access denied

Jonas Engelmann u. a. (Hg.):
testcard – Beiträge zur Popgeschichte #20:
access denied – Ortsverschiebungen in der realen und virtuellen Gegenwart
Ventil 2011
296 Seiten
15,00 Euro

tc20_rgbDie 20. Ausgabe der testcard‑Reihe wird überschattet vom Tod Martin Büssers, der im September 2010 in Folge einer kurzen heftigen Krebserkrankung verstarb. Er wurde nur 42 Jahre alt und hinterlässt als Autor, Herausgeber, Zeichner und Musiker nicht nur in der testcard und im Ventil‑Verlag, sondern in der gesamten deutschen Poplinken eine Lücke, die nicht mehr zu füllen sein wird. Auch ein halbes Jahr später fällt es Johannes Ullmaier und Jonas Engelmann in ihrem Nachruf, der der Ausgabe vorangestellt ist, immer noch schwer, ihre Fassungslosigkeit in Worte zu fassen. Zudem wird deutlich, wie kurz das gesamte Projekt aufgrund dieser Tragödie vor dem Aus stand. Da Martin Büsser aber auf die Fortführung bestand, steht die Nummer 20 auch für einen Neuanfang im testcard‑Universum, das bis zuletzt sehr stark von ihm geprägt wurde und jetzt ohne ihn, aber in seinem Sinne weitergeführt werden soll, was mit dieser mehr als lesenswerten Ausgabe auch gelungen ist.

Der Titel access denied. Ortsverschiebungen in der realen und virtuellen Gegenwart lässt vermuten, dass es vornehmlich um die Auswirkungen neuer medialer Technologien auf das alltägliche Leben im Hier und Jetzt geht, doch der Band greift weiter. Vor allem auf den ersten hundert Seiten geht es insbesondere um linke Orte und (Frei‑)Räume und wie sich diese über die Jahre verändert haben und wo sie heute noch anzutreffen sind; umrandet von zwei Gesprächsrunden Kulturschaffender aus dem Norden und Süden, die sich über Städte wie Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt, Wien, Belgrad oder Sarajevo austauschen. Dazwischen rollt Roger Behrens in „Post Pop City Life“ die Entstehung der modernen Großstadt auf und wie sich in ihr die Popkultur entwickelte. Der Stadtsoziologe Klaus Ronneberger unterhält sich mit Pascal Jurt über Stuttgart 21, die Proteste im Hamburger Gängeviertel und Berlin als Zentrum kritischen Denkens in Deutschland. Außerdem schreibt Dagmar Brunow über künstlerische Strategien gegen Gentrifizierung in Hamburg, Annika Mecklenburg untersucht den Hipness‑Faktor von Köln‑Ehrenfeld, Bernd Volkert begibt sich auf Ortsbegehungen mit dem Unsichtbaren Komitee und Florian Neuner erliegt im Winter der Tristesse der „Kulturhauptstadt“ Hamm. Besonders hervorzuheben sind die Artikel „Linke Räume – Short Cuts“ von Torsten Nagel und „Queere Subkultur – Geboren aus der Randständigkeit, bedingt durch den radikalen Moment“ von Verena Spilker. Nagel liefert einen kurzen Abriss der Neuen Linken in Deutschland und stellt die Frage, was Linkssein heutzutage eigentlich bedeuten soll; während Spilker das Wechselverhältnis von queerer Subkultur und Mainstream und Orte, in denen sich Identitäten jenseits der tradierten bürgerlichen Rollenbilder ausformen können, analysiert.

In der zweiten Hälfte folgt dann ein Schwenk hin zur Musik, wobei dem eigenen Selbstverständnis folgend eher abseitiges behandelt und der internationale Fokus erweitert wird. So erfährt man von Ewgeniy Kasakow etwas über die Geschichte des sibirischen Underground-Rocks, Avi Pitchon, in den 1980er Jahren Sänger bei Noon Mem, einer der ersten Punkbands Israels, wird interviewt und Thomas Burkhalter schreibt über „Weltmusik 2.0. Musikalische Positionen zwischen Spaß und Protestkultur“. Außerdem gibt es einen Abriss der deutsprachigen Popmusik mit den Schwerpunkten NDW und Hamburger Schule oder die Aufarbeitung von nationalistischen Tendenzen im Neofolk und Black Metal.

Nach Johannes Ullmaiers großem Abschlussessay „Ortsverschiebungen“ folgen wie immer zahlreiche Rezensionen aus den Bereichen Musik, Film und Literatur, wobei die Besprechungen des Geschriebenen aus den Kategorien Orte, Popkultur/Musik, Politik/Gesellschaft, Sex/Gender, Kunst, Literatur, Comic und Film stammen.

Lohnt sich also wieder mal vollends. Es bleibt zu hoffen, dass uns die testcard noch viele weitere Jahre erhalten bleiben wird.

Jan Ahrens

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Real Niggaz Don’t Die

Andreas Litzbach
Real Niggaz Don’t Die – Männlichkeit im Hip Hop
Tectum 2011
89 Seiten
19,90 €

9783828825710Hip Hop hat sich in den letzten 30 Jahren von einer Subkultur zu einer der kommerziell erfolgreichsten Musikrichtungen entwickelt und rückt immer wieder durch skandalöse Auftritte in den Mittelpunkt. Die teilweise gewaltverherrlichenden oder sexistischen Texte werden häufig von den Medien als schlechter Einfluss auf Jugendliche angeprangert. Man sollte aber nicht vergessen, dass Hip Hop unglaublich vielseitige und unterschiedliche Richtungen entwickelt hat. Viele Jugendliche können sich in den vielfältigen Kunstformen, aus denen sich die Hip-Hop‑Kultur zusammensetzt, ausdrücken. Ob als Breaker, Rapper, Sprayer oder DJ, der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Es ist verständlich, dass Andreas Litzbach in seiner 80‑seitigen Untersuchung Real Niggaz Don’t Die – Männlichkeit im Hip Hop nur einen Einblick in das Lebensgefühl und die Attitüden des Hip Hop und der Künstler geben kann. Von der Fragestellung ausgehend, inwiefern sich im Hip Hop ein übersteigertes Männlichkeitsgefühl oder Sexismus manifestiert, nähert sich der Autor aus soziologischer Sicht dessen Ursprüngen und Erscheinungsformen an.

Einleitend gibt er einen Überblick über die vier Basiselemente des Hip Hop. Dabei legt er seine Schwerpunkte besonders auf den Wettkampfgedanken und die in den 1980ern frisch entstandene Gegenbewegung zur Pop‑Kultur, die sich völlig neue Ausdrucksformen aneignete. Wenn man bedenkt, dass Hip Hop in den Vierteln entstand, die von Armut und Kriminalität geprägt sind, ist es naheliegend, dass sich konkurrierende Künstler nichts schenken und es auch zu Gewalt kommt. Die Idee der Battles ist dafür ein ganz bezeichnendes Beispiel.

Neben Genres wie dem Party‑Rap, wie ihn Will Smith verkörpert, entwickelten sich Genres wie z. B. der Gangsta-Rap (Public Enemy) oder Polit‑Rap (engl.: conscious Rap; Dead Prez, Mos Def). Auf den Gangsta‑Rapper geht der Autor in seiner Untersuchung besonders ein, da sich vor allem dieser als „einsamer Krieger, der typische Mann der Straße“ darstellt. Bei all diesen Kategorien sollte man nicht vergessen, dass die Grenzen fließend oder eigentlich fast nicht vorhanden sind. 2Pac wäre seinen Texten nach zu urteilen eher eine Mischung aus allen Formen und auch von Public Enemy gibt es Lieder zum Feiern. Da Hip Hop aus vielfältigen Kunstformen besteht, lebt man als leidenschaftlicher Hip Hopper nicht nur eine davon. Viele DJs rappen oder sprühen, ebenso wie sich Sprayer in der Musikbranche beweisen.

Weiter geht Litzbach auf die Ursprünge der sprachlichen Kultur ein, die in den Rap‑Texten Ausdruck findet und beschreibt diese als eine orale Kultur, in der Rhythmus, Reim und Sinnlichkeit eine größere Rolle spielen als in schriftlich geprägten Kulturen. Das kämpferische Element ist auch hier eines der Merkmale, auf die der Autor verweist. Bezogen auf den Körper, der als Ausdrucksmittel unverzichtbar ist, werden Themen wie die Soziologie des Körpers und dessen Einsatz in der Performance aufgegriffen. Auch hier werden theoretische, geschichtliche und kulturelle Besonderheiten erläutert.

In der wissenschaftlichen Darstellungsform liegt der Schwerpunkt auf dem Männlichkeitsideal, das sich besonders in Songtexten und in der Präsentation des eigenen Körpers erkennen lässt. Dieses Ideal wird von den Gangsta‑Rappern oft in übersteigerter und aggressiver Form angestrebt. Songzitate von Crews wie N.W.A. oder Public Enemy sowie bildliches Anschauungsmaterial sind als Quellen gut geeignet und authentisch. Der Spielraum für aktuelle Bezüge und Beispiele aus anderen Stilrichtungen bleibt dabei leider begrenzt.

Andreas Litzbach gelingt es, über seiner Kritik am Machismo hinaus die Geschichte und Werte des Hip Hop zu beleuchten und soziologische Fragen in Bereichen wie Musik‑, Sprach‑ und Körperkultur zu beantworten. Wer schon immer mal wissen wollte, welche gesellschaftlichen Ursprünge der Hip Hop‑Kultur zugrunde liegen und was einen „real Gangsta“ ausmacht, sollte sich auf jeden Fall Real Niggaz don’t die beschaffen. Die Diskussion war oftmals von einer moralischen Entrüstung geprägt, und Rap wurde zum Signifikant(en) für die Folgen ungelöster politischer Probleme. So wurde nicht der Verfall der urbanen Zentren und die ökonomische Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung diskutiert, sondern, wie diese Probleme im Rap repräsentiert wurden.

„Die Diskussion war oftmals von einer moralischen Entrüstung geprägt, und Rap wurde zum Signifikant(en) für die Folgen ungelöster politischer Probleme. So wurde nicht der Verfall der urbanen Zentren und die ökonomische Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung diskutiert, sondern, wie diese Probleme im Rap repräsentiert wurden.“

Julia Dalmer

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Street Style

Ted Polhemus
Street Style – New Edition
PYMCA Verlag 2010
225 Seiten
19,95 €

SS_COVER_02_Lo-ResTed Polhemus beschreibt in seiner überarbeiteten Ausgabe von Street Style die Mode, Musik und Werte der Subkulturen, die sich in den letzten 50 Jahren weltweit entwickelt haben. Er geht dabei von Großbritannien und den USA aus, wo Rocker oder Teddy Boys in den 1950ern, Skinheads und Mods in den 1970ern, Hip Hopper oder New Romantics in den 1980ern etc. nicht nur als Außenseiter der Gesellschaft gesehen wurden, sondern sich ihr „Style“ in einer breiteren Öffentlichkeit niederschlug.

Nicht nur die Musik, sei es Rock’n’Roll, Punk oder Gothic, wurde zum festen Bestandteil des Mainstreams, sondern auch die Mode kam vom „Sidewalk zum Catwalk“. Der Autor verweist dabei auf die Problematik, die sich aus diesem Phänomen ergibt, und die darin besteht, dass der Street Style, sobald er kommerzialisiert wird, Gefahr läuft, seine Einzigartigkeit bzw. Individualität zu verlieren. Auch wenn man sich keiner Gruppe wirklich anschließen will, wollen die meisten sicher nicht als „Fashion Victim“ gelten. Der Style ist „heute die fundamentale und unersetzbare Sprache, mit dem wir mit unserer Identität experimentieren und mit dem wir diese Identität dem Rest der Welt vermitteln“.

Die Gefahr, im Mainstream aufzugehen, gab den Kreativen immer wieder den Anstoß, eine alternative Gegenkultur zu schaffen und vereinte die gegensätzlichsten Subkulturen. Unter anderem diese Tendenzen machen deutlich, worauf es beim Street Style wirklich ankommt, nämlich die Hingabe und das Bekenntnis zu einem jeweiligen „Stamm“. Als solche definiert zumindest Ted Polhemus seine „Style Tribes“, die er in den einzelnen Kapiteln vorstellt. Diese haben ihren Ursprung zwar in der Musik, doch unterschiedliche Genres werden ab den 1970ern durch Kleidung und Events vereint. Punks und Hippies schlossen sich zum Beispiel auf der Suche nach Freiheit und autonomen Zonen zu den New Age Travellers zusammen.

Mit Sensibilität und Leidenschaft stellt Polhemus den historischen Kontext, die Attitüden und die Auswirkungen der Subkulturen dar. Er charakterisiert die Musik und die Mode sehr genau und veranschaulicht seine Schilderungen mit Bildmaterial aus New York, Tokyo, London, Mexiko oder Shanghai. Die Ausgabe liest sich teilweise durch die Fülle an Photos wirklich wie ein Fashion Magazin, ist im Gegensatz dazu jedoch viel ergiebiger im Bezug auf die Hintergründe und Soziologie. Eine Infobox nach jedem Kapitel gibt dem Leser die Möglichkeit, sich eingehender mit der Szene anhand von Literatur, Musik und Filmen zu beschäftigen.

Dem Autor gelingt es, trotz ständiger Weiterentwicklungen und wechselnder Fashionmetropolen einen nachvollziehbaren und lebhaften Überblick über Jugendkulturen zu geben. Eine Hommage an die Authentizität und Kreativität der Mode und ihrer Macher, die hier nicht die großen Designer sind, sondern Jugendliche, die ihre Ideen und ihre Musik mit ihrem Style ausdrücken.

Julia Dalmer

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Honig aus dem zweiten Stock

Heide Kolling
Honig aus dem zweiten Stock
Assoziation A 2008
128 Seiten
18,00 €

cover_honig-webAuch wenn die Hochzeiten der Häuserbesetzungen schon ein paar Jahrzehnte zurückliegen und die einschlägigen Medien immer wieder von Räumungen besetzter Häuser berichten, so gibt es sie noch: Hausprojekte, deren Bewohner dem „Trend zur Vereinzelung und individuellen Lebensbewältigung“ durch die Form des kollektiven Zusammenlebens trotzen.

Die Textbildcollage von Heide Kolling bietet durch 16 Interviews Einblicke in das Leben der Bewohner von vier Berliner Hausprojekten und versucht auf diese Weise Ähnlichkeiten, Eigenheiten, Vorzüge und Konflikte dieser Lebensform aufzuzeigen. Dabei reicht das Spektrum der daraus entstehenden subjektiven Erzählform von der Schilderung des Lebensalltags der Bewohner und der Organisation der Hausprojekte bis hin zu den Schwierigkeiten von Beziehungen in Hausprojekten, drohenden Wohnungsräumungen und Kinderplena.

Durch die starke Gemeinschaft des kollektiven Lebens, dem offenen Zusammenleben mit unterschiedlichsten Personen und der Möglichkeit „über den Tellerrand zu gucken“ werden Hausprojekte für die Bewohner zu einer ernsthaften Alternative zur (klassischen) Kleinfamilie. Der semi‑öffentliche Raum und die eingeschränkt vorhandene Privatsphäre schaffen dabei ein Kontinuum, das ständig zwischen Nähe und Distanz, Freundschaft und Abschottung, Geborgenheit und sozialer Überforderung pendelt.

Insgesamt liefert die Textbildcollage kurzweilige und interessante Einblicke hinter die Fassaden dieser alternativen Lebensform. Durch die vereinzelte und subjektive Darstellung nimmt sie keine analysierende Außen‑Perspektive ein, sondern erzeugt das Gefühl, diese Lebensform von innen betrachten zu können. Auf diese Weise kann sie vielleicht einen kleinen Teil dazu beitragen, selbst einmal über den eigenen Tellerrand zu blicken.

Dominik Redemann

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Welche Farbe hat Berlin?

David Wagner
Welche Farbe hat Berlin?
Verbrecher Verlag 2011
215 Seiten
14,00 €

1199_LEin paar Meter rekonstruierte Friedhofsmauer schließen sich an, dann folgt ein weiteres Stück Grenzmauer, hier aber hängen Armierungseisen heraus, als ob sie von riesigen, betonknabbernden Kaninchen freigenagt worden wären. Die Häuser auf der anderen Straßenseite, da, wo Westen war, ducken sich zweistöckig und balkonbewehrt hinter ihren verbuschten Vorgärten. Sieht aus, als hätten sie nie über die Mauer hinaus sehen wollen. David Wagner ist der moderne Flaneur im Berlin der 2000er Jahre. Sinnierend erwandert er mehr oder weniger bekannte Plätze und Viertel der Stadt, rekapituliert Geschichte und Kulturereignisse, beobachtet Einheimische und Touristen, kommentiert Wandlungsprozesse vor und nach dem Fall der Mauer und zeichnet so ein Bild der Hauptstadt, das persönlich und distanziert zugleich ist. Seine Sprache ist unaufgeregt, aber fantasievoll, wie hier, im Kapitel „Bernauer Straße“:

Ein paar Meter rekonstruierte Friedhofsmauer schließen sich an, dann folgt ein weiteres Stück Grenzmauer, hier aber hängen Armierungseisen heraus, als ob sie von riesigen, betonknabbernden Kaninchen freigenagt worden wären. Die Häuser auf der anderen Straßenseite, da, wo Westen war, ducken sich zweistöckig und balkonbewehrt hinter ihren verbuschten Vorgärten. Sieht aus, als hätten sie nie über die Mauer hinaus sehen wollen.

Manche seiner Themen, wie die Gentrifizierung ehemaliger Arbeiterviertel oder der 1. Mai in Kreuzberg, erscheinen nahe liegend, andere, wie die Menge der Glasscherben auf den Gehwegen als Indikator für die Angesagtheit eines Szeneviertels, sind noch nicht so oft besprochen worden. Gemein ist allen seinen Betrachtungen der Sinn für Details und die Muße, sie immer wieder neu zu erzählen. Ein schönes Lesebuch, um das eigene Berlin in Ost oder West darin zu finden oder unbekannte Orte neu zu entdecken. Und welche Farbe Berlin letztendlich hat – nun, ganz viele und immer andere.

Gabriele Vogel

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950

von Gabriele Vogel (aus dem Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Tagungsbericht

Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg veranstaltete am 29. und 30. September 2011 eine Konferenz zur Frage nach der Kategorie „Männlichkeit“ im Kontext der deutschen Musikkultur nach 1950. Ausgehend von der Feststellung, dass sich die Forschungen im Bereich der Musik bisher zumeist mit der kulturellen Anteilnahme von Frauen befassten, erscheint es gleichwohl mehr als angebracht, sich ebenso der Konstruktion und Darstellung von Männlichkeiten in weit gefächerten musikalischen Kontexten zu widmen. Das Ziel ist hier eine im Idealfall symmetrische Musikgeschichtsschreibung, eine gendersensible Musikpädagogik und Soziale Kulturarbeit.

Grundlage der aktuellen Forschung zu „Männlichkeit“ ist es, diese als ein relationales Konzept zu betrachten. Männlichkeit existiert folglich nicht „an sich“, sondern immer nur in Abgrenzung und im Gegensatz zu einer – ebenfalls gesellschaftlich konstruierten – Weiblichkeit. Weiterhin kann nicht von einer singulären, unveränderlichen Männlichkeit gesprochen werden, da diese in diversen (sub‑)kulturellen und historischen Kontexten in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu beobachten ist.

Seit sich Raewyn Connell in den 1980/90er Jahren ausführlich mit Masculinities (so der Originaltitel ihres 1995 erschienen Buches, deutscher Titel: Der gemachte Mann) auseinandergesetzt hat, wird in der kritischen Männlichkeitsforschung zumeist das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit miteinbezogen. Connell zufolge stehen Männlichkeiten in einer hierarchischen Ordnung zueinander, innerhalb derer die Hegemoniale Männlichkeit die zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptierte Form von Männlichkeit darstellt. Andere, so genannte Untergeordnete Männlichkeiten – untergeordnet z. B. aufgrund ihrer (nicht hetero‑)sexuellen Orientierung – oder Marginalisierte Männlichkeiten – marginalisiert z. B. aufgrund ihrer (nicht weißen) Hautfarbe – existieren laut Connell nachrangig. Gemeinsam jedoch ist sämtlichen Männlichkeiten eine Komplizenschaft untereinander, die dazu führt, dass alle Männer von der so genannten patriarchalen Dividende profitieren, die sich aus der allgemeingesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen ergibt und sich beispielsweise in der Ausgrenzung und Unsichtbarmachung von Frauen in bestimmten, als „männlich“ konnotierten Domänen auswirkt. Der Bereich der Musik ist eines der Felder, in dem dieses Phänomen nach wie vor hohe Gültigkeit erlangt. So war es ein Anspruch der Tagung, die in diversen Musikgenres erscheinenden Formen von Männlichkeit nicht als selbstverständlich gegeben hinzunehmen, sondern genau diese zu untersuchen und zu hinterfragen.

Die vorgestellten Beiträge beschäftigten sich sowohl mit Bereichen der so genannten E‑Musik (von Beethoven bis Stockhausen) als auch der U‑Musik (von Volksmusik über Heavy Metal bis Gangstarap). Thematisiert wurden Aspekte der unterschiedlichen Rezeption von Musik im geteilten Deutschland der Nachkriegszeit ebenso wie einzelne Instrumente „am Manne“, wie die Trompete oder die Gitarre, bis hin zu der Relevanz von Genderaspekten bei musikbegeisterten Jugendlichen und in der Jugendkulturarbeit. Der geplante Ablauf gliederte sich, nach einer Begrüßung und einem Eröffnungsvortrag, in Sektion 1: Die Kategorie Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert und ihre Relevanz für die Musik in Ost‑ und Westdeutschland am Donnerstag, am Freitag folgten Sektion 2: Instrument – Institution – Männlichkeiten, Sektion 3: Männlichkeit(en) in popularmusikalischen Gattungen und Sektion 4: Männlichkeiten und ihre Relevanz für die Musik‑ und Sozialpädagogik.

Nach der Begrüßung durch den Dekan Dr. Matthias Pape, die Gleichstellungsbeauftragte Prof. Dr. Sabine Stövesand und die Tagungsleiterin Prof. Dr. Marion Gerards eröffnete Prof. Dr. Stefan Horlacher die Vortragsreihe mit dem Beitrag „Von den Gender Studies zu den Masculinity Studies. Aktuelle Konzepte der Männlichkeitsforschung im Überblick“. Das Referat bot einen Einblick in den aktuellen Stand der Masculinity Studies, die, so wurde betont, keineswegs in Konkurrenz zu den Gender Studies stünden, als vielmehr diese ergänzend unterstützen würden, da die Geschlechterforschung in ihren Anfängen den Fokus zunächst zentral auf Weiblichkeit bzw. Frauen gerichtet hätte. Dass jedoch der Status der Männlichkeit, wie auch immer dieser definiert sein mag, ausgesprochen mühsam zu erreichen sei und „Mann“ diesen nicht selbstverständlich zugesprochen bekäme, rechtfertige die intensive und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Männlichkeitskonzepten. Diese erscheinen zudem, je nach wissenschaftlicher und auch politischer Ausrichtung, unterschiedlich und streitbar. So gebe es durchaus die Kritik an Connells Ansatz, er löse sich nicht ausreichend von einer patriarchalen Geschlechterkonzeption und bipolaren Geschlechterkonstruktion. Weitere Ansätze, die im Eröffnungsvortrag nur angerissen wurden, wie beispielsweise die der Männerrechtsbewegung oder auch spirituelle, moralisch‑konservative oder soziobiologische Perspektiven, zielen zudem auf eine weit essentiellere Ausrichtung von Männlichkeitskonzeptionen.

Die beiden nachfolgenden Vorträge, „Rückblicke. Ausblicke: Der Komponist als gottgleiche Gestalt“ von Prof. Dr. Beatrix Borchard und „Beethoven 1970: Männlichkeitsinszenierungen als politische Strategie in Ost und West“ von Dr. Nina Noeske widmeten sich dem Bereich der klassischen Musik und hier vor allem dem Komponisten Ludwig van Beethoven. Prof. Dr. Beatrix Borchard referierte zu Beethoven als „Tonschöpfer“, einer Art Gottgestalt im jüdisch‑christlichen Sinn, die bis vor kurzem nur männlich gedacht werden konnte und kam damit zu der Frage, auf welchen Denkmustern diese Analogie zwischen Genie und Gott beruhe und ob dieses Rollenmodell auch heute noch Gültigkeit erlange. Auch der nachfolgende Beitrag beschäftigte sich mit der Rezeption von Beethoven, dessen 200. Geburtstag in den 1970er Jahren sowohl in der BRD als auch in der DDR vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer und kultureller Vereinnahmung inszeniert wurde.

Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete das Thema „Männlichkeit/en in populärer Musik – Artikulationsmuster in den Deutschlands der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Dr. Monika Bloss fragte in diesem Kontext nach der Beständigkeit konservativer Geschlechterbilder und richtete den Fokus zunächst auf den deutschen Schlager in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Während die Darstellung einer bürgerlichen Idylle und die Präsentation einer solidarischen Männergemeinschaft im westdeutschen Mainstream vorherrschten, wurden zunehmend außerdeutsche Traditionen vor allem nach US‑amerikanischem Vorbild übernommen, wobei das Erscheinungsbild männlicher Interpreten im normierenden Anzug und mit zurückhaltenden Bewegungen auf der Bühne relativ ungebrochen blieb. Jedoch entsprach das im Schlager vermittelte Männlichkeitsbild immer weniger den Vorstellungen der Jugendlichen, wie die in der Bravo veröffentlichten Hitlisten belegen. Zur Mitte der 1970er Jahre hin fanden sich kaum noch deutsche Interpreten und Schlagertitel in den Bravo‑Charts, welche den Hörergeschmack stärker repräsentierten als die von der Musikindustrie erstellten Hitparaden. Ursächlich war hier nicht nur ein verändertes Männlichkeitsbild, auch das Rezeptionsverhalten der Jugendlichen hatte sich stark in Richtung internationaler Pop‑ und Rockmusik orientiert. Darin manifestierte sich der eigentliche Protest gegen die Schlagerwelt und damit auch gegen das Denken und die Spießbürgerlichkeit der Eltern. Junge Männer erlaubten sich hier, eigene Ansprüche zu formulieren und gegen Erwartungsmuster aufzubegehren, sei es mit langen Haaren oder mit lauten Gitarrenklängen und anzüglichen Hüftbewegungen.

Die Situation in der DDR erschien in den 1950er Jahren kaum unterschiedlich zu der im Westen. Nach dem Mauerbau waren US‑amerikanische Künstler über das Radio präsent und über verfügbare Schallplatten, die unter Jugendlichen zirkulierten. Die allgemeine Empörung über den Rock’n’Roll ähnelte der im Westen. Die Distanzierung zur US‑amerikanischen Kultur hatte jedoch in Ostdeutschland Konsequenzen, die nicht nur ideologisch, sondern auch ökonomisch motiviert waren. So trat 1958 die so genante 60:40‑Regelung in Kraft, die vorschrieb, dass der überwiegende Teil von Veranstaltungen und Sendungen von Komponisten stammen musste, die den Wohnsitz in der DDR, Sowjetunion oder in Volksdemokratien hatten und im sozialistischen Alltag verwurzelt waren. Vorgabe war es, die Texte frei von bürgerlicher Dekadenz und sentimentalem Kitsch zu halten. Darüber, wie dies musikalisch oder anhand des Künstlerimages hergestellt werden sollte, gab es nur vage Vorstellungen, vor allem sollte eine „saubere“ Lebensweise abgebildet werden. Unklar war auch, wie diese Vorgaben in quantitativer Hinsicht bedient werden sollten, geschweige denn, wie geschlechtsrelevante Aspekte darin Platz finden sollten.

Am Beispiel des Soul kann schließlich aufgezeigt werden, wie groß die Diskrepanz zwischen einer sinnlichen, sexualisierten Musik und dem kopflastigen Männerbild in Deutschland war. Hier ließ sich eine auffallende Reserviertheit selbst der Jugendgeneration gegenüber amerikanischen Musikern erkennen, da anfangs fast gänzlich darauf verzichtet wurde, diese Musikrichtung zu imitieren und nur wenige Bands Soultitel in ihr Repertoire aufnahmen. Etwas breiter gelangte Soul erst im Laufe der 1970er Jahre in den popmusikalischen Alltag, als verschiedene Synthesen von Rockstilen praktiziert und Jazzrock, Funk und Soul zu einem Konglomerat vermischt wurden. Ein wichtiges zentrales Prinzip von Männlichkeit, nämlich Kontrolle, hier im Sinne von Kontrolle über den eigenen Körper, zeigte sich in Deutschland eher als ein Ausblenden des Körpers denn als körperliche Bewegung, kontrolliert in Form des Tanzens. Ein weiteres Beispiel des Umsetzens von Kontrolle im Kontext von Musik war, dass sie, kombiniert mit Leistungsfähigkeit, in Deutschland eher perfektes Handwerk bedeutete als freudiges Musizieren.

trompeterDen Einstieg in den zweiten Konferenztag umriss die Frage „Ist das Männliche das Allgemeine?“. Hierzu referierte Prof. Dr. Dörte Schmidt über „Komponisten zwischen Abstraktion und Konkretion im Umfeld der Darmstädter Avantgarde mit einem Seitenblick auf Stockhausens Originale“. Im Anschluss ging Dr. Verena Barth speziell auf „Männlichkeitsinszenierungen im Umfeld der Trompete“ ein und führte aus, inwieweit sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen zum männlichen Bereich am Instrument Trompete traditionell manifestierten. Anhand von Stereotypen lässt sich eine spezifische Form von Männlichkeit erkennen, die der Trompete klischeegemäß zugeschrieben und akustisch, optisch und in Interaktion dargestellt wird. Die Männlichkeitsinszenierung des Trompeters zeichnete sich durch Männerbündelei, Trinkfestigkeit, hohe Körperkraft und eher geringeren Intellekt aus, zudem folgte ihm der Ruf, ein ausgesprochener Fraueneroberer zu sein. Im Gegensatz dazu war z. B. die Geige ein Instrument der Akademiker, aber auch Flöte war schon an Musikhochschulen studierbar, während Trompete noch lange als Lehrberuf galt.

Sowohl in vorchristlichen als auch in außereuropäischen Kulturen war die Trompete im Kontext von Militär oder Ritualen präsent und zumeist Männern vorbehalten. Zudem galt sie als Führungsinstrument. Ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden Trompeten zunehmend auch von Frauen gespielt. Unter Blechbläsern, die allgemein in Gruppen auftraten, wurden Trompeterinnen zunächst als „die Harmonie störend“ empfunden. Leichter hatten es hier Frauen, die relativ maskulin auftraten. Nach und nach änderten sich jedoch der Klang und die Spielweise der Trompete. Dämpfer wurden eingesetzt, der Ton der Trompete wurde weicher. Bisherige Normen verloren ihre Gültigkeit. Erkennbar sind hier Aushandlungsprozesse, die sowohl stereotype Repräsentationsmuster als auch soziale Praktiken betreffen. Die künstlerische Selbstdarstellung beinhaltet immer wieder auch eine interaktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität und gesellschaftlichen Gendernormen.

Den zweiten Beitrag zu einem spezifischen Musikinstrument bot Dr. Birgit Kiupel mit dem Vortrag „E=XY? Die E-Gitarre und die Inszenierungen von Männlichkeiten“. Anhand von Interviews mit dem Gitarristen Ladi Geisler, der im Nachkriegsdeutschland die erste E‑Gitarre bastelte und Achim Reichel, der von seiner Suche nach musikalischem Ausdruck in der deutschen Rockmusik erzählt, werden Versuche aufgezeigt, sich auf musikalischem Wege einer erfolgreichen männlichen Identität zu versichern. Auch der Sänger und Songwriter Carsten Pape konnte feststellen, dass ansonsten eher unscheinbare junge Männer dank des Gitarrenspiels Anerkennung finden können. Kritisch hinterfragt wurden starre Rollenerwartungen am Beispiel der transsexuellen Gitarristin Carola Kretschmer. Sie spielte in Udo Lindenbergs „Panikorchester“, das im sonst eher geschlechterunflexiblen Musikbusiness eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt.

Mit Dr. Florian Heeschs Referat „Männlichkeitsperformanz mit hoher Stimme? Zum Heavy Metal in den 70er und 80er Jahren“ wurde die Reihe der Beiträge zu popularmusikalischen Gattungen eröffnet. Im Bereich des Metal, der ganz besonders von einer Dominanz der Männer geprägt ist, stehen die oft hohen Stimmlagen in einer bemerkenswerten Diskrepanz zum vorgestellten kernigen Männlichkeitsbild des Metal‑Rockers, zumal auch das Kreischen und Schreien gemeinhin eher mit Weiblichkeit assoziiert wird. Ebenso überschreitet das Erscheinungsbild der Musiker mit langen Haaren und Make‑up – und das nicht nur im Glamrock – alle Grenzen, die für eine klassische Männlichkeitsperformance gelten. Wie ambivalent kulturelle Normen ausgelegt werden können, zeigt sich an diesem Beispiel deutlich. Erklärt man die lange Mähne als wild, die Schminke als Kriegsbemalung und das Schreien als aggressiv, kombiniert mit der Herausstellung der Virtuosität eines hohen Gesangs, wird das, was sonst als weibisch verrufen ist, zu Attributen höchster Männlichkeit umdeklariert. Andere Vokalstile, wie das so genannte Growling, standen wiederum bei Metalsängerinnen zunächst im Widerspruch zur weiblichen Rolle, wurden jedoch sukzessive akzeptiert. Spannungsverhältnisse zur kulturell dominanten Zuordnung von Stimmregister und Geschlecht können folglich aushandelbar sein, ohne die herkömmliche Geschlechterhierarchie allzu weitreichend in Frage zu stellen.

Die eingangs gestellte Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“, so stellte Dr. Martin Loeser zu Beginn seines Vortrages „Männlichkeitskonstruktion in westdeutscher Pop‑ und Rockmusik am Beispiel von Marius Müller‑Westernhagen und Herbert Grönemeyer“ fest, könne auch er nicht endgültig beantworten. Was als männlich gelte, müsse immer wieder ausgehandelt werden, sowohl im eigenen Bereich als auch in der Gesellschaft. Im Werk beider genannten Rockbarden werden anhand verschiedener Medien wie Liedtexte, Musik, Bilder oder Videoclips durchaus unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe vorgestellt. Da gerade die Rock‑ und Popmusik seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine große und vielschichtige Verbreitung in einer weit gefächerten Zielgruppe und fast allen Alterskategorien gefunden hat, wird dieser Musikrichtung eine beachtliche Relevanz für die soziale Vermittlung von Geschlechterbildern zugesprochen. Diese können mithilfe populärer Musik sowohl konserviert als auch in Frage gestellt und neu entworfen werden. Anhand der deutschsprachigen Musik weithin rezipierter Interpreten wie Westernhagen und Grönemeyer ist feststellbar, dass Kunst gesellschaftliche Prozesse widerspiegelt und ob und inwieweit diese ein Veränderungspotential enthält. Im Hinblick auf die von den beiden Musikern skizzierten Männlichkeitskonzepte kann zudem speziell nach dem Verhältnis zwischen der Intention der Künstler und der vermutlich differenten und differenzierten Rezeption eines heterogenen Publikums gefragt werden.

Im Anschluss widmete sich Martin Seeliger mit dem Thema „Zwischen Affirmation und Empowerment – Gangstarapimages als umkämpfte Bilder“ einem Subgenre des Rap in Deutschland. Vorläufer war der ursprünglich in den USA der Endsiebziger Jahre entstandene Hip Hop, der vor dem Hintergrund ansteigender Ressentiments gegenüber Zuwanderern in den frühen 1980er Jahren auch in Deutschland ankam. Diese Musikrichtung zentriert sich um eine Männerwelt mit einem Männlichkeitskult, der auf einer traditionellen Geschlechterhierarchie basiert, beinhaltet eine Verschränkung der Klassen‑ und Ethnizitätsdimension mit dem Merkmal ausgeprägter Randständigkeit und fokussiert auf den Körper als Ort der Zurschaustellung von Symbolen und Artefakten, der zudem sexualisiert und als Hort von Dominanz und Stärke dargestellt wird. Während im Hip Hop jedoch Schwulen‑ und Frauenfeindlichkeit nicht zwangsläufig inbegriffen sind, bilden diese im Gangsterrap zentrale Grundlagen für musikalische Auseinandersetzungen, auf denen männliche Rangordnungskämpfe ausgetragen und Dominanzansprüche gegenüber Frauen zementiert werden. Zugehörige Assoziationsfelder sind das Leben „im Ghetto“ inklusive Migrationshintergrund und damit verbundenem Bildungsverlierertum als Begründungen für geringe Erwerbschancen und abweichende Verhaltensweisen. Bezeichnend ist der im Gangstarap auf sozialdarwinistischer Grundlage beruhende Wertekodex des „do or die“, das Überleben des stärkeren und autonomeren Individuums. Musikalisch thematisiert werden Ausgrenzungserfahrungen, das Leben auf der Straße, die Geschehnisse im eigenen, sozialräumlich benachteiligten Stadtteil. Der Rapper inszeniert sich dabei als Sprecher im Ghetto. Dadurch findet, neben der Abwertung anderer Personen und Gruppen, eine Selbstüberhöhung statt, welche die Aufstiegschancen für das eigene, erfolgreiche biografische Projekt zu verbessern verspricht.

Die Auseinandersetzung mit dem Gangstarap kann unter verschiedenen Gesichtspunkten geschehen. Neben einer subjektiven Dimension, in der danach gefragt wird, warum Menschen zu Gangstarappern werden und wie Adressaten mit den vorgestellten Identifikationsangeboten umgehen, kann in einer kulturindustriellen Dimension die Frage nach dem Warencharakter von Kulturprodukten gestellt werden und nach der Rolle, die die Musikindustrie bei der Konstruktion der Bildwelten des Gangstarap spielt. Eine dritte Dimension fragt nach der Bedeutung von Gangstarap innerhalb der symbolischen Ordnung eines gesellschaftlichen Repräsentationsregimes und nach der Relevanz von Gangstarapimages als Bezugspunkte für die Selbstverortung und Fremdzuschreibung von Sprechern in Bezug zu sozialstrukturell verpackten Ungleichheiten.

Interpretiert werden kann Gangstarap als Versuch der Aktualisierung hegemonialer Männlichkeit, indem der Rapper zeigt, dass er trotz schlechter Voraussetzungen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und geringer Bildung schließlich doch Erfolg, Wohlstand, sexuelle Potenz und Durchsetzungsfähigkeit besitzt. Als Verweis auf die eigene Leistungsfähigkeit, ein Kernelement der hegemonialen Männlichkeit, wird betont, dass man es nicht von der Mitte aus, sondern von ganz unten nach oben geschafft hat. Ebenso kann Gangstarap aber auch als einem „Klassenkampf von oben“ dienlich wahrgenommen werden. Indem unliebsame Eigenschaften wie Faulheit, Delinquenz, Amoralität und Homophobie dem generalisierten Anderen, der Unterschicht zugeschrieben werden, kann sich die bürgerliche Mitte beruhigt ihrer selbst vergewissern.

Eine weit weniger urbane musikalische Gattung wurde von Prof. Dr. Gerlinde Haid vorgestellt. Ihr Vortrag: „Von Männlichkeiten und vom Umgang mit deren Symbolen in der alpenländischen Volksmusik“ führte in die Traditionen der österreichischen Tanzmusikgruppen ein, deren Besetzung bis in die 1950er Jahre – mit Ausnahme von weiblichen Familienmitgliedern – nur aus Männern bestand. Gleiches galt in Vereinen und bei Faschingsbräuchen. Selbst so genannte „Trommelweiber“ waren ausschließlich kostümierte Männer. Erst in den 1970/80er Jahren kam langsam Veränderung in die Szene, Musikerinnen traten zunehmend selbstbewusst auf, spielten in der Volksmusik mit und durften sogar Hüte tragen, was zuvor ebenfalls nur Männern vorbehalten war.

Den letzten Teil der Konferenz bildeten zwei Beiträge zur Sozialen und Kulturellen Arbeit mit Jugendlichen. Prof. Dr. Marion Gerards Vortrag „Inszenierung von Männlichkeiten in musikalischen Lebenswelten von Jungen und Mädchen“ befasste sich mit nach wie vor männlich dominierten Jugendkulturen und Musikszenen, in denen trotz diverser Gegenbewegungen und Fördermaßnahmen heteronormative Geschlechterbilder vorherrschen. Ziel der Sozialen Arbeit mit Musik ist es, das Leben selbstständig und eigenverantwortlich zu bewältigen. Gerade bei Jugendlichen sollte die Bedeutungsdimension von Musik nicht unterschätzt werden. Der Musikgeschmack spielt eine wichtige Rolle bei der Selbststilisierung und damit der Identitätsbildung, auch bei der Bildung der Geschlechtsidentität. Anhand von Musik können Jugendliche sich unter Gleichaltrigen zugehörig fühlen, aber auch abgrenzen, sie hilft bei der sozialen Orientierung und der Partnerwahl.

Die Begeisterung für problematische Musikstile wie dem so genannten Porno‑Rap wirft die Frage auf, inwieweit homophobe und misogyne Songs Einfluss auf Jugendliche und deren soziale Wirklichkeit haben. Es hat sich gezeigt, dass die Vorbildfunktion von Musik abhängig von der subjektiven Bedeutungszuschreibung ist. Eine entsprechende Orientierung findet meistens nur dann statt, wenn Einstellungen und Verhaltensstrukturen bereits ausgeprägt sind, denn das familiäre und soziale Umfeld ist entscheidend für die sexuelle Sozialisation. Gerade Mädchen erleben jedoch in Musiksubkulturen eine Ausweitung der traditionellen Frauenrolle, sie lernen, sich Respekt und Raum zu verschaffen. Insbesondere das aktive Musikmachen bringt Selbstbestätigung, die zu mehr Selbstbewusstsein verhilft – gerade auch in der Geschlechterrolle, die bei Mädchen doch eher zurückhaltend angelegt ist. Wünschenswert ist daher eine gendersensible Jugendarbeit. Beinhalten sollte diese eine Medienkritik mit Reflexion der Textinhalte und eine Sozialraum‑Analyse ebenso wie Genderprojekte, speziell Musikprojekte für Mädchen in „Männermusikszenen“ und zudem Evaluation und Forschung.

Judith Müller erklärte anschaulich die “Inszenierungen von Musik und Männlichkeit – Konsequenzen für die Jugendkulturarbeit” und berichtete aus der Praxis. In der Arbeit mit Mädchen‑ oder auch gemischten Bands lassen sich gerade bei jungen Frauen Kompetenzen fördern, da häufig Rollenstereotype unreflektiert fortgesetzt werden und Mädchen dazu neigen, sich selbst aufgrund männlicher Dominanz und fehlender weiblicher Vorbilder einzuschränken, indem sie z. B. klischeegemäß den Gesangspart übernehmen anstatt zur unbekannten E‑Gitarre oder gar zum Schlagzeug zu greifen. So wird in der Bandarbeit Jugendlichen Raum geboten zu experimentieren und dabei auch gängige Rollenbilder zu hinterfragen. Ebenso kann über kontroverse Inhalte von Texten diskutiert werden. Aufgabe einer pädagogischen Fachkraft ist es hier, unterschiedliche Lebenswelten der Jugendlichen zu kennen und zu berücksichtigen und allen einen gleichberechtigten Zugang zu einem Bandprojekt zu ermöglichen. Alternatives Denken und Handeln von Jugendlichen sollte erkannt und gefördert werden, da unkonventionelle Jugendliche häufig angreifbarer sind und daher besondere Unterstützung durch Pädagog_innen benötigen. Letztlich gilt es, mit der Jugendkulturarbeit ein Umdenken und einen gleichberechtigten Umgang mit (Geschlechter‑)Differenzen zu fördern.

Mit einer allgemeinen Abschlussdiskussion wurde die Konferenz beendet. Insgesamt gestaltete sich die Tagung ausgesprochen facettenreich und inspirierend. Bedauerlich war nur, dass nach den einzelnen Beiträgen oft nicht genug Zeit für Fragen und Diskussion blieb. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn ein Tagungsband zum Nachlesen und Vertiefen der vorgestellten Themen erscheinen würde.

(Ergänzung 25.09.2014: Es ist in der Zwischenzeit ein Tagungsband erschienen, erhältlich beim Allitera-Verlag)

Die diesem Bericht beigefügte Fotografie ist nicht im Umfeld der Tagung entstanden und bildet keine der hier erwähnten Personen, Ereignisse und Musikgenres ab. Sie dient lediglich der Illustration. Für die Zurverfügungstellung des Fotos danke ich Eric Sagot und Frank Daubenberger.

Man Vibes

Donna P. Hope
Man Vibes – Masculinities in the Jamaican Dancehall
Ian Randle Publishers (Jamaica) 2010
256 Seiten
24,95 $

man vibes„Bad Man nuh dress like Gyal“. Dieses Mantra jamaikanischer Dancehallkultur, Männer ziehen sich nicht wie Frauen an, schien unumstößlich und mit ewiger Gültigkeit versehen. Doch kurz nach der Jahrtausendwende trugen sich seltsame Dinge zu auf der kleinen Karibikinsel: Männer, echte Männer, Dancehallstars, die Ohrringe trugen, sich die Haut bleichten, die Hosen enger trugen als die meisten Frauen es je taten.

Wie konnte es soweit kommen? Donna P. Hope hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht. Sie ist Dozentin am Karibischen Institut der University of the West Indies für das weltweit wohl einzige Fach Reggaestudien. Schon in ihrer Doktorarbeit beschäftigte Hope sich mit Identitätsbildung in Jamaika und speziell in der Dancehall. In diesem Buch, Man Vibes – Masculinities in the Jamaican Dancehall, befasst sie sich detailliert mit den diesen Bereich dominierenden männlichen Protagonisten. Anhand von Interviews mit Dancehallfans aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten sowie mit Hilfe von Liedtexten beleuchtet sie die vielfältigen Facetten des Männlichkeitsbildes in der Dancehall.

Dancehall ist dabei mehr als eine Disco, ein Ort, wo getanzt und getrunken wird. Hier werden in Form von Auftritten von Artists, sozialer Interaktion und durch bestimmte Lieder mit ihren Inhalten Identitäten geprägt, verhandelt und verändert. Während bis in die Achtziger hinein das Idealbild des jamaikanischen Mannes vorwiegend durch die Uptown wohnende Oberschicht geprägt war, konnten die unteren Schichten im Zuge der wachsenden Popularität der Dancehall ihre Vorstellungen stärker verbreiten. An vielen Punkten überschneiden sich die beiden Bilder, teils sind jedoch gravierende Abweichungen zu beobachten.

War früher der wohlhabende Familienvater mit Job eher das Ideal, setzten Dancehallstars den „Gyallist“ entgegen, den Mann, der Sex mit möglichst vielen Frauen hat und dies auch in seinem Nachwuchs manifestiert. Die biologische Funktion der Vaterschaft, der Mann als Quelle neuen Lebens, der seinen Samen pflanzt, dient zur Aufwertung des Mannes und wird klar über die soziale Funktion – Fürsorge, Zärtlichkeit, Zusammengehörigkeit – gestellt. Es entsteht so eine Entfremdung vom Vater und exzessive Verbindung mit der Mutter, beziehungsweise Tante oder Oma, die eine prägende Funktion für die Identität der Männer besitzt.

Hope betont, dass das Männlichkeitsbild fast ausschließlich von Männern selber definiert wird. Neben der Dominanz über Frauen sind die erwähnte Promiskuität sowie eine strikte Heterosexualität die wesentlichen Merkmale dieser Idealvorstellung. Dies beinhaltet auch eine starke Ablehnung jeglicher Homosexualität, ein Thema, das außerhalb Jamaikas in den letzten Jahren zu heftigen Angriffen auf Dancehallmusik führte und in deren Folge Reggae zu „Murder Music“ mutierte, die auf eine Stufe mit Nazirock zu stellen sei.
Hope sieht eine fast schon pathologische Angst der jamaikanischen Männer vor allem Weiblichen als Ursache für die Abneigung gegen Schwule. Dem „Delilah Komplex“ (nach der biblischen Geschichte von Delilah, die ihren Mann Samson verriet) folgend, werden Homosexuelle als Verräter gesehen, die eine Gefahr für männliche Hegemonie darstellen. In Hopes Augen ist Homophobie nichts anderes als Frauenphobie. Das Aufkommen vermehrter „Batty Boy“ Lyrics sieht sie als Reaktion auf die zunehmend öffentlicher werdende Wahrnehmung von Homosexuellen in Jamaika, während zuvor eine stillschweigende Duldung von Homosexualität herrschte, solange sie nicht offen ausgelebt wurde.

Der Kreativität der Dancehallartists hat der Konflikt jedenfalls nicht geschadet, statt direkter Angriffe auf Schwule lässt beispielsweise Wayne Marshall wissen, er werde gewiss kein „Ass tronaut“, der zum „Ur Anus“ fliegt. Queen Ifrica lässt Zweifel an der Frauen /Homophobie These aufkommen, wenn sie als weiblicher Rasta singt: „I dont want no fish (Gay) inna me ital dish“.

Donna P. Hope hat ein sehr interessantes, wissenschaftlich gehaltenes Buch verfasst, wobei an manchen Punkten ihre akademische Distanz zur Dancehall zu Fehlschlüssen führte, so wenn sie „Hardcore Sex“ mit Gewalt assoziiert. Vor allem wird deutlich, wie lebendig in der Dancehall „diskutiert“ wird und Positionen ausgehandelt werden. So lassen es sich einige Stars nicht nehmen, ihre aus europäischen Modemetropolen, afrikanischer Liebe zur Kostümierung und US Rapperattitüde zusammengeklaubte Erscheinungsform mit rasierten Augenbrauen und Tight Pants als das definitive „Bad Man“ Image zu verkaufen, auch wenn einige weibliche Artists mit Blick auf ältere Vorbilder kontern: „You should be Ken and not Barbie“.

Dan von Medem

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Arbeiten in der Berliner Techno‑Szene

von Jan‑Michael Kühn (aus dem Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

www.berlin-mitte-institut.de

Skizze der Theorie einer Szenewirtschaft elektronischer Tanzmusik

Einleitung und These
Von einigen wenigen im deutschsprachigen Raum Mitte und Ende der 1980er vorangetrieben, erlebten die Szenen elektronischer Tanzmusik (ETM) ab Anfang der 1990er einen Boom, der sie bis in die Studios der Musiksender und auf die Agenden der Major-Labels brachte. Der Höhepunkt vollzog sich ca. 1995, ab Ende der 1990er wurde ETM für die breite Masse wieder uninteressant und zog sich in die Nischen der Clubkulturen zurück, in denen sie bis heute verweilt und wieder ständig wächst – insbesondere in Berlin, dem „Mekka“ der Technoiden.
Im Rahmen dieser mittlerweile über dreißigjährigen (Erfolgs‑)Geschichte waren Szenen elektronischer Tanzmusik, öffentlich meist Techno‑Szene oder „Elektro“ genannt, oft Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Die Untersuchungsfokusse waren meist verbunden mit Fragen von Vergemeinschaftung, Politik oder der Musik selbst. Nur wenige Untersuchungen gibt es aber zu wirtschaftlichen Aspekten. Während es für Szenen auf verschiedenen Ebenen mittlerweile ausgearbeitete systematische Deutungen gibt (z. B. die massenkulturell orientierte Szenetheorie von Ronald Hitzler, die nischenkulturell orientierte Studie von Sarah Thornton oder die „underground“‑orientierte Theorie von Anja Schwanhäußer), so beschränken sich bestehende Untersuchungen von wirtschaftlichen Aspekten (bis auf wenige Ausnahmen) auf DJs und die Clubkultur – die sichtbare Oberfläche.
Auch die Musikindustrieforschung interessierte sich bisher wenig für die erwerblichen Strukturen von Musikszenen – geht sie doch davon aus, dass diese aufgrund ihrer komplexen organisatorischen Verzweigungen mit eher szenefernen Unternehmen Teil der Musikindustrie sind, ihr distinktives Gebaren vor der Realität ihres Handeln nicht standhalte – und ihre Produkte letztendlich auch nicht „besser“ seien.
Seit Mitte der 1990er werden Szenen ebenfalls von ökonomisch‑geografischen Diskursen rund um die eher undeutliche Abgrenzungen von Kreativ‑ und Kulturwirtschaft umworben – mit der impliziten Annahme, dass ETM‑Wirtschaft grundsätzlich irgendwie im Netzwerk dieser politisch und gesellschaftlich popularisierten Formen zu verorten sei, da es in „Kreativszenen“ um die Produktion kultureller Güter mit dem Fokus auf „Kreativität“ gehe.
Es lässt sich festhalten, dass die erwerbliche Tätigkeit in Musikszenen bisher noch nicht systematisch untersucht wurde, wie es ausführlich für die Praxis der Vergemeinschaftung geschehen ist. Daher ist es an der Zeit, bisherige vereinzelte Forschungen zu verbinden und in eine gemeinsame Systematik zu bringen. Denn spezifisch für die Sphäre des Erwerbs in Szenen ist, dass es sich dabei nicht lediglich um freiwillige und launische Vergemeinschaftung handelt (wie z. B. noch von Hitzler für AkteurInnen der „Organisationselite“ unterstellt), sondern dass die erwerblich orientierten AkteurInnen von den Märkten und der Kultur elektronischer Tanzmusik in sukzessiv steigendem Maße an wirtschaftlicher und biografischer Abhängigkeit „gewinnen“ – und dies mit ihrem Spaß, lebensweltlichen Vorstellungen und Leidenschaft an Musik und Szene verbinden. Die Szene stellt sich für sie zunehmend als Absatz‑ und Arbeitsmarkt dar (und nicht mehr als rein spaßorientierte Vergemeinschaftung), anhand dessen spezifischen kulturellen Institutionen und produktiven Verhältnissen sie ihre wirtschaftliche Aktivitäten organisieren.
Um diese Sphäre soziologisch einzugrenzen, plädiere ich für den Begriff der Szenewirtschaft. Zwar sind bisherige Einsichten in das Wirtschaften rund um Szenen durchaus aufschlussreich (z. B. der Befund der komplexen Verästelung mit Akteuren der kapitalintensiveren Kulturindustrien, die kaum haltbare Unterscheidung von „Underground“ und „Mainstream“ als sozialwissenschaftliche Kategorien oder die wirtschaftliche Orientierung der erwerblichen SzeneakteurInnen); bisherigen Analysen fehlt aber eine systematische Perspektive, die die ästhetischen, distinktiven und erwerblichen Orientierungen der Professionellen im Rahmen der Bedingungen ihrer spezifischen kulturellen Voraussetzungen (Homeproducing, Clubkultur, DJing, Trackkultur) und Nischenmärkten (Bookingmarkt, Musiktrackmarkt, Partymarkt) analysiert. Meine These lautet, dass die Szenewirtschaften von Szenen elektronischer Tanzmusik eigene ausdifferenzierte wirtschaftliche Felder mit spezifischen Strukturen darstellen, welche eigene Strukturlogiken entwickelt haben. Folge und Grundlage dieser Logik sind spezifische Handlungsbedingungen und Produktionsverhältnisse in eigener Infrastruktur und Wertschöpfungskette, welche sich aus spezifischen Kulturen und Marktverhältnissen elektronischer Tanzmusik ergeben. Diese These entwickle ich derzeit im Rahmen einer Promotion mit dem Thema Erwerbsarbeit in der Berliner Techno‑Szene, welche von der Hans‑Böckler‑Stiftung mit einem Stipendium gefördert wird und die ich im Rahmen des Promotionskollegs „Die Produktivität von Kultur“ anfertige.
Drei methodische Anmerkungen: Diese Ausführungen und Thesen basieren auf meiner Forschung mithilfe fokussierter Ethnografie über ProduzentInnen elektronischer Tanzmusik, sechs ersten ExpertInneninterviews mit in unterschiedlichen Bereichen der Szenewirtschaft Tätigen sowie meiner langjährigen Szeneteilnahme als DJ, Booker und Medien‑Produzent (Online Radio & WebTV) als Formen soziologischer Ethnografie. Zweitens benutze ich idealtypische Darstellungen. Das heißt, ich arbeite mit zugespitzten Darstellungen der Unterschiede, die tatsächlich wesentlich vermischter und undeutlicher auftreten. Aber gerade in ihrer Zuspitzung lassen sich die Kerne ihrer Spezifika am deutlichsten darstellen. Drittens sind dies explorative Ausführungen, die einen Zwischenstand meiner Ergebnisse darstellen.

Szenewirtschaft
Im Zuge der Organisation der wirtschaftlichen Aktivitäten, ihrer Professionalisierung und einem Wachstum der Nischen bilden sich komplexe Netzwerke szenespezifischer Organisations‑ und Berufsformen heraus: Allen voran der allseits bekannte und medial besonders protegierte „DJ“ und die Institution des Clubs. Zum Netzwerk gehören allerdings viele weitere: HomeproducerInnen, BookerInnen, VeranstalterInnen, ClubbetreiberInnen, AgenturenbetreiberInnen usw. in Organisationsformen wie szenespezifischen Vertrieben (Schallplatten, CDs, Musikdateien), Geschäften (Online, Offline), Agenturen (Marketing, PR, Booking, Mastering, sonstige Services) usw. Ein eigenes, professionalisiertes infrastrukturelles und mittlerweile etabliertes Feld mit lockerem Netzwerkcharakter, aber starker Verbindung über gemeinsame Musik‑ und Clubkultur, hat sich aus der reinen Vergemeinschaftung herausdifferenziert und produziert, reproduziert und innoviert die typischen Szeneinhalte: Musik‑Tracks, DJ‑Sets, Partys. Diese Typik relativiert die von den SzeneakteurInnen als auch von an Kreativwirtschaftsdiskursen beteiligten Forschenden und PolitikerInnen ausgehende Darstellung der ETM‑Szenen als im Kern kreative. Statt ständiger Selbstneuerfindung geht es um genretypische Musiktracks mit besonderem Groove oder besonderer Melodie, die typische Party mit ausgefallenem Namen oder herausragendem Line‑up oder typischen DJ‑Sets, die zum Tanzen anregen und gleichzeitig ein besonderes, künstlerisches Erlebnis dank individueller Selektion und Mixing der DJs versprechen. Der normative Kern der Szenewirtschaft liegt entsprechend in der kreativen Pointe: Das Erwartbare und Typische als übliches Szeneprodukt mit der kleinen Besonderheit, Abweichung und Eigenheit.
Die Szenewirtschaft besitzt eine eigene Wertschöpfungskette: Statt Song‑Musik für Radio, Film oder Fernsehen zu produzieren, wird Track‑Musik von MusikproduzentInnen als mixbare Musikkonserve für den Gebrauch in den Clubs in nicht mehr überschaubaren Mengen produziert. Diese Musik hat ihre ganz spezifischen Eigenschaften: Das beginnt bei ihrer Ästhetik (z. B. House/Techno), geht über ihre genretypische Struktur (Intro, Breakdown, Mainpart, Breakdown, Mainpart, Outro) und endet schließlich bei dem beabsichtigten Ziel, auf einer lauten Anlage in einem Club ein Publikum zum Tanzen zu bringen und von DJs in stundenlangen Sets filigran und individuell zusammengemixt zu werden. Zur Ermöglichung und Raffinierung dieses ästhetisch‑hedonistischen Prozesses spielen zahlreiche externe Faktoren eine Rolle: Platten‑/CD‑Herstellung, Getränkeversorgung („Bierökonomie“, Energydrinks, Wodka usw.), Technologie (Plattenspieler, Software, Hardware usw.) sowie zahlreiche staatliche und städtische Auflagen und Regulierungen für Clubs, Labels, Ich‑AGs, GmbHs usw.
Trotz erwerbswirtschaftlichem Fokus in einem Nischenmarkt kennzeichnet die Handlungen der Professionellen eine spezifische distinktive Szeneorientierung, die sich aus punktuellen subkulturellen Orientierungen speist, welche im Kern oftmals eine Kritik an bestehenden Verhältnissen formulieren bzw. unbedarft und beiläufig eine Alternative zur hegemonialen, „offiziellen“ Kultur vollziehen. Punktuell heißt, dass diese keine Gesamtkritik an der Gesellschaft formulieren, sondern vereinzelte Aspekte auswählen und ins Zentrum ihrer Distinktion setzen. Dem steht gleichzeitig der Trend gegenüber, dass sich mit der Popularisierung und Vermarktlichung der alternativen Strukturen die offizielle Gesellschaft gleichzeitig „subkulturalisiert“ und sich die Kritik und Alternativität „vermainstreamt“ – also ihren subkulturellen Minderheitencharakter verliert. Zwei zentrale punktuelle Orientierungen lassen sich finden: Eine vereinfachte und lebensweltliche Kritik an „der Musikindustrie“ (ihrer Musik, der Organisation ihrer wirtschaftlichen Strukturen und ihre gewinnmaximierende Ausrichtung) sowie eine Präferenz für den Konsum ihrer Musik in kleinen „familiären“ Clubs bis 2000 Personen. AkteurInnen, die bei Major‑Labels gearbeitet haben bzw. als KünstlerInnen unter Vertrag waren, berichten von Gängelei, geldgierigen ManagerInnen, ahnungslosen und unmotivierten Angestellten, strengen Hierarchien, von „vor Kommerzialität triefender Musik“ und enormen kapital‑ und größenbedingten Sachzwängen. Dies passt nicht zu den entgrenzten Arbeitsentwürfen der SzeneakteurInnen. Für diese ist Do‑It‑Yourself die zentrale erwerbliche Lebensmaxime, die sie in locker gestalteten, marktradikal‑prekären Arbeitszusammenhängen zu verwirklichen versuchen. Typisch für sie ist der bzw. die MultiunternehmerIn, d. h. eine Person, die vieles gleichzeitig macht: Musikproduktion, DJing, Veranstaltungsmanagement, Labelmanagement usw. Diese Tätigkeiten werden als „alternativ“, selbstbestimmt und spaßbringend im Unterschied zu „normalen“ Berufen und Angestelltenverhältnissen begriffen. Dies resultiert in der Ästhetisierung prekärer Arbeitsverhältnisse, die von diesen AkteurInnen vor allem in jungen Jahren als eine Form von Freiheit begriffen werden. Umso älter sie werden, umso eher bemühen sie sich um eine längerfristige soziale Absicherung. Zusätzlich zu szenespezifischen Tätigkeiten fallen außerdem noch zahlreiche standardisierte und ständig wiederkehrende Arbeiten an, welche eine geringe Qualifizierung erfordern (Kasse, Garderobe, Bar, Technik, SekretärInnenjobs, PraktikantInnen usw.).
Des Weiteren besitzen SzeneakteurInnen als „Überbleibsel“ eines subkulturellen Ethos (oftmals in Kombination mit einer leistungsorientierten unternehmerischen Selbstverwirklichungsrhetorik) eine große Aversion gegen staatliche und städtische Regulierung in Form von Eingriffen in die Szeneabläufe. Man fürchtet, dass die Freiheit und Ästhetik der Szene und Szenewirtschaft unter gefördertem „Senatstechno“ leiden könnte.
Obwohl Anspruch und Realität dieser Distinktionen oftmals so weit auseinander liegen wie sie undeutlich sind und eher beiläufig formuliert werden – und die ETM‑Kultur sowieso eine prinzipiell offene Kultur ist, die unterschiedliche AkteurInnen mit unterschiedlichen Hintergründen und Absichten für sich zu nutzen wissen – so bleiben diese Grenzziehungen zwischen „sich“ und „den anderen“ wesentliche Handlungsorientierungen der meisten Szenewirtschaftenden. Und als solche „lenken“ sie ihr Handeln. Die allgemeinste Form dieser idealistischen Abgrenzung formulieren sie, wenn sie sich selbst als „irgendwie Underground“ verstehen. Darunter kann das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Distinktionen subsumiert werden.
Eine innige und leidenschaftliche Beziehung zu elektronischer Tanzmusik (und oftmals, aber nicht immer: zur Feierei im Club) ist wesentlicher Teil des erwerblichen Handelns und bedeutet, dass sie wahre Fans von ETM sind und die durch die Musik erlebten Gefühle von Genuss und Freiheit für sie im Mittelpunkt stehen.
Erwerb sehen sie nicht als Gewinnmaximierung, sondern als Auskommen an. Das heißt, dass sie die Generierung von ausreichend Einkommen und sozialer Absicherung mit ihrem zentralen Wunsch nach erwerblicher Selbstbestimmheit, künstlerischer Freiheit und Leidenschaft „zur Sache“ verbinden. Geld ist für sie dazu da, um sich ihr Leben zu ermöglichen, in dem sie idealerweise in künstlerischer Freiheit ihren persönlichen Vorstellungen nachgehen können – aber nicht, um sich soviel Geld wie möglich in einer Anhäufungslogik zu sichern. Die kleingewerbliche Struktur vieler EinzelunternehmerInnen fördert diese Logik, da sie den Einzelnen weniger Sachzwänge als in einer großen Organisationsstruktur mit vielen Mitarbeitenden aufbürdet.
ETM besitzt beschränkte musikalische Verkaufsmöglichkeiten und eine spezifische Verschränkung von Absatz‑ und Arbeitsmärkten: Der Musikverkauf richtet sich primär an DJs und nicht an ClubgängerInnen (ein bedeutsamer Anteil der Verbreitung ihrer Musik findet allerdings über direkte kostenfreie Promotion seitens Labels oder Agenturen statt oder in Form von „illegalen“ Downloads), während typische KonsumentInnen ihr Geld für Clubeintritte, Getränke, Drogen, Kleidung usw. ausgeben – und die Musik in der für sie typischen Konsumform umsonst als DJ‑Mixe und Podcasts erhalten. Tatsächliche EndkonsumentInnen zahlen also eher selten für die Musik alleine, sondern meist für das Cluberlebnis als Ganzes. Dafür suchen sie sich sehr genau aus, in welche Clubs, zu welchen DJs und auflegenden ProduzentInnen sie ausgehen, während diese wesentliche Teile ihres Einkommens aus den Gageneinnahmen für das Auflegen beziehen. Somit trifft eine typische Trackveröffentlichung auf lediglich 300 bis 2000 Abnahmen, nur Ausnahmen (Hits) verkaufen sich auch 10.000‑mal und mehr. Gleichzeitig fasst ein typischer „familiärer“ Club zwischen 150 und 2000 Personen bei Eintrittspreisen zwischen 5 und 20 Euro, so dass in diesem Rahmen die DJ‑Gagen verhandelt werden – abzüglich vieler anderer Kosten und Margen. Wesentlicher Motor der Höhe von DJ‑Gagen ist dabei das szenespezifische Popularitätskapital, welches ProduzentInnen und DJs durch erfolgreiche Tracks und DJ‑Sets akkumulieren. Dies ist eine spezielle Form von Sozialkapital (Bourdieu), welche neben dem subkulturellen Kapital (Sarah Thornton) die zweite szene(‑wirtschafts‑)eigene Dimension sozialer Ungleichheit darstellt. Hier geht es nicht mehr um szenespezifisches Hipness‑Wissen (was ist „in“, wie verhält man sich im Club, Wissen über die Szene) wie beim subkulturellen Kapital, sondern darum, wie viele SzeneakteurInnen einen DJ oder einen Produzenten/eine Produzentin überhaupt kennen und bereit sind, seine oder ihre Musik zu kaufen bzw. ihn oder sie im Club spielen zu sehen und dafür Eintritt zu zahlen. In der Szenesprache ausgedrückt: Wie viele Leute zieht ein DJ in den Club?
Das Popularitätskapital verbindet die entgrenzten Märkte der Szenewirtschaft, drei Primärmärkte sind hier zu nennen: Am Bookingmarkt vergeben VeranstalterInnen Auftrittsslots an DJs und auflegende ProduzentInnen, die ihren wesentlichen Lebensunterhalt aus den Auflegegagen beziehen. VeranstalterInnen präferieren bekannte Acts, da diese eher für eine volle Party sorgen, und bezahlen mehr Geld für besonders bekannte KünstlerInnen. Am Musiktrackmarkt vermitteln ProduzentInnen ihre Tracks an DJs, die diese spielen, charten und möglichst bekannt machen sollen – damit die ProduzentInnen aufgrund der Präsenz ihrer Musik in Verbindung mit ihrem Namen Popularitätskapital anhäufen können. Das Publikum hört die Tracks der ProduzentInnen in DJ‑Sets in Clubs oder in Podcasts oder mittlerweile auch auf zahlreichen Streaming‑Plattformen im Internet, z. B. Soundcloud, Youtube, Mixcloud, Play.FM usw. Am Musiktrackmarkt selbst schaffen es nur die bekanntesten ProduzentInnen, ausreichend Einkommen zu erwirtschaften, so dass die meisten auf Auftritte in Clubs angewiesen sind, um sich zu finanzieren. Musik wird entsprechend zunehmend zu einem Werbemittel statt einer gehandelten Ware, was vor allem mit den gesenkten Zugangsbarrieren zur Musikproduktion dank technologischen Fortschritts zusammenhängt –und einer zunehmenden Popularität der ETM‑Kultur selbst. Am Partymarkt schließlich bieten Veranstaltende dem Publikum das Produkt „Party“ an, für welches jene bereitwillig Eintritt und überteuerte Getränkepreise zahlen. Umso besonderer das Line‑up ist (bzw. die Party generell), umso mehr Gäste kommen tendenziell und sind auch bereit mehr Eintritt zu zahlen – gleichzeitig werden von diesen Geldern die Produktionskosten der Partys gedeckt, die DJ‑Gagen bezahlt und das eigene Auskommen der Veranstaltenden finanziert.
Aufgrund ihres äußerst liberalen und damit sanktionslosen Modus der Verszenung, bei gleichzeitig starker individualistischer Subjektivierung und sozialstaatlich abgesicherten Institutionen einer differenzierten und arbeitsteiligen kapitalistischen Erwerbs‑ und Konsumgesellschaft entstehen ausprägte hierarchische Verhältnisse zwischen den SzeneakteurInnen, die in hedonistischen, subkulturellen und wirtschaftlichen Modi naturalisiert werden. ProduzentInnen, DJs, Clubs – sogar mit elektronischer Tanzmusik in Verbindung gebrachte Städte – hierarchisieren sich über die Möglichkeit szenespezifisches Popularitätskapital zu akkumulieren. Dessen Anhäufung wird zentrales Ziel der erwerblichen AkteurInnen, um ihre Position in den Nischenmärkten der Szenen zu verbessern: es geht darum, mehr Musik zu verkaufen, höhere Gagen zu bekommen und an Szenestatus zu gewinnen. Eigentlich ist dieses Kapital nur szeneintern von Wert – aber sobald die Popularität so weit steigt, dass es sich für massenorientierte Medien lohnt, diesen AkteurInnen Aufmerksamkeit zu schenken, ist es schnell verallgemeinerbar und wirkt über die alternativen Hierarchien in der Clubkultur hinaus. Gleichzeitig droht damit ein Popularitätsverlust in den Szenen selbst.

Schluss
Der kurze Einblick in die ETM‑Szenewirtschaft zeigt, dass es sich lohnt, genauere Untersuchungen anzustellen und nicht lediglich etablierte (Musikindustrie, Musikwirtschaft) und politisch „angesagte“ Konzepte (Kreativwirtschaft, Kreativszenen) des Beschreibens auf die Kulturen elektronischer Tanzmusik anzuwenden. Es kommen einerseits deutliche Unterschiede zur Kreativ‑/Musikwirtschaft ans Tageslicht, anderseits wird deutlich, dass es sinnvoll ist, „Independent-Musik“ selbst weiter nach spezifischen kulturellen Eigenschaften zu differenzieren. Meiner Ansicht nach ist elektronische Tanzmusik aufgrund ihrer spezifischen kulturellen Voraussetzungen (Trackmusik, Homeproducing, Clubkultur, Djing usw.) anderen Handlungsmöglichkeiten und ‑beschränkungen unterlegen (z. B. auch hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit an Kulturindustrien), als z. B. Indie‑Rock, Pop oder zahlreiche andere Formen von Independent‑Musik. Statt um Songs geht es um Tracks, statt ganzen Bands mit Musikinstrumenten gibt es ProduzentInnen mit Computern, statt um Radio, Konzerte und Barauftritte geht es um Clubs und Off‑Locations usw. Gestützt wird meine Annahme durch die aktuellen Charts der VUT – dem Verband unabhängiger Tonträgerfirmen. Denn obwohl die Labels elektronischer Tanzmusik bei ihnen registriert sind, spielt elektronische Clubtanzmusik in den Independent‑Charts keine Rolle – trotz enormer globaler Popularität der Clubkultur und von einzelnen DJs. Entsprechend lässt sich elektronische Tanzmusik schwer in die Sphären von Independent und Mainstream einordnen, da für sie aufgrund ihrer kulturellen Spezifika sowieso schon rein strukturell kein Platz in Radio, Film und Song-Charts zu sein scheint. Gerade mal Tracks und ein Album von ETM‑Act Paul Kalkbrenner ließen sich in den VUT‑Charts finden – aber dieser ist nicht aufgrund seiner Musik auch außerhalb der Szene bekannt geworden, sondern durch seine Rolle als DJ Ickarus im Film Berlin Calling. Deutlich wird dies ebenfalls bei Musik, die versucht, ETM massenkompatibler in den Charts von Radios und Musiksendern zu platzieren und die allgemein in den Katalogen von Majors oder bestimmten Indies (z. B. Kontor Music) unter der Kategorie „Dance“ firmieren – z. B. Scooter, David Guetta, Paul von Dyk usw. Obwohl gerade für einzelne musikalische Genres wie Trance, kommerzieller House usw. spezielle Untersuchungen nötig wären, lässt sich allgemein feststellen, dass die Musik dieser ProduzentInnen in ETM‑Clubs gezielt vermieden wird, da sie von den SzeneakteurInnen als ästhetisch unpassend empfunden wird – und stattdessen in Diskotheken, auf Konzerten und Massenevents vertreten ist.

Literatur
Bourdieu, Pierre (1979): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 20. Aufl., Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.
Hitzler, Ronald/Niederbacher, Arne (2010): Leben in Szenen: Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, 3. Aufl. VS Verlag, Wiesbaden.
Schwanhäußer, Anja (2010): Kosmonauten des Underground: Ethnografie einer Berliner Szene, Campus Verlag, Frankfurt a. M.
Thornton, Sarah (1995): Club Cultures: Music, Media and Subcultural Capital, Blackwell Publishers, Oxford.

Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert

Wilfried Ferchhoff
Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert – Lebensformen und Lebensstile
2., aktualisierte und überarbeitete Auflage
VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
496 Seiten
29,95 €

Das hier rezensierte Buch ist mittlerweile in zweiter Auflage in der VS‑Lehrbuchedition erschienen und richtet sich laut Verlagsangaben insbesondere an Studierende und Dozierende der Geistes‑ und Sozialwissenschaften, Lehrende und Praktizierende der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik sowie Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler in Lehre und Forschung. Ziel der Reihe ist es, in komprimierter Form Grundlagenkenntnisse zu vermitteln. In neun Kapiteln thematisiert Ferchhoff den Gegenstand des vorliegenden Bandes, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, auf insgesamt 496 Seiten.

Nach den obligatorischen Reprints der Vorworte vergangener Auflagen sowie der Einleitung skizziert der Autor zunächst die sozialhistorische Entwicklung von Jugendkulturen und beleuchtet deren wissenschaftliche Rezeption. Anschließend diskutiert er die veränderten Strukturen sozialer Ungleichheit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Globalisierung und Individualisierung und geht auf die Differenzierung des Jugendbegriffs ein. Der darauf folgende Abschnitt befasst sich mit den Entwicklungs‑ und Lebensbewältigungsaufgaben im Kontext der Lebensphase Jugend, die der Autor anhand des Patchwork‑Konzeptes betrachtet. Des Weiteren erörtert der Autor pauschale Jugendbilder und Generationsgestalten, um daran anknüpfend „Jugendgenerationen im Wandel nach dem zweiten Weltkrieg“ darzustellen. Ein weiteres Kapitel stellt zeitgenössische jugendkulturelle Szenen und Stile vor. Darüber hinaus thematisiert Ferchhoff am Beispiel von Sport und Mode die Idealisierung und Individualisierung von Jugend. Schlussendlich werden veränderte Erziehungs‑ und Sozialisationsbedingungen in Familie, Schule, Beruf, Freizeit und Gleichaltrigengruppe dargestellt. Nachstehend findet sich ein umfangreiches kapitelübergreifendes Literaturverzeichnis.

Die Beschreibung der historischen Entwicklung von Jugend und Jugendkulturen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen sowie deren wissenschaftliche Auslegung wirkt profund. Darüber hinaus werden Ergebnisse und Erkenntnisse jüngerer und jüngster Jugend‑, Jugendkultur‑ und Szeneforschung in kondensierter Form dargeboten. Begriffe wie „Peers“ werden ebenso wie Kontexte jugendlicher Lebenswelten, Handlungsfelder Jugendlicher sowie Entwicklungsaufgaben im Jugendalter anschaulich beschrieben. Insbesondere im letzten Abschnitt wird eine präzise analytische Darstellung von sich verändernden Sozialisationsbedingungen geboten, die anhand von 19 Thesen entfaltet wird.

Die Differenzierung jugendkultureller Szenen und Stile im siebenten Abschnitt („Jugendkulturelle Stile und Szenen im 21. Jahrhundert“) erscheint dagegen willkürlich und empirisch wenig gesättigt. So erschließ sich beispielsweise nicht, warum Serienfans und „Trekkies“ (Fans der Serie Star Trek) separat betrachtet werden. Auch die Differenzierung zwischen „Heavy Metal; White‑, Trash‑ [sic!], Black‑, Dark‑, Death Metal“ sowie „Satansrock“ einerseits und „Metallern“ andererseits erscheint nicht plausibel. Wichtige Subgenres wie „Pagan‑“, „Speed­‑“ und „True‑Metal“ werden hingegen in der Zwischenüberschrift nicht genannt, obwohl im Text zumindest auf „Speed Metal“ Bezug genommen wird. Ferner schimmert durch, dass die Validität empiriebasierter Aussagen, beispielsweise wenn der Autor vom „…Vorbild für ganze Generationen von Metal‑Bands – Metallica mit dem sehr erfolgreichsten [sic!] Album [sic!]: ‚Whatever [sic!] I may roam‘…“ berichtet, nur unzureichend geprüft worden zu sein scheint. Schlussendlich mutet es im Jahr 2011 merkwürdig an, die „Kellys“ (Anhänger der insbesondere in den späteren 1990er Jahren erfolgreichen Musikgruppe The Kelly Family) als Repräsentanten einer gegenwärtigen jugendkulturellen Szene (also im „21. Jahrhundert“) zu betrachten.

Für eine Empfehlung für Lehrende, Dozierende, Studierende und Sozialarbeitende ist es jedoch unerheblich, ob Ferchhoff mit der Band Metallica und deren Alben vertraut ist oder nicht, wenngleich es schade ist, dass derartige inhaltliche Mängel bei der Erweiterung und Überarbeitung für die zweite Auflage erhalten geblieben sind und den Eindruck empirischer Evidenz nachhaltig schmälern. Seine Stärken offenbart das Buch tatsächlich im Hinblick auf den Zweck, für den es konzipiert wurde: Es handelt sich um ein trotz seines üppigen Umfangs in verdichteter Form vorgelegtes, übersichtliches, leicht verständliches und didaktisch klug aufgearbeitetes Lehrbuch, das den „Mainstream“ des „state of the art“ der Jugend(kultur)forschung repräsentiert. Allein das umfangreiche Literaturverzeichnis kann Studierenden eine Einarbeitung in das spannende, hochkomplexe und wissenschaftlich anspruchsvolle Themengeflecht „Jugend“ und „Jugendkulturen“ erleichtern. Die einzelnen Abschnitte bieten darüber hinaus einen vorzüglichen Einblick in ausgewählte Themenbereiche zeitgenössischer Jugendforschung. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit den in der Publikation verhandelten Themen muss sich jedoch stets neu an der Empirie beweisen.

Sebastian Schröer

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Multikultur 2.0

Susanne Stemmler (Hg.):
Multikultur 2.0 – Willkommen im Einwanderungsland Deutschland
Wallstein Verlag 2011
336 Seiten
19,90 €

Eine Publikation des Hauses der Kulturen der Welt

9783835308404l„Multikultur 2.0“ ist eine aktuelle und aufschlussreiche Sammlung von Essays und Gesprächen, in denen die AutorInnen die Anerkennung der Vielfalt (Superdiversity) und die Öffnung der Gesellschaft (Interkultur) als wesentliche Bedingung für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen voraussetzen. Es werden innovative, philosophische Ansätze für das Miteinander und den Dialog in politischen, sozialen und rechtlichen Bereichen diskutiert. Begriffe wie Integration und Multikultur sind dabei schon von Beginn an in Frage gestellt. Die Problematik des bestehenden Integrationsbegriffs betrifft die Vorstellung, dass Migrant_innen sich zu assimilieren haben, ohne dass dabei ein gegenseitiger Austausch stattfindet. Eine erfolgreiche Integration sollte aber keine Anpassung an die Leitkultur im jeweiligen Einwanderungsland sein. Die Einwanderungsgesellschaften müssen sich den Einwanderern öffnen und einen Austausch zulassen. Auch Multikultur ist in dem Sinn irreführend, als dass es die Herausbildung von Parallelgesellschaften suggeriert. Gesellschaften sind jedoch dynamisch und selten einseitig.

Die Themenauswahl des Buches ist sehr umfassend: In „Jenseits des Multikulturalismus“ werden verbreitete Denkansätze in Frage gestellt. „Risiko des Dialogs“ zum Beispiel erinnert daran, wie wichtig ein erfolgreicher Dialog im Zeitalter der globalen Kulturströme ist.

Mit Bezug auf die kosmopolitischen Theorien der Antike sollte man gerade im Dialog berücksichtigen, Missverständnisse zu vermeiden und dass die eigene Sichtweise nicht immer die einzig Richtige ist. Insofern ist die Einwanderung gerade deshalb eine besondere Herausforderung, da sie die Werte und Normen einer Gesellschaft immer wieder in Frage stellt, so wie es im Gespräch „Der Islam ist unsere eigene Frage als Gestalt“ thematisiert wird. Weitere philosophische Aufsätze folgen unter „Denkansätze für ein postethnisches Zeitalter“. Hier geht es darum, dass weniger die Ethnizität bei sozialen Problemen eine Rolle spielen sollte, da die wirtschaftliche Situation oder auch das Milieu viel ausschlaggebender für die eigene Identität ist. Dadurch wird auch der Nationalstaat in Frage gestellt, der die Gesellschaften politisch unterteilt und auch strukturell hinderlich für eine Einbeziehung sein kann.

Was sich auf internationaler Ebene abspielt, zeigt der Text „Einwanderungsgesellschaften im internationalen Vergleich“. Einbindungsstrategien typischer Einwanderungsländer wie Australien, die USA oder Brasilien sind besonders interessant, gerade im rechtlichen und institutionellen Bereich. Meistens von philosophischen Überlegungen und der Geschichte ausgehend, werden Institutionen und Aktionen genannt und Vergleiche gezogen. Deutschland schneidet im internationalen Vergleich mittelmäßig ab und erntet im Themenkomplex „Einwanderungsland Deutschland – eine Bestandsaufnahme der Integrationsdebatte“ immer wieder Kritik für u. a. folgende Punkte:

  1. Die späte Einsicht und damit auch die fehlende Reaktion darauf, dass Deutschland tatsächlich ein Einwanderungsland ist
  2. Das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft
  3. Den Ausschluss der Bürger aus Drittländern an der politischen Teilhabe, selbst auf kommunaler Ebene.

Es stellt sich die Frage, wie man praktisch mit den strukturellen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten umgehen soll, die die Migration verursacht. Eine Änderung der generellen Wahrnehmung reicht laut Meinung der Experten nicht. Gerade Institutionen müssen sich neu orientieren bzw. neu entstehen. Politikfelder wie Bildung, Menschenrechte und Soziales müssen in das Zentrum der Diskussion gerückt werden. Auf kommunaler Ebene sind die Migrationsbeiräte, die von Migranten selbst gewählt werden, nur ein nennenswertes Beispiel neben Sozial‑AGs oder diversen kulturellen Projekten.

Die Auswahl Susanne Stemmlers ist sehr vielseitig und beleuchtet die Migrationsthematik aus verschiedenen Perspektiven, sei es aus der Sicht eines australischen Botschafters oder einer türkischen und lesbischen DJane aus Berlin. Gespräche, Diskussionen und Statistiken vertiefen bestimmte Problematiken. Der letzte Abschnitt „Transnationale Kulturen und nationale Institutionen“ betont die Diversität und die Dynamiken des gesellschaftlichen Austausches. Viele Künstler, die vorgestellt werden, versuchen die vielfältigen Entwicklungen zu analysieren und zu verarbeiten. Hier reicht die Bandbreite von Musik über Theater bis hin zu einer Installation in Richtung experimenteller Kunst, eine Mischung aus Actionpainting und „Chaos TV“, mit verschiedenen religiösen und sozialen Gruppen.

Dem vorliegenden Band gelingt es, die aktuellen Entwicklungen und Probleme der Integration darzustellen. Gleichzeitig werden diesen unterschiedlichste Lösungsansätze und Bemühungen von der internationalen bis zur regionalen Ebene gegenübergestellt.

Die Herausgeberin Susanne Stemmler leitet den Bereich Literatur, Gesellschaft und Wissenschaft am Haus der Kulturen der Welt. Sie studierte Romanistik, Germanistik und Literaturübersetzung.

Julia Dalmer

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Revolutionäre Frauen

Queen of the Neighbourhood Collective
Revolutionäre Frauen – Biografien und Stencils
Edition assemblage 2011
128 Seiten
12,80 €

queen_revolutionaere_frauen_rgb_web-189x300Sie sind Aktivistinnen, Anarchistinnen, Feministinnen, Freiheitskämpferinnen, Visionärinnen: Dreißig Frauen, deren Geschichten mehr oder weniger – eher weniger – bekannt sind, werden in diesem Buch in kurzen Porträts vorgestellt und anhand von so genannten Stencils optisch präsentiert. Stencils, das sind die in der Streetart bekannten Schablonen zum Sprühen von Graffitibildern. Praktisch könnte man sie hier direkt ausschneiden, um selbst aktiv zu werden, wäre dieses Buch nicht viel zu schön zum Zerschneiden.

Ausgangspunkt dieser Zusammenstellung war die Feststellung, dass revolutionäre Ikonen eigentlich immer ein männliches Antlitz haben. Ches verträumter Rebellenblick prangt ohne Ende auf schwarz‑roten T‑Shirts alternativer oder auch nur trendbewusster Jugendlicher und an künstlerisch umgestalteten Hauswänden. Aber Frauenköpfe? – Fehlanzeige. Ihre Bilder und ihre Geschichten bleiben meist im Verborgenen. Das Queen of the Neighbourhood Collective, ein Frauenkollektiv aus Autorinnen, Forscherinnen und Künstlerinnen in Aotearoa, Neuseeland, hat sich mit der vorliegenden Publikation zum Ziel gesetzt, dies zu ändern, den Che‑Glamour zu entlarven und gleichzeitig einen Kommentar zur Pop‑Kultur abzugeben. Stellvertretend für die Kollektiv‑Autorinnen (u. a. Hoyden, Melissa Steiner, Anna Kelliher, Rachel Bell, Anna‑Claire Hunter, Janet McAllister) schreibt Tui Gordon im Vorwort:

In Revolutionen geht es um Umkehr, um Umbruch, darum, einen radikalen Wandel in unserem Denken und Handeln zu initiieren. […] Alle Frauen dieses Buches handelten – bzw. wurden zum Handeln gezwungen – aufgrund eines tiefgehenden Gespürs für Ungerechtigkeiten und dem Drang, diese anzugehen oder ihnen zu entfliehen. Alle vorgestellten Frauen sind radikale, außergewöhnliche und nonkonformistische Freidenkerinnen; Menschen, die die Regeln der Gesellschaft zwar kennen, aber nicht nach ihnen leben; „Outlaws“, die sich nicht notwendigerweise selbst für ein Leben außerhalb der Konventionen entschieden haben, die aber in ihrem Sein schlichtweg unkonventionell sind.

Auf der Grundlage des ursprünglichen Zines Revolutionary Women Stencil Book werden sie vorgestellt: Harriet Tubman, Louise Michel, Vera Zasulich, Emma Goldman, Qui Jin, Nora Connolly O’Brien, Lucia Sanchez Saornil, Angela Davis, Leila Khaled, Comandante Ramona, Phoolan Devi, Ani Pachen, Anna Mae Aquash, Hannie Schaft, Rosa Luxemburg, Brigitte Mohnhaupt, Lolita Lebron, Djamila Bouhired, Malalai Joya, Vandana Shiva, Olive Morris, Assata Shakur, Sylvia Rivera, Haydée Santamaría, Marie Equi, Mother Jones, Doaria Shafik, Ondina Peteani, Whina Cooper und Luci Parsons. Es sind Frauen mit unterschiedlichsten Anliegen, Philosophien und Handlungsmaximen. Einige anerkannt, andere höchst umstritten. Das Buch versteht sich auch nicht als Mittel, Heldinnen zu schaffen. Die Intention des vorliegenden Bandes ist vielmehr, ein „satirisches Spiel mit dem Konzept von Ikonen und Held_innenverehrung“ anzubieten.

Klargestellt wird zu Beginn auch, dass die Mitwirkenden nicht unreflektiert an ihr Projekt herangegangen sind. Zunächst wurde kritisch hinterfragt, ob es überhaupt im Sinne aller Porträtierten sei, in einem Buch, das unvermeidbar auch dem Konsum der Kaufkräftigen dient und anteilmäßig trotz globaler Perspektive tendenziell mehr Geschichten weißer Frauen beinhaltet, vereint zu werden. Weitere Aspekte waren die Frage nach dem unterschiedlichen Stellenwert von Militanz und Pazifismus unter den Rebellinnen ebenso wie ihre divergierenden kulturellen Hintergründe, die deren Auffassungen von Feminismus durchaus ambivalent erscheinen lassen. Letztlich bleiben, so Tui Gordon, „zwei zentrale Punkte: Erstens der tief verankerten patriarchalen Geschichte eine Tritt in die Eier zu verpassen und zweitens die Freude über starke Frauen zu verbreiten und Lust auf Revolution zu machen“.

Herausgekommen ist ein wunderbares Stöber‑ und Lesebuch für alle Altersklassen und Gender. Die einzelnen Geschichten sind spannend und informativ geschrieben und die beigefügten Stencils kleine Kunstwerke – hervorragend dazu geeignet, kopiert zu werden und damit, wie augenzwinkernd im Buch empfohlen wird, „Aufnäher, T‑Shirts, Geschirrtücher“ zu gestalten oder den Schlafzimmerwänden „eine schicke revolutionäre Ästhetik“ zu verleihen. Schön zu sehen, dass Feminismus nicht immer spaßfrei sein muss und so originelle Projekte und gelungene Umsetzungen hervorbringen kann.

Gabriele Vogel 

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Gender und Häuserkampf

amantine
Gender und Häuserkampf
Unrast 2011
232 Seiten
14,00 €

978-3-89771-508-0Amantine stellt unter dem schlagwortartigen Titel Gender und Häuserkampf nun explizit die Frauen ins Zentrum der Hausbesetzer_innenszene. Einführend wird ein informativer Rückblick auf die Geschichte alternativer Wohnformen gegeben. Diese reicht in Berlin historisch bis ins 19. Jahrhundert, da die Wohnungsnot und die daraus erwachsenen überhöhten Mietpreise hier bereits 1871 derart katastrophal waren, dass Menschen sich zu unkonventionellen Formen des Wohnens in Hütten und Baracken gezwungen sahen, Protestmärsche organisierten und auch damals schon Sanktionen in Form von Polizeigewalt zu spüren bekamen. In den 1970er Jahren begannen dann die Hausbesetzungen in der bekannteren Form des eigenmächtigen Beziehens leerstehenden Wohnraums aus sowohl finanziellen als auch politisch-ideologisch motivierten Beweggründen. Diese Besetzungen verliefen in Schüben um 1970, 1980/81, 1989/90 und dann auch wieder von den 1990er Jahren bis heute auch außerhalb Berlins, in mehreren größeren westdeutschen Städten und in enger Verbindung zu Häuserbewegungen in der Zürich und in Amsterdam. Dazu kam in den 1980er Jahren die Entstehung von Wagenplätzen auf ungenutzten Stadtflächen, oft auch außerhalb der Zentren.Auch in linken Gegenbewegungen ist die Auseinandersetzung mit Gender‑Aspekten, womöglich gar mit Feminismus, leider nicht selbstverständlich und muss mit enervierender Hartnäckigkeit immer und immer wieder eingefordert werden. Das zeigt dieses Buch und gehört damit selbst in die Reihe der Publikationen, die ihren Teil zu einer gelungenen Herangehensweise an eine patriarchatskritische Thematik beitragen. Denn auch die aktuell wieder vermehrt im Fokus historischen Interesses stehende Häuserkampfbewegung erscheint zumeist als eine der autonomen Fighter und Straßenkämpfer, die allgemein als männlich gedacht werden. Dass bei dieser Bewegung auch Frauen ihre eigenen Forderungen durchgesetzt und Freiräume erkämpft hatten, rückt oft in den Hintergrund der Aufmerksamkeit.

Die erste Besetzungswelle begann fast parallel zur zweiten Frauen‑Bewegung in den späten 1960er Jahren. Auch der Wohnraum wurde zum Feld politischer Auseinandersetzungen. Die Kontroversen unter dem Motto „Politisierung des Privaten“ innerhalb der neuen sozialen Bewegungen führten dazu, dass Frauen sich zunehmend separierten und eigenständig organisierten, in eigenen Wohngemeinschaften, Frauen‑Kommunen und selbstständig besetzten Häusern. Die Konflikte und Debatten hörten damit jedoch nicht auf, da es trotz augenscheinlicher Veränderungen immer wieder zu patriarchalen „Rollbacks“ kam. Als Reaktion auf Sexismus und Homophobie formierte sich eine von staatlichen Institutionen unabhängige autonome Frauen/Lesben‑Bewegung, die bis heute aktiv an den Geschlechterdiskursen beteiligt ist.

Im vorliegenden Band werden einzelne Häuser skizziert, konkrete Konflikte aufgegriffen, Diskurse und Debatten nachgezeichnet. Anhand zahlreicher Zitate aus Szenepublikationen und Interviews werden authentische Einblicke in die einzelnen Phasen von 1969 bis 2010 gegeben und migrantinnenspezifische ebenso wie heteronormativitätskritische bzw. queere Standpunkte miteinbezogen. Der flüssige Schreibstil bleibt sachlich und ist gut zu lesen. Absolut empfehlenswert für alle, die sich für die Geschichte des Häuserkampfes interessieren und sich umfassend informieren wollen.

Gabriele Vogel

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Engagiert Euch!

Stéphane Hessel
Engagiert Euch!
Ullstein 2011
64 Seiten
3,99 €

9783550088858_coverDer 93‑jährige Franzose Stéphane Hessel ist im Jahr 2010 durch seinen 30 Seiten starken internationalen Bestseller Empört Euch! zu einer Art Rädelsführer einer neuen Widerstandsbewegung geworden. Seine Biografie liest sich beeindruckend: 1917 in Berlin geboren, wurde er bald französischer Staatsangehöriger und Mitglied der Résistance‑Bewegung. Während des Zweiten Weltkriegs geriet er zweimal in Kriegsgefangenschaft in deutsche Konzentrationslager, aus denen er nur durch Glück entkommen konnte. 1948 wirkte er an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit und agierte anschließend als UNO‑Funktionär, Diplomat und Botschafter Frankreichs.

Das Nachfolgewerk Engagiert Euch!, ein ebenfalls nur knapp 60 Seiten starkes Büchlein (wobei ca. 25 Seiten auf die im Anhang abgedruckte Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte und die Biografie Hessels entfallen), besteht aus einem Interview Stéphane Hessels mit dem mittezwanzigjährigen Journalisten Gilles Vanderpooten. Die Thematik ist dabei nahezu dieselbe wie in Empört Euch!: Hessels Hauptanliegen ist zum einen die Verminderung der sozialen Ungleichheit, dem immer weiteren Auseinanderklaffen zwischen extremer Armut und extremem Reichtum, und zum anderen sind es die Bewahrung und der Schutz des Planeten Erde, um den es angesichts der Klimaerwärmung und der schonungslosen Ausbeutung der Natur nicht sonderlich gut bestellt ist.

Hessel nimmt zur Verfolgung dieser Ziele vor allem die Jugend in die Pflicht. Es genüge nicht, sich nur aufzuregen, sondern es müssen auch Taten folgen. Passivität war gestern, heute ist Engagement gefragt! Die große Schwierigkeit des heutigen Widerstandes sei dabei, dass man nicht mehr wie zu Zeiten der Résistance gegen ein klar definiertes Feindbild auf nationaler Ebene ankämpfe, sondern an mehreren Stellen gleichzeitig auf globaler Ebene lokal agieren müsse. Sei dies nun in der Kapitalismuskritik, dem Umweltschutz oder in der Entwicklungspolitik. Dabei bestünden stets höchst komplexe Zusammenhänge, sodass ein Schritt vorwärts an einer Stelle meist einen Schritt zurück an einer anderen zur Folge habe. Deshalb bedürfe es gewaltiger Anstrengungen, Lebensweisheit und vor allem Ausgewogenheit, um Neues zu gestalten und nicht auf halber Wegstrecke liegen zu bleiben.

Um die Aufgaben der heutigen Zeit zu meistern, macht Hessel auch einige Vorschläge: So fordert er, als bedingungsloser Anhänger der UNO, zum Schutze der Umwelt eine Allgemeine Erklärung der Rechte der Natur und die Einführung einer UNEO (UN Environment Organization). Auch plädiert er für die Institutionalisierung einer „Weltregulierung“, die sich aus den 20 bis 30 verantwortungsvollsten Staaten zusammenzusetzen habe und in der Verfolgung einer „Weltstrategie“ durch mehr Regulierung wirtschaftliche und soziale Sicherheit erzeugen und Chaos, wie die jüngste Weltwirtschaftskrise, verhindern solle. Allgemein bedürfe es einer sehr viel stärkeren Regulierung und Kontrolle der liberalen Wirtschaftspolitik. Man müsse abweichen von der kapitalistischen Steigerungslogik und sich stattdessen auf nachhaltige Produktions‑ und Konsumverfahren konzentrieren. Dies hieße nicht weniger zu produzieren, sondern in Einklang mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen. Der Mensch solle sich nicht mehr als Krone der Schöpfung verstehen, sondern als Bestandteil der Umwelt und dementsprechend in Einklang mit ihr leben.

In der Entwicklungspolitik bedarf es laut Hessel neben der Steigerung des Bruttosozialprodukts der geförderten Länder auch einer Ausweitung und Förderung des Bildungsstandards, der Kultur, der Identität und der Gesundheitsversorgung und keiner weiteren Ausbeutung durch die „kommerziellen Raubritter der Weltwirtschaft“. Dazu gehörten auch die Etablierung einer eigenbedarfsgerechten, ökologischen und nachhaltigen Landwirtschaft in den Entwicklungsländern und der Stopp von Agrarimporten aus den Industrieländern. Nur so könne die Armut gemindert und der Graben zwischen Entwicklungs‑ und Industrieländern geschmälert werden. Als Kulturrelativist liegt Hessel die Vielfalt der Kulturen und Völker besonders am Herzen. Es geht ihm dabei um einen friedlichen und respektvollen Umgang miteinander und um die Beseitigung des gegenwärtig vorherrschenden Kulturimperialismus westlicher und chinesischer Prägung. Hessel setzt große Hoffnungen in die Nicht‑Regierungsorganisationen, deren Ideen und Vorschläge aber auch zukünftig von den Regierungen beherzigt werden sollten. Auch der Dialog zwischen den Generationen spielt für ihn eine bedeutende Rolle: Die Erfahrung der Alten und die Kreativität der Jungen seien nötig, um die Welt eine Bessere zu machen.

Es sind also große Themen und noch größere Ziele, die Stéphane Hessel in diesem Büchlein aufwirft. Bei allem (mehr oder weniger berechtigten) Zweifel am Erfolg dieses Unterfangens bleibt er stets gnadenlos optimistisch, ohne den Glauben an das große, seiner Meinung nach noch nicht ausgeschöpfte Potenzial der Menschheit zu verlieren. Hessel wird oft vorgeworfen, nur Probleme und Missstände zu benennen und zu kritisieren, jedoch keine konkreten Handlungsoptionen vorzugeben. Diese Handlungsoptionen werden auch im vorliegenden Band nur sehr bedingt und wenig konkretisierend dargelegt. Doch genau in dieser vermeintlichen Schwäche liegt auch die Leistung des Buches: Es bedarf zuerst einer Aufzählung und Benennung der Missstände, um anschließend nach Lösungsvorschlägen zu suchen und diese gegebenenfalls auch umsetzen zu können.

Natürlich sind die Sachverhalte und Probleme an anderer Stelle schon mehrfach geschildert worden, und dies auch oft besser und ausführlicher, sodass die Lektüre Vielen nichts Neues bieten wird. Und ob die angedeuteten „Lösungsvorschläge“ Hessels wirklich Verbesserungen bewirken können, ist wieder eine andere Frage. Auch wirkt der erhobene Zeigefinger Hessels an manchen Stellen des Buches mitunter etwas großväterlich altklug und nervend. Hessels Verdienst liegt vielmehr darin, eine breite Öffentlichkeit für drängende und wichtige Probleme der Gegenwart zu sensibilisieren, auch wenn sein durchschlagender Erfolg möglicherweise nur seinem hohen Alter und seinem bewegten Leben geschuldet sein mag. Die Inhalte jedoch bleiben wichtig und sollten jeden etwas angehen.

Dominik Redemann

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Heile Welten

Astrid Geisler/Christoph Schultheis
Heile Welten – Rechter Alltag in Deutschland
Hanser Verlag 2011
223 Seiten
15,90 €

heile-welten.de

coverIn den deutschen Medien treten Rechtsradikale meist als Skinheads in Erscheinung, gewalttätig und uniformiert mit Bomberjacken und Springerstiefeln. Eine skandalöse Situation wird als Aufhänger genommen, Schlagzeilen zu machen und über Rechtsextremismus zu debattieren. Doch was ist mit den alltäglichen Rassisten, den netten Menschen von Nebenan, die sich nicht durch Kleidung und Verhalten zu erkennen geben. Sind sie weniger schlimm, weniger gefährlich, weniger rechts?

Das Autorenpaar versucht anhand von neun beispielhaften Reportagen aus ganz Deutschland zu zeigen, dass es neben kahlköpfigen Nazi‑Schlägern auch Menschen mitten unter uns gibt, die rechtsradikales Gedankengut unbemerkt oder sogar geduldet verbreiten und ausleben. Das reicht von der zur Schöffin berufenen Hausfrau und Mutter, die sowohl im Elternbeirat der Schule als auch in der NPD aktiv ist, bis hin zu den Jugendlichen aus der ostdeutschen Provinz, die vom Gericht bescheinigt bekommen, eher aus Langeweile als aus politischen Gründen linke Mitschüler zu verprügeln.

Die im Buch vorgestellten Begebenheiten sind sehr gut recherchiert und bieten viele Hintergrundinformationen. Sie suchen nicht den Skandal, sondern greifen Geschichten auf, die die Normalität widerspiegeln, mit der sich fremdenfeindliche und antidemokratische Mitbürger in unserer Gesellschaft bewegen. Leider bedienen sie auch das ein oder andere Klischee, z. B. wenn in der brandenburgischen Provinz am Spanferkelgrill nationale Lieder gesungen werden, während in der schwäbischen Kleinstadt die wohlhabende, weltoffene Lehrerfamilie nicht verstehen kann, wie sich ihr rechtsgerichteter Sohn vom Gymnasium in den Knast manövriert hat.

Wer sich mit dem Thema schon etwas ausführlicher beschäftigt hat, dem wird nicht viel Neues offenbart. Doch die Darstellung von Alltagssituationen verschiedener Menschen in einzelnen Kapiteln und die wenig reißerische Sprache der Autoren machen das Buch leicht lesbar und bieten einen guten Einstieg für interessierte LeserInnen. Am Ende fehlt jedoch eine Auseinandersetzung mit den gegebenen Zuständen, einige Fragen bleiben offen. Es werden keine Tipps gegeben, wie man mit solchen Gegebenheiten umgehen kann und keine Lösungen angeboten. Doch das ist auch nicht die Intention der Autoren. Sie wollen vielmehr zum Nachdenken anregen und die Sinne schärfen, denn rechtes Gedankengut ist oft genauso schwer zu erkennen wie seine VerbreiterInnen.

Lydia Busch

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Angriff von Rechtsaußen

Ronny Blaschke
Angriff von Rechtsaußen – Wie Neonazis den Fußball missbrauchen
Verlag Die Werkstatt 2011
223 Seiten
16,90 €

9783895337710_0„Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“ war einer der harmloseren Gesänge, die die Zuschauerinnen und Zuschauer des Spiels der neugegründeten SG Leipzig‑Leutzsch gegen Roter Stern Leipzig im September dieses Jahres vernehmen durften. Etwas deutlichere Rufe wie beispielsweise „Teutonisch, barbarisch – wir Leutzscher, wir sind arisch!“, von anwesenden Anhängern des Roten Sterns per Handy‑Video dokumentiert, wurden im Nachhinein durch die Vereinsführung der SGLL schlicht geleugnet. Dem Gegner drohte man mit rechtlichen Schritten, sollte dieser die Vorfälle weiter öffentlich thematisieren. Nachdem der Druck auf die Verantwortlichen des Vereins wuchs und sich der sächsische Fußballverband sowie die Stadt Leipzig einschalteten, wurde man in Leutzsch ein wenig kleinlauter. Im Stadionheft ließ der Vorstand in einem Vorwort dennoch verlauten, die Gesellschaft drücke „dem Fußball ihr hässliches Gesicht auf“, „politisch unkorrekte Fangesänge“ führten nicht dazu, „dass ein aufrechter Bürger nach dem Abpfiff zur Eisenstange greift“. Unterschrieben war der Text mit „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“ – übersetzt in sieben Sprachen.

Mit Eisenstangen wiederum hatte der Rote Stern Leipzig bereits im Oktober 2009 leidvolle Erfahrungen machen müssen, als eine Gruppe von fünfzig Neonazis Fans, Spieler und Funktionäre während eines Auswärtsspiels in Brandis angriff und zum Teil schwer verletzte. Mit den Vorfällen von Brandis findet das Buch Angriff von Rechtsaußen – Wie Neonazis den Fußball missbrauchen von Ronny Blaschke seine Einleitung. Blaschke hat Sport- und Politikwissenschaften an der Universität Rostock studiert und lebt als freier Journalist und Autor in Berlin. Für ein Dossier in der ZEIT, welches die Unterwanderung eines anderen Leipziger Fußballclubs, des 1. FC Lokomotive durch organisierte Neonazis zum Thema hatte, wurde er 2009 zum Sportjournalisten des Jahres gekürt. Sein Buch, erschienen im Verlag Die Werkstatt, nimmt sich nun, in Form einer Sammlung von Reportagen und Interviews, der Thematik über die Grenzen Leipzigs hinaus an. Dabei verfährt Blaschke wie schon bei o. g. Dossier: Er stützt sich nicht auf Statistiken oder andere Quellen, sondern recherchiert vor Ort. So führten ihn seine Reisen etwa nach Rönsahl, unweit von Lüdenscheid, wo der NPD‑Funktionär Stephan Haase als Schiedsrichter Spiele der Kreisliga leitet, oder in eine thüringische Kleinstadt, in der ein Neonazi der SG Germania vorsteht, um Jugendliche an die örtliche Kameradschaftsszene heranzuführen. Dass der Autor nicht nur mit Sozialarbeitern, einer Sportmediatorin oder einem Gewaltforscher spricht, sondern auch Neonazis in Interviews ausführlich zu Wort kommen lässt, erscheint zunächst zumindest ungewöhnlich. Er hofft hingegen, dass, wer deren „abstruse Opfer‑ und Verschwörungstheorien wortwörtlich“ dokumentiere, ihnen damit „die demagogische und aufrührerische Kraft“ nehme. Dies gelingt dem Buch insbesondere dann, wenn deutlich wird, wo für Rechtsextreme theoretische Anknüpfungspunkte an Fußball‑Fanszenen entstehen, etwa bei der in Fankreisen populären, meist wenig reflektierten Kritik an einem sogenannten modernen Fußball, sprich der Kommerzialisierung und Globalisierung des Profibereichs.

In der zweiten Hälfte verlässt der gut 200‑seitige Band das mit dem Titel sehr eng gesteckte Themenfeld und begibt sich auf Ursachenforschung und die Suche nach Lösungsansätzen. Erziehungswissenschaftler, Fanprojekte, aber auch DFB‑Präsident Theo Zwanziger und der in Deutschland aufgewachsene türkische Nationalspieler Halil Altintop werden befragt. Blaschke berichtet über die jüdische Makkabi‑Bewegung und beschäftigt sich mit Antiziganismus in Ungarn. Oft bleibt das Buch dabei nur an der Oberfläche der zahlreichen Themen, schafft es damit aber, einen Überblick zu verschaffen über die ebenso vielen Probleme, mit denen der Fußballsport behaftet ist – Probleme, die ihm oftmals sein „hässliches Gesicht“ zeichnen und denen er sich als Teil dieser Gesellschaft zu stellen hat. Dass die Sensibilität hierfür vielerorts noch nicht vorhanden ist, zeigen Blaschkes Bestandsaufnahmen des Alltags auf deutschen Sportplätzen und in den Stadien nur allzu deutlich. Seinem Buch bleibt zu wünschen, dass es diesem Zustand entgegen wirken kann.

Leyla Dewitz

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Mädelsache!

Andrea Röpke/Andreas Speit
Mädelsache! – Frauen in der Neonazi-Szene
Ch. Links Verlag 2011
240 Seiten
16,90 €

615 Maedelsache US.inddDie Rolle der Frauen in der Neonazi Szene hat sich verändert. Sie sind keineswegs nur noch Ehefrauen und Mütter, sondern treten als aktive Parteimitglieder auf, sind in Kameradschaften organisiert oder unterstützen tatkräftig ihre Ehemänner. Die Veränderungen des weiblichen Engagements werden in dem Buch Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene ausführlich dargestellt. Andrea Röpke und Andreas Speit recherchierten detailliert über Frauen in der NPD sowie über Gruppierungen wie den Ring Nationaler Frauen (RNF), die Gemeinschaft Deutscher Frauen (GDF), die Frauengruppen der Freien Kräfte und die Autonomen Nationalistinnen.

„Die NPD will die Frau zeigen – vorzeigen, um bürgernah, frauenfreundlich und wählbar zu erscheinen.“ Die Rede ist hier von der sächsischen Landtagsabgeordneten Gitta Schüßler. Sie steht – gemeinsam mit den anderen Frauen der Szene – für den Strategiewandel der NPD, in der immer mehr Frauen in die Parteiarbeit einbezogen werden. Frauen übernehmen in der Politik Bereiche wie Familie und Bildung mit dem Ziel, soziale Themen mit nationalen Forderungen zu besetzen. Sie sprechen mit den Themen Arbeitslosigkeit, Altersarmut oder einem geforderten Müttergehalt gezielt die Ängste und Wünsche der Menschen an. Das Buch macht deutlich: Die Partei hat das politische Potential von Mädchen und Frauen für die gesellschaftliche Akzeptanzgewinnung erkannt.

Aufgrund der fortschreitenden kommunalen Unterwanderung durch die NPD kommt der Rolle der Frau eine neue, wichtigere Bedeutung zu. Die AutorInnen sprechen sogar davon, dass das Vorhaben der Neonazis, sich kommunal zu verankern, nur mit weiblicher Unterstützung stattfinden kann. Neben der Strategie, über soziale Berufe menschenverachtendes Gedankengut in die Erziehung von Kindern mit einfließen zu lassen, engagieren sich Frauen beispielsweise ehrenamtlich in Elternvertretungen oder Sportvereinen. So können sie soziale Kontakte knüpfen und sich als engagierte, hilfsbereite Mütter präsentieren. Da Frauen meist im Hintergrund der NPD oder anderen extrem rechten Organisationen agieren, sind die politischen Ansichten im sozialen Umfeld meist nicht bekannt. Die Mitmenschen wissen nichts von den Einstellungen der freundlichen Nachbarin, Kollegin oder Sportlehrerin des Kindes. Wird aber der politische Hintergrund der Frauen bekannt, reagieren die Menschen aus dem Umfeld geschockt und fassungslos. So engagierte sich auch beispielsweise Stella Hähnel, RNF Mitgründerin, ehrenamtlich in einem Familiencafé und ließ die MitarbeiterInnen im Bezug auf ihre Überzeugungen im Dunkeln.

Das Buch weist außerdem auf die Gefahr der Verharmlosung menschenverachtender Einstellungen durch das Auftreten der extrem rechten Frauen hin. Dies wird beispielsweise beim Gründungstreffen des RNF im Jahr 2006 deutlich. Frauen wirken aufgrund ihres Erscheinungsbildes auf die Bewohner des Ortes Sotterhausen in Sachsen Anhalt eher konservativ als radikal. Nachbarn verkennen die Gefahr und treffen Aussagen wie „die sind doch nett“, oder „die Frau ist höflich und die Kinder gut erzogen“.

Die AutorInnen berichten auch über die größere kulturelle Freiheit innerhalb der Partei, die durch den seit 1996 aktiven Parteivorsitzenden Udo Voigt vorangetrieben wurde. So feiern „völkische Familien in Trachten neben Glatzköpfen, ehrgeizige Studentinnen neben Frauen in Lack und Leder“. Die Toleranz in Bezug auf die Kleidung der Szeneangehörigen sowie das vermehrte Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit könnte den Anschein erwecken, dass sich auch das traditionelle Geschlechterverständnis der NPD gelockert hat. Doch keineswegs ist von einer Gleichstellung zwischen Frauen und Männern innerhalb der Partei und den außerparteilichen Organisationen zu sprechen. Immer wieder kritisieren Frauen die Dominanz der Männer und die Ungleichbehandlung der Geschlechter in der NPD. Diese Kritik ist aber in den eigenen Reihen weder gern gesehen noch wird sie geduldet. Einen stetigen Konflikt zwischen Emanzipation und einem traditionellem Rollenbild gibt es nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch bei den Autonomen Nationalisten. Diese erscheinen zwar aufgrund der Übernahme von aktuellen Modetrends modern, Sexismus und Gewalt gegenüber Frauen gibt es nach Insiderberichten aber auch hier.

Einen Teil des Buches widmen die AutorInnen der Gemeinschaft Deutscher Frauen (GDF), die sich am traditionellen Frauenbild des Dritten Reiches orientiert. So sollen die Frauen Mütter von möglichst vielen Kindern werden. Andrea Röpke und Andreas Speit tragen auch Einzelheiten über die ideologischen Ziele der Kindererziehung und der Schaffung einer nationalen Gegenkultur der GDF zusammen.

Der Leser oder die Leserin wird zusätzlich über die Freizeitaktivitäten der Rechtsextremen informiert. Es gibt nicht nur neonazistische Ausflüge oder Zeltlager für den Nachwuchs, sondern auch Familien Überlebenscamps. Dort treffen Frauen gemeinsam mit ihren Familien Vorbereitungen, um die Zeit nach dem Zusammenbruch des Landes zu überstehen. Die TeilnehmerInnen verzichten während des Camps auf moderne Technologien. „So kann das deutsche Volk, dank den Frauen, überleben“. Nach den ausführlichen Recherchen über die in den Medien viel zu lange nicht beachteten nationalistischen Frauenorganisationen und Frauen innerhalb der NPD wird deutlich, was die Frauen der Szenen schon seit langem kundtun: Nationalismus ist auch „Mädlsache“. Aufgrund dessen widmet sich das letzte Kapitel ganz dem Umgang mit rechten Frauen im Alltag. Dabei können die AutorInnen selbstverständlich keine ausgearbeitete Handlungsanweisung liefern, aber Erfahrungen und Auseinandersetzungen von Betroffenen aufführen. Was haben andere BürgerInnen gegen die Unterwanderung lokaler Strukturen getan? Und wie haben sie sich beispielsweise gegenüber nationalistischen Erzieherinnen verhalten?

Das AutorInnenduo kommt zu dem Ergebnis: Frauen der extrem rechten Szene weichen der Zivilcourage. Deshalb muss die Gesellschaft aufmerksamer werden und sich bewusst machen, dass ein höfliches Auftreten der Frauen nicht die menschenverachtenden Einstellungen ändert. Auch eine Frau kann radikal sein. Nur so können die Aktivitäten aufgedeckt und die Handlungsfelder eingeschränkt werden. Dabei fordern die AutorInnen bereits ein Einschreiten, wenn Diskriminierungen beginnen und nicht erst bei Bekanntwerden einer NPD-Mitgliedschaft. Denn die Abgrenzungen zwischen Autonomen Nationalisten, Kameradschaften und der NPD sind aufgeweicht und eine offizielle Mitgliedschaft in der NPD ist längst nicht mehr notwendig.

Luisa Wingerter

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Storch Heinar

Julian Barlen/Mathias Brodkorb/Robert Patjedl (Hg.)
Storch Heinar: Mein Krampf – 18 Episoden aus dem selbst gefälschten Tagebuch des F. H.
Adebor Verlag 2011
88 Seiten
8,88 €

storchDer Rückstoß seiner – durch Froschfleischintoleranz verursachten – Flatulenzen befördert den bedauernswerten Storch Heinar schon früh unsanft aus dem Nest. Auch in seiner Storchenpeergroup ist der schwächliche Heinar endlosen Demütigungen ausgesetzt. Noch dazu fühlt er sich zum Künstler berufen und sieht seine Zukunft in der schillernden Welt der Mode. Doch trotz eifrig angefertigter Sommersocken‑Kollektion nimmt auch die Modeakademie ihn nicht auf. Als er schließlich sogar den Vogel‑Zug ins afrikanische Winterquartier verpasst, ist für Heinar das Maß voll. Mit seinen Storchenkumpels, dem debilen Rudolf, dem lahmen Joseph und dem fetten Hermann macht er sich als selbsternannter Führer nach einigen, von weiteren Peinlichkeiten gekrönten Erlebnissen auf den Weg nach Mailand, um die Herausforderung des berühmten Modezaren Benito Storcholini aufzunehmen.

Im weiteren Verlauf der Geschichte geht es dann eigentlich nur noch um eines: des Führers Ei. Denn, so stellt es sich heraus, Führer Heinar hat schlichtweg keine Eier. Und darum zettelt er einen Krieg an. Dieser will jedoch auch nicht so recht gelingen, zumal ausgerechnet der versoffene Rudolf mit dem Bau einer Wunderwaffe beauftragt wird. Nach einer gewaltigen Explosion gerät Heinar in einen Hinterhalt:

Ich blickte mich um, sah mich mit einem Schlag umringt von muskelbepackten Schlagstörchen, die mich in die kleine Seitengasse abdrängten. Dort stand er, der König der Verräter: Graf Straußenberg! Wie böse er lachte!

Ich stand wie angesteinart da. Was wollte er? Ich wusste es nicht. Wollte er sich nur wurzeln? „Du dreckiger Verräter!“, zischte ich ihm entgegen. Er selbst, ganz Aristokrat, zupfte an seinen Flügelhandschuhen. Dann wurde er wütend, begann zu schnauben, schrie herum und behauptete, er sei selbst der Verratene, denn unsere Wunderwaffenfabrik, für die er Millionen seiner besten und größten Eier geopfert und niemals einen roten Heller gesehen habe, wäre in Wahrheit nichts als eine riesige Eierlikörmaschine gewesen!

Wie dieses bizarre Storchen-Epos endet, soll hier nicht verraten werden. Offensichtlich hatten die Verfasser ihre helle Freude daran, so viele Details wie nur möglich aus der nationalsozialistischen Geschichte in Verbindung mit dem Brandenburger Modelabel „Thor Steinar“ zu ver‑eiern und das ist ihnen durchweg amüsant gelungen.

Die zweite Hälfte des mit Bedacht 88 Seiten zählenden Bandes berichtet über den realen Werdegang des politischen „Satire- und Klamottenprojekt Storch Heinar“. Die von der SPD und den Jusos Mecklenburg-Vorpommern getragene und gegen Rechtsextremismus eintretende Initiative „Endstation Rechts“ gründete das Storchenprojekt als Persiflage auf die in rechtsextremen Kreisen beliebte Modemarke „Thor Steinar“ und zog mit der Figur eines dümmlich dreinblickenden Storches mit Hitlerbärtchen den Unmut der Media Tex GmbH, Mutterschiff des „Thor Steinar“‑Labels, auf sich.

Mit der Klage gegen „Storch Heinar“ – wegen vermeintlicher Urheberrechtsverletzung und Verunglimpfung, Streitwert 180.000 Euro – hatte sich die Media Tex jedoch einen Bärendienst erwiesen. Nicht nur sorgte sie damit für Publicity zugunsten des ungeliebten Mode-Konkurrenten, sie verlor auch den Prozess und finanzierte so unfreiwillig weitere Aktionen des Storchenprojektes: Als Anti‑NPD‑Kampagne wurde ein Bandcontest veranstaltet, eine eigene Marschmusikkappelle namens „Storchkraft“ ins Leben gerufen und eine CD produziert, welche rechtsrockige „Schulhof‑CDs“ ebenso wie deutschtümelnde Musik der Lächerlichkeit preisgeben.

Dieses Büchlein ist erheiternd und informativ und damit bestens geeignet, als kleines Geburtstagsgeschenk nicht nur für 18‑ oder 28‑Jährige zu dienen. Es zeigt zudem, wie mit Humor, Kreativität und geringen Mitteln auch jenseits von handfesten Attacken auf einschlägige Modegeschäfte einem sich ausbreitenden Rechtsextremismus entgegengetreten werden kann.

www.endstation-rechts.de
www.storch-heinar.de

Gabriele Vogel

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Vielleicht will ich alles

QueDu Luu
Vielleicht will ich alles
Kiepenheuer & Witsch 2011
336 Seiten
14,95 €

9783462042955Die scheinbar heile Welt des 16-jährigen Addi, der genug Geld und viele Freunde hat, ist bei genauerer Betrachtung ein Trümmerfeld, auf dem die Eltern sich in regelmäßigen Abständen prügeln und dabei auch vor dem eigenem Sohn nicht halt machen. Der Roman beginnt schonungslos und ohne einstimmende Worte. Addi bekommt von seiner Mutter eine abgebrochene Bierflasche in den Bauch gerammt. Aus Versehen.

Verständlich, dass er unter diesen Verhältnissen versucht, so viel Zeit wie möglich draußen zu verbringen. Der Leser begleitet Addi auf seiner Reise durch die Straßen; was er dort entdeckt stellt die gesamte Bandbreite des Lebens dar. Er erlebt Gewalt und Hass, aber auch Freundschaft und Liebe. Und er beginnt zu verstehen, dass seine Familie nicht die einzige ist, bei der Schein und Sein nicht übereinstimmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass Jonas, der in der Schule als Streber verschrien ist, für seine Eltern, die von Hartz IV leben, nachts um 3 Uhr das Bier von der Tanke holt? Und wie kann es sein, dass Addi der obdachlose und oft geistig verwirrte Balduin vernünftiger und zufriedener als seine Eltern vorkommt?

Die Autorin QueDu Luu, deren Wurzeln in China und Vietnam liegen, verzichtet in Vielleicht will ich alles nicht nur auf jegliche klischeehafte Darstellung, sie wählt sogar oftmals Bilder, die den Leser geradezu veranlassen, nachzudenken und die gewohnten Assoziationen zu hinterfragen. So wirkt es erst ungewöhnlich, dass es Addis Mutter ist, die den Vater tätlich angreift und es sich nicht umgekehrt verhält. Auch vermutet man derartige Gewaltausbrüche wohl eher in Familien, die von der Gesellschaft als Unterschicht bezeichnet werden; doch auch dies ist im Falle von Addis Eltern – der Vater Arzt, die Mutter Krankenschwester – wohl kaum zutreffend.

Der Roman zieht den Leser oft an düstere und einsame Orte, doch der schwarze Humor QueDu Luus lockert diese Momente immer wieder auf. Feinfühlig schildert sie verschiedene Lebensweisen; zeigt, dass letzten Endes Jeder auf der Suche nach Nähe und Geborgenheit ist und enthält sich selbst jeder Wertung. Was bleibt, ist eine Vielzahl an Identifikations und Interpretationsmöglichkeiten und eine Einladung zum Nachsinnen.

Maria Danelius

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Cherryman jagt Mr. White

Jakob Arjouni
Cherryman jagt Mr. White
Diogenes Verlag 2011
167 Seiten
19,90 €

978-3-257-06755-2In Storlitz möchte man nicht leben. Nicht mal tot sein. Das Kaff in der brandenburgischen Provinz ist weit genug von Berlin weg, um absolut gar nichts vom Großstadtflair abzubekommen, aber noch nahe genug dran, um es zu kennen und zu hoffen, irgendwann dort zu leben. Im Dorf gibt es immerhin eine Frittenbude und einen Supermarkt. An diesem trostlosen Schauplatz sieht sich der Anti Held des Romans, der 18-jährige Rick Fischer, gezwungen, sein Dasein zu fristen. Als Waisenkind, das seine Eltern früh bei einem Autounfall verloren hat, wächst er bei seiner selbsternannten Tante Bambusch auf. Sie hat ihn liebevoll großgezogen und nun kümmert er sich um die alte Frau. Nach dem Realschulabschluss erwartet ihn wie alle Jugendlichen im Ort die aussichtslose Jobsuche.

Rick ist ein Träumer, ein stiller, harmloser Junge, der gerne Comics zeichnet und mit seiner Katze spielt. Und somit das ideale Opfer für die rechtsradikale, dummgesoffene Clique, die arbeits und perspektivlos auf dem örtlichen Supermarktparkplatz herumlungert und Bier trinkt. Die Gang schikaniert ihn, nimmt ihm regelmäßig das Taschengeld ab und quält seine Katze. Rick versucht, ihnen so gut es geht aus dem Weg zu gehen und sich unauffällig zu verhalten. Wenn das mal wieder nicht klappt, flüchtet er sich in seine selbst gezeichnete Comicwelt, in welcher der übermächtige Held „Cherryman“ (seines Zeichens ein menschgewordener Kirschbaum) es immer schafft, seine Feinde zu besiegen.

Eines seltsamen Tages bietet eben dieser Schlägertrupp sich plötzlich an, ihm eine Lehrstelle im verheißungsvollen Berlin zu vermitteln. Rick ist von Anfang an misstrauisch. Aber das Gefühl, endlich einmal Glück zu haben und die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz in seinem Traumberuf Gärtner lassen ihn alle Zweifel verdrängen. Der Mittelsmann Pascal, ein schmieriger und unsympathischer Vorstadtgauner, macht ihm schnell deutlich, dass die Lehrstelle an Bedingungen geknüpft ist. Rick soll für den örtlichen Neonazi Verein „Heimatschutzbund“ einen jüdischen Kindergarten ausspionieren. Er wird genötigt mitzumachen, da seine neuen rechten Kumpanen alles bedrohen, was ihm wichtig ist: seine Tante, seine Freundin, seine Lehrstelle. So wird Rick trotz moralischer Bedenken und Gewissensbissen zum Werkzeug von Leuten, die er eigentlich verabscheut. Als ihn die Neonazis in eine Falle locken wollen und er die offensichtliche Kriminalität des Heimatschutzbundes nicht mehr länger verleugnen kann, wächst Rick über sich hinaus. Die Angst um seine Freunde und seine Tante bringt ihn dazu, sich zu wehren. Die aufgestaute Frustration und all seine Furcht entladen sich in einer überdimensionalen Reaktion.

Der/Die LeserIn erfährt gleich zu Beginn, wo die Geschichte endet. Nämlich mit Rick im Gefängnis. Wie es dazu kam, erzählt Jakob Arjouni in Form von Briefen des Protagonisten an den Knastpsychologen. Er stellt so nur die eine Sicht der Dinge dar und die Sympathien sind von Anfang an eindeutig verteilt. Es ist die Geschichte eines schwachen Jugendlichen, der in einer scheinbar ausweglosen Situation durchdreht. Der Autor zeigt, wie leicht man zum Mitläufer werden kann und wie schwer der Kampf eines Einzelnen gegen organisierte Neonazigruppierungen ist. Die Grenze zwischen Opfer und Täter verwischt. Es stellt sich die Frage, ob Gewalt tatsächlich nur mit noch mehr Gewalt begegnet werden kann und ob es moralisch akzeptable Motive für ein schwerwiegendes Verbrechen gibt.

Die Geschichte behandelt ein bedrückendes Thema auf unterhaltsame, fast skurrile Weise, so wie es für den Autor typisch ist. Der leichte Schreibstil und die Kürze des Buches machen den Roman zum idealen Lesestoff auch für Jugendliche, und die Lektüre bietet ordentlich Diskussionsstoff.

Lydia Busch

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Der Junge von nebenan

Martin Büsser
Der Junge von nebenan
Verbrecher Verlag 2009
100 Seiten
14,00 €

1162_LIllustrierte Erzählung, Graphic Novel oder irgendwo dazwischen: Der Junge von nebenan ist der Titel der ersten und leider auch letzten fiktionalen Erzählung von Martin Büsser. Gewidmet „all jene[n], die nie Männer werden wollen oder es geschafft haben, nie Männer zu werden“, ihre Hauptfigur ein Junge in den 1970er Jahren zwischen Erwachsenwerden, Coming out und der Ohnmacht gegenüber den Eltern. Während diese sich für den Kampf im Untergrund entscheiden, beginnt für den Jungen der Kampf mit der eigenen Sexualität. Vom 18. Stockwerk hinabblickend in eine „unbestimmte Zukunft“, voller „Liebschaften, Möglichkeiten“ und „wie auch immer geratene Wege“. Nachdem Mutter und Vater verfolgt, gefunden und „in der spektakulärsten Polizeiaktion des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ erschossen werden, kommt der Junge zu den Großeltern. Dort träumt er von Berlin, der einzigen Stadt, die groß genug ist und deren Sprache er spricht. Um der Tristesse zu entkommen, flüchtet er in Fantasiewelten und entdeckt Literatur, Politik und Popmusik.
Die Coming of Age Story reißt nicht nur queere Diskurse und Identitätssuche an, sondern thematisiert auch ganz nebenbei ein Stück BRD Geschichte, wunderbar naiv und zugleich entlarvend ehrlich und direkt. In seinen Zeichnungen pflegt Büsser einen bewussten Dilettantismus, eine Art D.I.Y. Ästhetik, rotzig, unfertig und simpel. Mit wenigen Sätzen und schlichten Zeichnungen geht die Geschichte nah, durch die Einfachheit der Dinge, das Minimalistische. Martin Büsser hat das „offenste aller offensten Bücher“ geschrieben. Als ob er sich mit diesem Werk verabschieden wollte. Das ist ihm fürwahr gelungen. Er wird fehlen.

Martin Büsser ist im September 2010 gestorben. Er schrieb unter anderem für das ehemalige Punk Hardcore Fanzine Zap, für die Intro und Konkret. Er war Mitbegründer und Herausgeber des Mainzer Ventil Verlags und der Buchreihe testcard, außerdem Musiker, Autor, Theoretiker und einiges mehr. Roger Behrens schrieb über ihn: „Pop war ihm mehr als Musik, Musik mehr als Pop – es ging um Gender, Filme, Comics, Fernsehen, Romane, Nationalismus, D.I.Y., es ging ums Ganze.“

Leyla Dewitz

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)