Zine of the Day: Shotgun Seamstress #4 (USA)

Der Juli ist wie immer International Zine Month (IZM). Aus diesem Anlass stellen wir euch wieder, wie in den letzten Jahren, einige aus unserer Sicht interessante Zines aus der Sammlung des Archivs der Jugendkulturen als „Zine of the Day“ vor…

Osa Atoe ist die Herausgeberin von Shotgun Seamstress, eines Zines, dessen erste Ausgabe als „Black Punk Fanzine“ bereits 2006 erschien. Über acht Jahre lang gab sie zahlreiche weitere Nummern dieses und weiterer Zines heraus. Die vorerst (?) letzte Ausgabe, Shotgun Seamstress #8, erschien 2014. In all der Zeit war sie auch anderweitig in der US-amerikanischen Punk/Hardcore/Indie-Szene aktiv. Sie spielte in Bands wie New Bloods oder Negation, veranstaltete Konzerte und veröffentlichte Tapes. Außerdem schrieb sie regelmäßig Kolumnen im legendären Punk-Fanzine Maximum Rock’n’Roll (MRR).

Im Zentrum ihres Zines und ihrer MRR-Kolumnen standen ihre Erfahrung als eine unterrepräsentierte und marginalisierte Person innerhalb einer von vorwiegend weißen Hetero-Männern dominierten Punk/Hardcore-Szene. Aus ihrer Position als feministische „Black Punk“ beabsichtigte sie mit ihrem Zine zunächst eine Art Gegenstimme innerhalb der Szene sein. In einem Interview von 2015 sagte sie dazu:

„However, I definitely set out very intentionally to make a Black Punk Fanzine and it’s simply because I’m a black punk and didn’t know many black punks and wanted to create a world where that identity was normal.“

Stand in den ersten Ausgaben von Shotgun Seamstress die Musik feministischer und Schwarzer Punks im Fokus von Osas Interesse, so erweiterte sich dieser schon bald auf andere Ausdrucksformen „Black Outsider Art“.

Das wird auch anhand der folgenden Zeilen auf dem Cover von Shotgun Seamstress #4 deutlich, das unser heutiges „Zine of the Day“ ist:

„This zine is about art by black queers, black feminist punks and other black folks I admire.“

Shotgun Seamstress #4_Cover

Shotgun Seamstress #4 (Cover)

Im Gegensatz zu den vorhergehenden Ausgaben von Shotgun Seamstress dreht sich ihre vierte Nummer aber weniger um Musik als vielmehr um Visual Art – und zwar um „Sister Outsider Art“, wie sie die inhaltliche Ausrichtung von Shotgun Seamstress #8 benennt. Mit dieser Bezeichnung verbindet Osa den Titel des Buches „Sister Outsider“ der afro-amerikanischen Feministin Audre Lorde mit ihrer Vorstellung von „Outsider Art“, worunter sie „the creative work of self-taught artists that exists largely outside of the mainstream art world“ fasst. Sie widmet sich also in dieser Ausgabe der Verbindung eines dezidiert Schwarzen Feminismus mit künstlerischen Ausdrucksformen im Sinne einer Do-It-Yourself-Idee und -Haltung.

Den Auftakt macht in dieser Ausgabe ein Interview mit James Spooner, dem Produzenten und Regisseur des empfehlenswerten „Afro-Punk“-Dokumentarfilms. Einen Artikel in Brief-Form widmet sie der in Berlin lebenden queer-feministischen Drag Queen und Performance-Künstler_in Vaginal Davis. Anschließend stellt sie die Grafikerin, Illustratorin und Malerin Adee Roberson aus New Orleans in einem ausführlichen Porträt vor. Dem folgen Beiträge über die queeren Video-Künstler_innen Kalup Linzy und Jacob Gardens. Und den Abschluss macht schließlich das Gedicht „Madivinez“ aus der Feder der lesbischen Lyrikerin, Filme-Macherin und Dramaterikerin Lenelle Moise aus Haiti.

Auf den insgesamt 24 Seiten dieser Ausgabe von Shotgun Seamstress löst Osa das ein, was sie im bereits erwähnten Interview von 2015 zur Frage nach der Zielstellung ihres Zines erklärt:

„Shotgun Seamstress tries to show varied experiences of what it means to be an ‚alternative‘ black person. I mostly focus on the U.S., but some issues touch on experiences in England and Brazil. So, my experience has been getting to talk to people who represent many different facets of black outsider identity: black trans ex-punk, young Nigerian-American punks, a 60-year-old free jazz musician, biracial British art-punk, young Latino punks from LA, young black mother who makes zines in her precious spare time, black drag queen performance artists from places like New York and Berlin.“

Shotgun Seamstress ist für Osa in all der Zeit weitaus mehr als bloß ein Fanzine, in dem sie Künstler_innen featured, die sie gut findet und fördern möchte. Es hat vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung als marginalisierte Schwarze Feministin abseits des kulturellen Mainstreams eben auch eine ganz spezifische Bedeutung, wie sie in diesem Interview weiter erklärt:

„it’s also been a mode of psychic liberation — maybe even decolonization — for me. Telling varied stories of varied black outsider experiences has proven to me the vastness of black self-expression.“

Shotgun Seamstress #4_Innen

Shotgun Seamstress #4 (Editorial)

Gerade ihr Blick über die eigentliche Punk-/Hardcore-Szene hinaus, fand ich persönlich bei der Lektüre von Shotgun Seamstress #4 besonders bereichernd. Nicht zuletzt erweiterte und schärfte das auch meinen eigenen Blick um und für die kreativen Ausdrucksformen von „Black Outsider Artists“, die sich eher an den Rändern der etablierten Kunst-Welt bewegen. Eine solche Horizont-Erweiterung ist mehr, als man von einem Zine normalerweise erwarten kann. Allein deshalb kann ich nur nachdrücklich und voller Begeisterung Shotgun Seamstress weiterempfehlen.

Leider sind inzwischen fast alle Ausgaben von Osas Zine vergriffen. Nur noch einige Exemplare von Shotgun Seamstress #8 gibt es bei Mend My Dress Press in den USA zu bestellen und hoffentlich bald auch beim Zineklatsch Distro über das Archiv der Jugendkulturen zu kaufen.

Bei Mend My Dress Press erschienen übrigens die ersten sechs Ausgaben von Shotgun Seamstress 2012 als Anthologie. Sie kann ebenfalls noch dort erworben werden. Außerdem können einige Beiträge aus Osas Zines – ebenso wie ihre MRR-Kolumnen – auf ihrem Shotgun Seamstress-Blog online nachgelesen werden.

Darüber hinaus gibt es einige Ausgaben auch komplett als PDFs zum Download und zur Online-Lektüre auf Osas Issuu-Account.

Das oben erwähnte Interview mit Osa aus dem Jahr 2015 kann übrigens hier nachgelesen werden.

Christian

Mehr Infos zum International Zine Month (IZM) sind hier zu finden.

#IZM2018 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Hardcore #Punk #Feminismus #Queer #Afropunk #Queercore #BlackOutsiderArt  #Kunst

Zine of the Day: Falafel #1 (Brasilien)

 

Falafel_1_Falafel #1 (2012)

Falafel #1 (2012)

Falafel_2_Interview mit Lara Miranda

Interview mit Lara Miranda

Falafel_3_Zeichnung Eng Gee Fan

Zeichnung von Eng Gee Fan

Falafel ist mir aufgefallen, weil es auf meinem Tisch lag, mit der Notiz einer Kollegin* – „wo soll ich diese schönen Sachen einsortieren“.

Es handelt sich bei diesem kleinen Kunstwerk um ein Art-Zine eines brasilianischen Künstler_innen*kollektivs. Seit der ersten Ausgabe 2012 sind bisher 8 Zines erschienen (http://fanzinefalafel.blogspot.de/). Ziel des Kollektivs ist es, verschiedenen – bisher unbekannten – Künstler_innen* die Möglichkeit zu geben, sich fernab der dominanten Strukturen der Kunstszene zu präsentieren.

Falafel_4_Zeichnung Mariana Moysés

Zeichnung von Mariana Moysés

Lara Miranda, Eng Gee Fan und Mariana Moysés erzählen in Kurzinterviews vom sich Eingeengt-Fühlen in der Universität sowie vom Suchen nach Freiräumen, um Inspirationen für ihre besonderen Arbeiten zu finden.

Mehr zum International Zine Month gibt es hier.

#IZM2016 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Jugendkulturen #Kunst #Brasilien

Lara

ein paar Geschenketipps …

In unserer Bibliothek sind dieses Jahr viele tolle neue Bücher angekommen, die wir gar nicht schaffen, alle vorzustellen – deshalb hier eine kleine Auswahl an schicken Veröffentlichungen, die sich auch gut als Weihnachtsgeschenke eignen.

Tabita Hub / Michal Matlak / Florian Anwander
R is for Roland
Electronic Beats 2015
384 Seiten
54,90 €

www.roland-book.com

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Ein außergewöhnlicher Prachtband, der den Maschinen des japanischen Musiktechnologieherstellers Roland huldigt. Ohne die hier vorgestellten Maschinen, ganz besonders die Drumcomputer TR-808 und TR-909 sowie der Basssynthesizer TB-303, sind Techno und andere modernen elektronische Musikstile eigentlich undenkbar oder würden sich zumindest anders anhören. Das Buch ist allerdings keine musikwissenschaftliche Veröffentlichung, zumindest nicht im engeren Sinne, sondern zuerst einmal ein Fotoband, mit einer Vielzahl an tollen Aufnahmen der zwischen 1973 und 1987 produzierten Geräte. Das ist dann zuerst einmal etwas für Techniknerds und Design-Liebhaber_innen, denn hier steht die Schönheit dieser alten Maschinen im Vordergrund. Dazu gibt es Hintergrundinformationen zu jedem Gerät und Interviews mit namenhaften Musiker_innen (u. a. Lee „Scratch“ Perry, Portishead, Mark Ernestus, Nightmares on Wax, Jeff Mills, Modeselektor und Legowelt), die über die Bedeutung von Roland für ihre eigene musikalische Entwicklung sprechen, wodurch die musikhistorische Bedeutung dieser Geräte deutlich wird.

Mark Reeder
B-Book – Lust & Sound in West-Berlin 1979 – 1989
Edel Books 2015
224 Seiten
39,95 €

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Ja, der Hype um die 1980er Jahre in West-Berlin und den dieses Jahr erschienen Dokumentarfilm B-Movie wird hier noch einmal auf allen Ebenen ausgeschlachtet – neben diesem Buch gibt es auch noch eine CD- bzw. LP-Edition mit dem Soundtrack oder auch alles zusammen in der großen „B-Box“ mit „vielen kultigen B-Goodies als Überraschung“ für knapp 90 €. Da wird es dann irgendwann nur noch albern – was zwar an der Qualität des Filmes nichts ändert, aber doch irgendwie einen etwas schalen Beigeschmack hinterlässt. Trotzdem ist das Buch für alle an der Geschichte deutscher Pop- und Subkultur Interessierte empfehlenswert, es enthält im Prinzip den aufbereiteten und unterhaltsamen Erzählertext des Filmes (von Mark Reeder) in gedruckter Form plus eine große Menge an Fotografien aus dem West-Berlin der 1980er Jahre.

Berghain (Hrsg.)
Kunst im Klub
Hatje Cantz 2015
208 Seiten
37,00 €

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Das Berghain, gerne als der wichtigste Technoclub der Welt bezeichnet, ist seit einigen Jahren sehr aktiv darin, sich als seriöse Kulturinstition jenseits der Partykultur zu etablieren. Dieser Band, der bezeichnenderweise im Kunstbuchverlag Hatje Cantz erschienen ist, dokumentiert diese Tätigkeiten, vor allem im Kontext der bildenden Kunst. Einige der in diesem Buch gezeigten Kunstwerke – z. B. Piotr Nathans „Rituale des Verschwindens“ oder die Installation „Together“ von Joseph Marr gehören zum festen Inventar des Clubs und sind wahrscheinlich allen Besucher_innen bekannt, andere Kunstwerke wurden letztes Jahr in der Ausstellung „10“ in der Halle am Berghain gezeigt. Zu den vertretenen Künstler_innen gehören Stars der deutschen Kunstszene wie Wolfgang Tillmans, Carsten Nicolai, Norbert Bisky und Marc Brandenburg, das Buch enthält neben Fotografien der Kunstwerke auch Interviews und Essays.

Daniel Schneider

Zine of the Day: Indulgence

Indulgence #7 (ca. 2002)

Indulgence #7 (ca. 2002)

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf Indulgence gestoßen war. Es muss jedenfalls um 2002/2003 gewesen sein, als Eleanor aus New York City und ich zum ersten Mal Kontakt aufnahmen. Sie hatte bereits 1997 die Debüt-Nummer ihres Zines veröffentlicht, aber die erste Ausgabe, die ich in die Hände bekam, war Indulgence #7. Eleanor gelang mit ihrem Heft den Spagat zwischen einem Art Zine und einem Perzine mit queer-feministischem Standpunkt. Indulgence beinhaltete damit nicht nur interessante Artikel, sondern stach auch durch eine interessante Gestaltung aus der Masse der Zines dieser Zeit heraus.

Sie verwendete verschiedene Papierarten, Pappen und Folien innerhalb einer Ausgabe (u. a. Tapetenpapier), stellte eigene Stofftaschen für eine Ausgabe her und nutzte ungewöhnliche Fadenbindungen, Falzarten, Stempeldrucke, Letter Presses und andere Techniken, um jede Ausgabe von Indulgence zu einer besonderen zu machen. Man merkte diesem Zine einfach an, dass es jedes Mal mit viel Herzblut und Liebe zum Detail hergestellt worden war.

Innenteil von Indulgence #7 (ca. 2002)

Innenteil von Indulgence #7 (ca. 2002)

Dieser Enthusiasmus beeindruckte mich so sehr, dass ich den Kontakt mit Eleanor weiter aufrecht erhielt. Über die Jahre entstand daraus eine transatlantische Freundschaft und ein intensiver Austausch über Zine-Kultur. 2005 trafen wir uns zum ersten Mal in Berlin und die Jahre danach machte Eleanor während ihrer Europa-Trips immer wieder Abstecher in die Stadt. Sie half mir bei der englischen Übersetzung eines Artikels über ost- und westdeutsche Punk-Fanzines und ich war ganz gerührt, als sie sich im Vorwort ihrer Master-Arbeit über Zines für die Inspiration in Sachen Zine-Kultur und den gegenseitigen Austausch bei mir bedankte.

Auch wenn sie 2008 mit Indulgence #10 die Herausgabe ihres Zines vorerst eingestellt hat, ist Eleanor kulturell und künstlerisch bis heute sehr umtriebig. 2013 veröffentlichte sie ihr erstes Buch mit dem wundervollen Titel Grow: How to Take Your Do It Yourself Project and Passion to the Next Level and Quit Your Job!, das man hier erwerben kann. Sie veröffentlicht regelmäßig Beiträge in ihrem Blog Killerfemme und spielt in den Indie Rock-Bands Corita und Rules.

Indulgence #8 (2002/03)

Indulgence #8 (2002/03)

Auch wenn wir uns in den letzten Jahren leider nicht mehr gesehen haben, so stehen wir doch bis heute miteinander in Kontakt und schreiben uns in regelmäßigen Abständen. Es fasziniert mich bis heute, wie sehr das Interesse an so einer eigentlich banalen Sache wie Zines zum Ausgangspunkt einer Freundschaft werden konnte, die über einen ganzen Ozean hinweg und mittlerweile seit über zehn Jahre besteht. Allein aus diesem Grund bin ich froh, irgendwann einmal mit Fanzines in Kontakt gekommen zu sein.

Weitere Informationen über Eleanor und ihre Projekte sind auf ihrer Website zu finden.

Indulgence #9 (ca. 2005)

Indulgence #9 (ca. 2005)

Innenteil von Indulgence #9 (ca. 2005)

Innenteil von Indulgence #9 (ca. 2005)

http://www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

#IZM2015 #Zines #Artzine #Zineoftheday #Perzine #Queer #Feminismus #Kunst

– Christian (Zine Nerd)

Zine of the Day: Schandtat

Schandtat #3, 1983

Schandtat #3, 1983

Wenn man mich fragen würde, welcher Gegenstand die Haltung von Punk am besten repräsentiert, würde ich sagen: Das Schandtat #3 aus Hamburg. Dieses Punk-Fanzine verbindet auf charmante Weise den Dosenbier-Proll-Faktor von Street Punk mit dem Drang nach künstlerisch-publizistischem Ausdruck von Post-Punk. Hier trifft Hirn auf Bauch, DIY auf Art School, Flaschenpost auf Dosenbier, Intellekt auf Stumpfsinn und lässt sich dabei nie eindeutig einer Kategorie zuweisen. Ich gebe zu, ich habe noch keine einzige Zeile in diesem Fanzine gelesen. Brauche ich aber auch gar nicht. Die Verpackung ist schon Botschaft genug: Das Spiel mit der eindeutigen Uneindeutigkeit.

Falls übrigens jemand noch mehr über das Schandtat weiß, so melde sich die Person bitte bei Gelegenheit mal bei mir. Ich würde gerne wissen, ob es sich bei diesem Exemplar um ein Unikat handelt, das wir in unserer Sammlung haben oder ob mehrere Exemplare in dieser Form erschienen sind. Außerdem würde ich gerne wissen, wie Schandtat #1 und #2 eigentlich gestaltet waren…

http://www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

#IZM2015 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Jugendkulturen #Punk #DIY

Christian (Zine Nerd)

Subkultur Westberlin

Wolfgang Müller
Subkultur Westberlin 1979-1989 – Freizeit
Philo Fine Arts 2013
600 Seiten
24 €

4e6b4a833eDie Berliner Technoszene und das Szeneleben in der Zeit nach dem Mauerfall wurden in den letzten Jahren ausführlich thematisiert – beispielsweise in Felix Denks und Sven von Thülens Klang der Familie oder in Ulrich Gutmairs Die ersten Tage von Berlin –, in Subkultur Westberlin geht es dagegen um die Zeit vor 1989, um die Zeit, bevor Techno zur wichtigsten deutschen Jugendkultur wurde und Berlin zum Nabel dieser Bewegung. Der Autor, Wolfgang Müller, Mitbegründer der Band Die Tödliche Doris, erzählt seine Sicht auf die Geschichte des Westberliner Untergrunds, auf die Geschichten der Kunst-, Politik-, Punk- und queeren Szenen, und bewegt sich dabei zwischen besetzten Häusern und Kunstgalerien, zwischen dem Punkclub SO36 und dem Merve-Verlag. Seine eigene Biographie und die Entwicklung seiner Band bildet dabei den Rahmen, in dem unendlich viele kleine und größere Anekdoten mit Protagonist_innen dieser Zeit eingebettet sind – Blixa Bargeld und die Einstürzenden Neubauten, Iggy Pop, Martin Kippenberger und Ratten-Jenny, Gudrun Gut etc. Es tauchen aber auch schon einige der zentralen Figuren der sich später bildenden Technoszene auf – Westbam, Dimitri Hegemann (Tresor), Dr. Motte (Loveparade) oder Mark Ernestus (Hard Wax, Basic Channel), wodurch die Wurzeln der Berliner Technoszene in der „alten“ Westberliner subkulturellen Szene deutlich werden.

Daniel Schneider

Kapitalistischer Realismus

Sighard Neckel (Hg)
Kapitalistischer Realismus – Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik
Campus-Verlag 2010
308 Seiten
29,90 €

csm_9783593391823_23a493d39bAuch der Kapitalismus ist nicht mehr so, wie er einmal war: Er hat sich verändert, ist vielschichtiger, bunter, lebendiger und vor allem wandlungsfähiger geworden. Der Clou dieses neuen Kapitalismus ist, dass er imstande ist, „Künstlerkritik“, von Künstlern, Kreativen und Intellektuellen geäußerte Kritik, aufzusaugen, sie zu integrieren und anschließend wieder auszuspucken. Auf diese Weise werden Kritik, Widersprüche und Einwände zur neuen Antriebskraft des Kapitalismus, sie befördern dessen Innovation, Flexibilität und Wandlungsfähigkeit. Dies ist die zentrale These, die die Sozialwissenschaftler Ève Chiapello und Luc Boltanski in ihrem epochalen Werk Der neue Geist des Kapitalismus (2003) formulieren.Früher war halt alles besser: Die Rente war sicher, das Wetter im Sommer schöner und die Jugendlichen hatten Besseres zu tun, als Leute zu verprügeln und sich ins Koma zu saufen.

Mit der Wandlungsfähigkeit und Allgegenwärtigkeit des Kapitalismus, seinem Eindringen in alle Lebensbereiche und Nischen beschäftigt sich dieser, aus einer Ringvorlesung an der Universität Wien hervorgegangene Essayband. Die Ringvorlesung zum Thema „Kapitalistischer Realismus. Ethik, Ästhetik und Ökonomie in der Gesellschaft der Gegenwart“ wurde unter dem Eindruck der jüngsten Weltwirtschaftskrise im Jahr 2009 abgehalten und hat bis zum Jahr 2011 nichts an Aktualität eingebüßt.

Den Ausgangspunkt des Essaybandes bildet eine Kunstaktion der Düsseldorfer Künstler Gerhard Richter und Konrad Lueg namens „Leben mit Pop – Eine Demonstration des kapitalistischen Realismus“ aus dem Jahr 1963. Dabei präsentierten die Künstler eine, für die damalige Zeit des Wirtschaftswunders typische, Wohn‑ und Schlafzimmereinrichtung in einem Möbelhaus – eine ästhetische Entlarvung bürgerlicher Konsum‑ und Lebensgewohnheiten. Diese Zurschaustellung deutschen Bürgertums bezog sich jedoch, im Gegensatz zur angloamerikanischen Pop‑Art, nicht auf das Neue, Junge und Glanzvolle dieser Lebenswelt, sondern offenbarte eine gewisse Biederkeit, wenn nicht gar Lächerlichkeit – auch wenn die Intention Richters und Luegs nicht als gesellschaftskritisch, sondern als ironisch verstanden werden wollte.

Fast 50 Jahre später unternimmt die Ringvorlesung eine weitere Analyse kapitalistischer Lebenswelten, diesmal allerdings mit einer klar gesellschaftskritischen Konnotierung. Die 14 Beiträge darin sind punktuelle Beschreibungen und Analysen des kapitalistischen Realismus und entstammen den Disziplinen der Soziologie, Philosophie, Kunsttheorie, Publizistik, den Erziehungswissenschaften, der politischen Ökonomie und der Kulturforschung. Die Themenfelder sind grob in die vier Bereiche Ästhetik, Ökonomisierung, Distinktionen und Konsum gegliedert.

Einleitend beschreibt der Soziologe Sighard Neckel die zentralen Phasen der kapitalistischen Entwicklung sowie Grundzüge des heutigen Kapitalismus. Als erste Phase ist die industrielle Revolution anzusehen, die durch technische Innovationen Massenproduktion und Konsum in einem zuvor ungekannten Ausmaß ermöglichte und einen großen gesellschaftlichen Fortschritt bewirkte. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die zweite Phase, die durch die hoch spezialisierte Arbeitsteilung des Industriekapitalismus geprägt war und großen Teilen der Bevölkerung materiellen Wohlstand bescherte.

Nun befinden wir uns seit den 1980er Jahren in der dritten Phase, dem „Kapitalismus 3.0“: Die graue, eintönige und standardisierte Arbeitswelt des Industriekapitalismus ist einem flexibilisierten und individualisierten Markt‑ und Netzwerkkapitalismus im Zeichen des „New Management“ gewichen. Sicherheit wurde gegen Freiheit eingetauscht, starre und feste Verhältnisse wurden durch Flexibilität und Befristung ersetzt. Der Beruf dient fortan nicht mehr lediglich dem Broterwerb, sondern soll durch gesteigerte individuelle Eigenverantwortlichkeit Selbstverwirklichung und Befriedigung liefern. Mobilität, Flexibilität, Kreativität und Verfügbarkeit werden zu gesellschaftlichen Imperativen, das ganze Leben wird zu einem „Projekt“, dessen Gestaltung und Erfolg, auch jenseits der Arbeitsverhältnisse, jedem Selbst obliegen. Der Kapitalismus dringt so auch in das Privatleben ein, wird zum dominanten Lebensstil und prägt die gesamte Kultur.

So beschreibt Poptheoretiker Diedrich Diederichsen im Anschluss die so genannte „Nietzsche‑Ökonomie“: Intensität, Steigerung und Verschwendung gewinnen die Oberhand über eine vormals dominierende Kultur der Intention. Auch von einer Ökonomisierung ehemals weitgehend unabhängige Bereiche wie Kunst und Kritik werden vom Markt vereinnahmt, wie Isabelle Graw in ihrem Beitrag über den Kunstmarkt aufzeigt. Kunst und Markt stellen keine unüberbrückbaren Gegensätze mehr dar, sondern sind meist eng miteinander verflochten.

Popmusik spielt in diesem neuen Kapitalismus eine wichtige Rolle. Der Beitrag des Journalisten Robert Misik gibt Aufschluss darüber, wie das Popmusik‑Ethos in Form von Coolness und Kreativität in das Wirtschaftsleben aufgenommen wurde. „Kulturelle Allesfresser“ nennt Michael Parzer die neuen Netzwerkkapitalisten und zeigt anhand des Beispiels des ehemaligen Bundesverteidigungsministers und CSU‑Säulenheiligen, Karl‑Theodor zu Guttenberg, dass sich eine Vorliebe für Mozart und AC/DC nicht ausschließen müssen. Es sei vielmehr von Vorteil, sich in möglichst vielen Genres und Bereichen auszukennen, überall mitreden zu können, Kontakte zu knüpfen und so soziales und kulturelles Kapital zu mehren.

Natürlich werden auch die Ursachen und Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise behandelt, wenn etwa bei Birgit Mahnkopf von der „Satansmühle“ der kapitalistischen Ökonomie die Rede ist. Sie sieht in den Bankenrettungen nur eine weitere Ölung dieser „Satansmühle“ und fordert eine drastischere Regulierung der Märkte und eine Abkehr von der kapitalistischen Wachstumslogik.

Spätestens bei der Abhandlung Andrea Roedigs „Zum Geschlecht des Kapitalismus“ – der kommerziellen Ausschlachtung und Verstärkung geschlechtsspezifischer Stereotype durch das Marketing – und Manfred Prischlings Beschreibung des nach Erlebnis und Konsum hungernden kapitalistischen Subjekts beschleicht einen das dumpfe Gefühl, dass er wohl wirklich überall ist, dieser neue Kapitalismus. Doch gibt es denn kein Entkommen, keine Möglichkeit der Kritik oder gar der Rebellion?

Auf diese Frage versucht Ulrich Bröckling im letzten Beitrag einzugehen, wenn er sich der Möglichkeit „anders anders“ zu sein widmet. Eine solche Kritik könne seiner Meinung nach nicht in der bloßen Verneinung und Abkehr der Verhältnisse liegen, da genau dies ein elementarer Bestandteil des Kapitalismus sei und die Voraussetzung für die geforderte Herstellung von Alleinstellungsmerkmalen und Innovationen darstelle. Es sei vielmehr erforderlich, in bestimmten Momenten „anders anders“ zu sein.

Insgesamt ist der Essayband Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik als überaus lesenswertes und wichtiges Buch einzuordnen. Die teils soziologische Sprache macht es vielleicht nicht für jeden leicht verständlich, doch die Lektüre lohnt sich allemal. Wer sich für eine interdisziplinäre und breit gefächerte, wenn auch nicht allumfassende, Beschreibung gegenwärtiger kapitalistischer Verhältnisse interessiert, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen, wenngleich es einen etwas ratlos und leicht verstimmt im kapitalistischen Realismus zurücklässt. Und so bleibt nach der Lektüre dieses Buchs die Frage: War früher vielleicht wirklich alles besser?

Dominik Redemann

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)