Die besten Tage unseres Lebens

Dietmar Simon/Michael Nürenberg
Die besten Tage unseres Lebens – Jugendkultur in Lüdenscheid von 1960 bis 1980
Geschichts- und Heimatverein Lüdenscheid e. V. 2013
288 Seiten
19,90 €

Jugendkultur-Miniaturbild-208x300Der großformatige Band bietet eine Gesamtdarstellung der Jugendkultur in Lüdenscheid und Umgebung in den sechziger und siebziger Jahren, vollgepackt mit fast 1.000 Bildern und Erinnerungen vieler Zeitzeugen an „Beat im Sauerland“ (fast 100 Seiten, damit alleine schon für jeden Beat-Liebhaber und -forscher ein Muss), Jazz und Krautrock, Jugendreisen in Zeiten des Kalten Krieges, die Lüdenscheider APO, Gammler, Rocker, Drogen („Rauschgiftwelle hat auch die Bergstadt erreicht: 30 Prozent der Oberstufenschüler am Zeppelin-Gymnasium sollen ‚haschen‘“ – Westfälische Rundschau am 12. August 1970), Jugendkneipen, Randale beim Deep-Purple-Konzert und vieles mehr …

Klaus Farin

Ware Inszenierungen

Dietrich Helms und Thomas Phleps (Hrsg.):
Ware Inszenierungen – Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik
transcript 2013
230 Seiten
21,80 €

Bild

Der Arbeitskreis Studium Populärer Musik ASPM veranstaltete im November 2011 eine Tagung „Populäre Inszenierungen / Inszenierungen des Populären in der Musik“, als dessen Ergebnis dieses Buch entstand. Der Band untersucht das Verhältnis von „Echheit“, auch Authentizität genannt, zur Inszenierung, der bewußten Darstellungsweise von Image und Musik.

Philipp Auslander geht in seinem Text z. B. auf das Problem des Live-Erlebnisses bei elektronischer Musik ein, bei der die traditionelle Live-Darbietung einer handwerklich arbeitenden Musikerpersönlichkeit wegen der entweder vorproduzierten Tracks oder des nur mit Knöpfchen versehenen Equipments nicht stattfindet. Dennoch fordert das Publikum eine visuelle Umsetzung der dargebotenen Klänge, auch diese neuartige Musik braucht ein herkömmliches Konzerterlebnis.

Ralf von Appen setzt sich mit dem Verhältnis von Authentizität und Inszenierung auf der Bühne ein. Dabei geht er von vier Dimensionen der Authentizität aus: persönliche Authentizität (d. h. die Künstlerperson verwirklicht sich auch in einer Bühnenshow als kreative Persönlichkeit), sozio-kulturelle Authentizität (die Verkörperung der Werte und Normen der Subkultur, aus der die Künstler_innenkarriere hervorging), handwerkliche Authentizität („reale Musik“ wird von „realen Händen“ gemacht) sowie emotionale Authentizität (echte Gefühle und Emotionen, eigenes Erleben als Grundlage der Darbietung). Im Weiteren legt er dar, mit welchen Strategien diese Authentizität in einer effektiv organisierten und durchgeplanten Realität dargestellt, also inszeniert, wird. So sind spontan auf die Bühne geholtes Publikum und Wohnzimmertourneen der Toten Hosen, Unplugged-Konzerte oder die sorgfältig durchchoreographierten Zufälle in einer Adele-Show Mittel, um dem Publikum die geforderte „Echtheit“ zu präsentieren. Die „Inszenierung authentischer Inauthentizität“ ist da nur eine logische Folge: deutlich und bewusst die Künstlichkeit herauszustellen als Äußerung authentischen Künstlertums. Auf weitere Konzepte des Authentischen und Inauthentischen geht Christoph Jacke ein, insbesondere auf die inszenierte Natürlichkeit bei einigen Interviews mit so inszenierten Stars wie Lady Gaga.

André Doehring schreibt über den Wandel des Begriffs „Independent“ von einer wirtschaftlichen Kategorie über eine Haltung der künstlerischen Produktion bis hin zu einem Musikgenre. Auch die Texte über Pressekonferenz-Strategien (Anja Peltzer) und dokumentarische Strategien der (west)deutschen Populärkultur (Barbara Hornberger) widmen sich immer wieder dem Aspekt der „gemachten“ Echtheit. Besonders deutlich tritt diese Methode des Marketings am Beispiel der Tänzerin und Sängerin Josephine Baker zutage, die es in den Anfangsjahren des vorigen Jahrhunderts vom Tanzstar bis hin zu Sängerin und Filmstar brachte. Dies setzt Christian Diehmer in seiner Abhandlung über einen bewußt zwiespältig gehaltenen Titel der Band „Rammstein“ (Mann gegen Mann) fort: Ist das Authentische inszeniert, ist das eine authentische Inszenierung?

Diese Sammlung thematisiert, was Musik-Kund_innen gewiß nicht gerne hören: es ist harte Arbeit etwas „echt“ klingen zu lassen, es ist Kalkül, unverstellt zu wirken und es ist sorgfältige Inszenierung, eine Band spontan auftreten zu lassen. Diese Authentizitätswirkung ist ein hohes Gut der Rock- und Popmusik und zahlt sich (oft) aus, Horden von Manager_innen und PR-Agent_innen versuchen stets aufs Neue diesen  Eindruck von unverbrauchter Echtheit zu verkaufen. Ich habe jedenfalls meine Schallplatten nach der Lektüre des Buches noch einmal ganz anders gehört: als Produkte der Musikindustrie, und doch mit Schmerz und Wildheit eingespielt.

Peter Auge Lorenz

Prügel vom lieben Gott

Alexander Markus Homes
Prügel vom lieben Gott – Eine Heimbiographie
Alibri Verlag 2012 (erweiterte Neuauflage)
141 Seiten
12,50 €

Unmittelbar nach der Erstveröffentlichung 1981 zog das Buch Prügel vom lieben Gott einen jahrzehntelangen Rechtsstreit und Kampf um Glaubwürdigkeit nach sich. Der Autor Alexander Maria Homes skizziert diese Buchkarriere ausführlich auf den ersten 40 Seiten in einem eindringlichen Prolog. Da sein Buch eines der ersten autobiographischen Zeugnisse eines Heimbewohners darstellte, stieß es auf vielerlei Widerstände. Sein damaliger Anwalt Hans Christian Ströbele drückte es 2010 so aus: „Der Fall Homes kam 30 Jahre zu früh, die Gesellschaft war ich [sic] nicht bereit. Zudem war es ein einzelner Heimbewohner, der sich wehrte.“ (Interview 3sat zur Veröffentlichung der Dokumentation Die verlorene Kindheit des Alexander H.). Homes musste sich in zahlreichen Gerichtsverfahren gegen den Vorwurf der Verleumdung und übler Nachrede wehren, angestrebte Strafverfolgungen gegen Heimmitarbeiter wurden wegen Verjährung eingestellt. Die Vehemenz, mit der die Kirche die Veröffentlichungen dieses und weiterer Bücher vereiteln wollte, kritische Fernsehbeiträge an der Ausstrahlung hinderte und den Autor mit einer pädophilen Hetzkampagne überzog, ist erschütternd. Weitere Auflagen dieses Buches wurden nur durch den eingefügten Zusatz möglich, die geschilderten Ereignisse seien „literarisch verarbeitet und verfremdet“.

Vom Prolog angemessen auf die Bedeutung des Buches vorbereitet, findet man auf den folgenden 100 Seiten der Neuauflage die Biographie eines Heimkindes zwischen 1961 und 1975. Aufgrund einer durch den Amtsarzt vollzogenen und quasi willkürlichen Zuordnung als Lernbehinderter wird Homes im schulfähigen Alter von einem Kinderheim in das Sankt Vincenzstift Aulhausen überwiesen, eine Einrichtung für Lernschwache und geistig Behinderte. Es folgen neun traumatische Jahre, die der Autor auf eine schnörkellose, plastische und sehr direkte Weise beschreibt. Lose zusammenhängende Ereignisse geben einen Heimalltag wieder, der von Lieblosigkeit und Angst geprägt ist. Im Namen Gottes werden den Kindern mithilfe von Gewalt und Demütigung absoluter Gehorsam und Gottesfürchtigkeit gelehrt. In Selbstreflexionen wirft Homes interessante Fragen über die Auswirkungen solcher Erziehungsmethoden auf den Glauben und die Psyche eines Kindes auf. Ein Interview mit einer ehemaligen Nonne im Prolog veranschaulicht dabei auch die andere Seite und liefert einen interessanten Beitrag über Schuld und Glauben.

Neben der Rolle des Glaubens und den Konsequenzen gewalttätiger Erziehung geht Homes auch auf den Bereich der Pädophilie ein. Nicht nur der sexuelle Missbrauch durch den Arzt, sondern vor allem das Thema der Zwangshomosexualität erhält einen angemessenen Raum in beiden Teilen des Buches. Homes beschreibt die psychischen Ursachen für seine sexuelle Präferenz für jugendliche Männer und gibt einen authentischen Einblick in die Gefühlswelt eines sexuell verstörten Kindes und Jugendlichen.

Insbesondere die in den letzten Jahren verstärkte Debatte über schwarze Pädagogik in kirchlichen Betreuungsanstalten und die Frage nach Kenntnis und Verantwortung der Beteiligten erhält durch die dreißigjährige, von gerichtlichen Auseinandersetzungen geprägte Existenz dieses Buches eine neue zeitliche Perspektive. Es ist nicht zuletzt auch das Sankt Vincenzstift Aulhausen, welches in der im September 2013 veröffentlichten Studie Behindertenhilfe und Heimerziehung: Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945 bis 1970) von Bernhard Frings untersucht wurde und als Beispiel für den Willen der Kirche gilt, mit der zögerlichen Verarbeitung ihrer damaligen Heimerziehungspraktiken zu beginnen.

Ute Groschoff

Gerahmter Diskurs

Jonas Engelmann
Gerahmter Diskurs – Gesellschaftsbilder im Independent-Comic
Ventil 2013
336 Seiten
24,90 €

BildEs ist heiß im Kongo. Ein junger Mann betritt mit geschultertem Gewehr und Tropenhelm eine Kirche, in der Afrikaner_innen mit riesigen, verzerrten, knallroten Mündern in gebrochenem Französisch ein Kirchenlied singen. An seiner Seite läuft ein kleiner, weißer Spitz. Comics zeichnen, nicht nur in Hergés Paradebeispiel kolonialistischer und rassistischer Darstellungsmuster (Tim im Kongo von 1931), Stimmungs- und Menschenbilder ihrer Zeit. Doch wie kann eine Comicanalyse aussehen, die über solche Erkenntnisse hinausgeht?

Die Antwort liefert Jonas Engelmann in seiner im Mai 2013 im Ventil Verlag veröffentlichten Dissertation, die bereits jetzt als neues Standartwerk der Comictheorie gefeiert wird. In Gerahmter Diskurs wird der Comic nicht nur als Zeitdokument behandelt, an dem rassistische und reaktionäre Tendenzen aufgezeigt werden können, sondern auch als ein Medium, das aktiv Gesellschaftskritik übt. Engelmann nimmt dabei das subversive Potential des Independent-Comics, der Missstände und Ausgrenzungsmechanismen offenlegt, in den Blick und spannt dabei ein weites Netz aus zeitgenössischen Comicerscheinungen und deren Traditionslinien auf. Die südafrikanischen Bittercomix, die sich die Ästhetik von Tim im Kongo aneignen und eine Reflexion in Manier der Critical Whiteness liefern, legen dabei beispielsweise ihren Finger auf die Wunde der Apartheidsgesellschaft.

Neben dieser Aneignungsstrategie präsentiert Engelmann in drei Themenkomplexen (Rassismus, Krankheit und Religion) ein ästhetisch wie narratologisch breites Spektrum an Verfahren, die von den Autor_innen genutzt werden, um ihre Kritik zu verpacken. Biographische Erzählungen (beispielsweise Marjane Satrapis systemkritischer Comic Persepolis) finden dabei genauso Beachtung wie Inhalte, die auf einer Metaebene thematisiert und zunächst dechiffriert werden müssen.Charles Burns Erzählung Black Hole, in der eine sexuell übertragene Teenageredepedemie zu absurden Mutationen und zum sozialen Ausschluss führt, ist zwar im Raum des Fantastischen angesiedelt, weist aber offensichtliche Parallelen zu dem real-gesellschaftlichen Umgang mit der Krankheit AIDS auf. Burns zitiert dabei zeichnerisch den Stil amerikanischer Horrorcomics der 50er Jahre. Diese griffen einerseits den gesellschaftlichen Diskurs um Moral und Normalität auf, können heute aber auch als Ausdruck einer stark verunsicherten Gesellschaft gelesen werden, die Burns wiederum auf den hysterischen AIDS-Diskurs der 80er Jahre überträgt.

Es sind dabei nicht nur diese interessanten Herleitungen und Bezüge, die Engelmanns Buch so lesenswert machen. Vielmehr arbeitet er akribisch und doch gut nachvollziehbar heraus, inwiefern sich gerade das Medium Comic so gut als Instrument für Gesellschaftskritik eignet. So funktionieren Comics in einem selbstreflexiven, ironischen Modus und reproduzieren gesellschaftlich generierte Bilder, die sie gleichzeitig hinterfragen. Wenn der jüdische Autor Joann Sfar mit stereotypisierten Darstellungen von Juden arbeitet oder die karikaturhafte Diffarmierung von Schwarzen in Tim im Kongo von den Bittercomix übernommen wird, verweist der Comic dabei nicht nur auf Rassismen und Sehgewohnheiten unserer Gesellschaft, sondern auch auf seine eigene, oft auch nicht sehr rosige Geschichte.

Die Comic-typische gegenseitige Durchdringung von Text und Bild liefert zudem vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten. So wird im feministischen Comic Dirty Plotte der Kanadierin Julie Doucet, während diese über ihre Herkunft spricht, eine Karte von Quebec neben der eines weiblichen Körpers abgebildet. Dieser Verweis auf körperliche Zuschreibungen durch Schönheitsideale bildet eine “kulturelle Kartographie”, die sich in einer stark sexualisierten Gesellschaft in die Körper von Frauen einschreibt.

Die Liste an spannenden Themen und Diskursfäden, die in Engelmanns Buch aufgegriffen werden, lässt sich unendlich fortsetzen. Fast beiläufig wird dabei noch ein ziemlich guter Abriss über die Comicgeschichte, die in Deutschland ja erst relativ spät wissenschaftliche Beachtung fand, geliefert. Gerahmter Diskurs ist absolut lesenswert, und auch wenn Engelmann sicherlich in dieselbe Kerbe haut, die bereits Ole Frahm in Die Sprache des Comics bearbeitet hat, vertieft er diese jedoch deutlich.

Hannah Zipfel

Kurzmitteilung

„Man fragt nicht, man bezahlt nicht, man macht!“

Interview mir dem Graffiti-Team des Archivs

HPlogo_cutIn dem sehr empfehlenswerten Online-Magazin Migrazine ist vor kurzem ein ausführliches Interview mit Martin Gegenheimer, Matze Jung und Carsten Janke, Graffititeamer und Macher des Graffitiarchivs im Archiv der Jugendkulturen, erschienen. Sie sprechen darin über ihre Arbeit im Archiv und über aktuelle Entwicklungen von Graffiti und Street Art.

www.graffitiarchiv.org
www.migrazine.at