ und „True‑Metal“ werden hingegen in der Zwischenüberschrift nicht genannt, obwohl im Text zumindest auf „Speed Metal“ Bezug genommen wird. Ferner schimmert durch, dass die Validität empiriebasierter Aussagen, beispielsweise wenn der Autor vom „…Vorbild für ganze Generationen von Metal‑Bands – Metallica mit dem sehr erfolgreichsten [sic!] Album [sic!]: ‚Whatever [sic!] I may roam‘…“ berichtet, nur unzureichend geprüft worden zu sein scheint. Schlussendlich mutet es im Jahr 2011 merkwürdig an, die „Kellys“ (Anhänger der insbesondere in den späteren 1990er Jahren erfolgreichen Musikgruppe The Kelly Family) als Repräsentanten einer gegenwärtigen jugendkulturellen Szene (also im „21. Jahrhundert“) zu betrachten.

Für eine Empfehlung für Lehrende, Dozierende, Studierende und Sozialarbeitende ist es jedoch unerheblich, ob Ferchhoff mit der Band Metallica und deren Alben vertraut ist oder nicht, wenngleich es schade ist, dass derartige inhaltliche Mängel bei der Erweiterung und Überarbeitung für die zweite Auflage erhalten geblieben sind und den Eindruck empirischer Evidenz nachhaltig schmälern. Seine Stärken offenbart das Buch tatsächlich im Hinblick auf den Zweck, für den es konzipiert wurde: Es handelt sich um ein trotz seines üppigen Umfangs in verdichteter Form vorgelegtes, übersichtliches, leicht verständliches und didaktisch klug aufgearbeitetes Lehrbuch, das den „Mainstream“ des „state of the art“ der Jugend(kultur)forschung repräsentiert. Allein das umfangreiche Literaturverzeichnis kann Studierenden eine Einarbeitung in das spannende, hochkomplexe und wissenschaftlich anspruchsvolle Themengeflecht „Jugend“ und „Jugendkulturen“ erleichtern. Die einzelnen Abschnitte bieten darüber hinaus einen vorzüglichen Einblick in ausgewählte Themenbereiche zeitgenössischer Jugendforschung. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit den in der Publikation verhandelten Themen muss sich jedoch stets neu an der Empirie beweisen.

Sebastian Schröer

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Vielleicht will ich alles

QueDu Luu
Vielleicht will ich alles
Kiepenheuer & Witsch 2011
336 Seiten
14,95 €

9783462042955Die scheinbar heile Welt des 16-jährigen Addi, der genug Geld und viele Freunde hat, ist bei genauerer Betrachtung ein Trümmerfeld, auf dem die Eltern sich in regelmäßigen Abständen prügeln und dabei auch vor dem eigenem Sohn nicht halt machen. Der Roman beginnt schonungslos und ohne einstimmende Worte. Addi bekommt von seiner Mutter eine abgebrochene Bierflasche in den Bauch gerammt. Aus Versehen.

Verständlich, dass er unter diesen Verhältnissen versucht, so viel Zeit wie möglich draußen zu verbringen. Der Leser begleitet Addi auf seiner Reise durch die Straßen; was er dort entdeckt stellt die gesamte Bandbreite des Lebens dar. Er erlebt Gewalt und Hass, aber auch Freundschaft und Liebe. Und er beginnt zu verstehen, dass seine Familie nicht die einzige ist, bei der Schein und Sein nicht übereinstimmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass Jonas, der in der Schule als Streber verschrien ist, für seine Eltern, die von Hartz IV leben, nachts um 3 Uhr das Bier von der Tanke holt? Und wie kann es sein, dass Addi der obdachlose und oft geistig verwirrte Balduin vernünftiger und zufriedener als seine Eltern vorkommt?

Die Autorin QueDu Luu, deren Wurzeln in China und Vietnam liegen, verzichtet in Vielleicht will ich alles nicht nur auf jegliche klischeehafte Darstellung, sie wählt sogar oftmals Bilder, die den Leser geradezu veranlassen, nachzudenken und die gewohnten Assoziationen zu hinterfragen. So wirkt es erst ungewöhnlich, dass es Addis Mutter ist, die den Vater tätlich angreift und es sich nicht umgekehrt verhält. Auch vermutet man derartige Gewaltausbrüche wohl eher in Familien, die von der Gesellschaft als Unterschicht bezeichnet werden; doch auch dies ist im Falle von Addis Eltern – der Vater Arzt, die Mutter Krankenschwester – wohl kaum zutreffend.

Der Roman zieht den Leser oft an düstere und einsame Orte, doch der schwarze Humor QueDu Luus lockert diese Momente immer wieder auf. Feinfühlig schildert sie verschiedene Lebensweisen; zeigt, dass letzten Endes Jeder auf der Suche nach Nähe und Geborgenheit ist und enthält sich selbst jeder Wertung. Was bleibt, ist eine Vielzahl an Identifikations und Interpretationsmöglichkeiten und eine Einladung zum Nachsinnen.

Maria Danelius

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Cherryman jagt Mr. White

Jakob Arjouni
Cherryman jagt Mr. White
Diogenes Verlag 2011
167 Seiten
19,90 €

978-3-257-06755-2In Storlitz möchte man nicht leben. Nicht mal tot sein. Das Kaff in der brandenburgischen Provinz ist weit genug von Berlin weg, um absolut gar nichts vom Großstadtflair abzubekommen, aber noch nahe genug dran, um es zu kennen und zu hoffen, irgendwann dort zu leben. Im Dorf gibt es immerhin eine Frittenbude und einen Supermarkt. An diesem trostlosen Schauplatz sieht sich der Anti Held des Romans, der 18-jährige Rick Fischer, gezwungen, sein Dasein zu fristen. Als Waisenkind, das seine Eltern früh bei einem Autounfall verloren hat, wächst er bei seiner selbsternannten Tante Bambusch auf. Sie hat ihn liebevoll großgezogen und nun kümmert er sich um die alte Frau. Nach dem Realschulabschluss erwartet ihn wie alle Jugendlichen im Ort die aussichtslose Jobsuche.

Rick ist ein Träumer, ein stiller, harmloser Junge, der gerne Comics zeichnet und mit seiner Katze spielt. Und somit das ideale Opfer für die rechtsradikale, dummgesoffene Clique, die arbeits und perspektivlos auf dem örtlichen Supermarktparkplatz herumlungert und Bier trinkt. Die Gang schikaniert ihn, nimmt ihm regelmäßig das Taschengeld ab und quält seine Katze. Rick versucht, ihnen so gut es geht aus dem Weg zu gehen und sich unauffällig zu verhalten. Wenn das mal wieder nicht klappt, flüchtet er sich in seine selbst gezeichnete Comicwelt, in welcher der übermächtige Held „Cherryman“ (seines Zeichens ein menschgewordener Kirschbaum) es immer schafft, seine Feinde zu besiegen.

Eines seltsamen Tages bietet eben dieser Schlägertrupp sich plötzlich an, ihm eine Lehrstelle im verheißungsvollen Berlin zu vermitteln. Rick ist von Anfang an misstrauisch. Aber das Gefühl, endlich einmal Glück zu haben und die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz in seinem Traumberuf Gärtner lassen ihn alle Zweifel verdrängen. Der Mittelsmann Pascal, ein schmieriger und unsympathischer Vorstadtgauner, macht ihm schnell deutlich, dass die Lehrstelle an Bedingungen geknüpft ist. Rick soll für den örtlichen Neonazi Verein „Heimatschutzbund“ einen jüdischen Kindergarten ausspionieren. Er wird genötigt mitzumachen, da seine neuen rechten Kumpanen alles bedrohen, was ihm wichtig ist: seine Tante, seine Freundin, seine Lehrstelle. So wird Rick trotz moralischer Bedenken und Gewissensbissen zum Werkzeug von Leuten, die er eigentlich verabscheut. Als ihn die Neonazis in eine Falle locken wollen und er die offensichtliche Kriminalität des Heimatschutzbundes nicht mehr länger verleugnen kann, wächst Rick über sich hinaus. Die Angst um seine Freunde und seine Tante bringt ihn dazu, sich zu wehren. Die aufgestaute Frustration und all seine Furcht entladen sich in einer überdimensionalen Reaktion.

Der/Die LeserIn erfährt gleich zu Beginn, wo die Geschichte endet. Nämlich mit Rick im Gefängnis. Wie es dazu kam, erzählt Jakob Arjouni in Form von Briefen des Protagonisten an den Knastpsychologen. Er stellt so nur die eine Sicht der Dinge dar und die Sympathien sind von Anfang an eindeutig verteilt. Es ist die Geschichte eines schwachen Jugendlichen, der in einer scheinbar ausweglosen Situation durchdreht. Der Autor zeigt, wie leicht man zum Mitläufer werden kann und wie schwer der Kampf eines Einzelnen gegen organisierte Neonazigruppierungen ist. Die Grenze zwischen Opfer und Täter verwischt. Es stellt sich die Frage, ob Gewalt tatsächlich nur mit noch mehr Gewalt begegnet werden kann und ob es moralisch akzeptable Motive für ein schwerwiegendes Verbrechen gibt.

Die Geschichte behandelt ein bedrückendes Thema auf unterhaltsame, fast skurrile Weise, so wie es für den Autor typisch ist. Der leichte Schreibstil und die Kürze des Buches machen den Roman zum idealen Lesestoff auch für Jugendliche, und die Lektüre bietet ordentlich Diskussionsstoff.

Lydia Busch

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)