Deutschpop halt’s Maul!

Frank Apunkt Schneider
Deutschpop halt’s Maul! – Für eine Ästhetik der Verkrampfung
Ventil Verlag 2015
112 Seiten
10 €

deutschland_maul_layDass es deutschsprachigen Pop gibt, ist heute nichts mehr, was irgendjemanden wirklich überraschen würde – im Gegenteil, Bands wie Wir sind Helden, Juli, Kettcar, Revolverheld, Mia., Sportfreunde Stiller, Silbermond und so weiter sind fester Bestandteil der deutschen Musiklandschaft. Irgendwie ja auch logisch, dass in Deutschland deutschsprachige Popmusik gemacht und gehört wird – aber dann doch nicht ganz so selbstverständlich, wie es heutzutage erscheint. Denn „deutschsprachige Popmusik war lange Zeit undenkbar“, wie es im Klappentext von Frank Apunkt Schneiders Deutschpop halt’s Maul! heißt. Pop war, als er in den 1950er Jahren seinen Weg nach Deutschland (oder besser gesagt: Westdeutschland) fand, eine Befreiung von der bedrückenden deutschen Geschichte und Fluchtmöglichkeit vor der miefigen deutschen Kultur der damaligen Zeit. Er war aufregend und neu, eine Provokation gegenüber der Elterngeneration und dank seiner konnten neue, nicht-nationale Identitätskonzepte entworfen werden. Denn Pop war explizit nicht deutsch, sondern englisch. Auch deutsche Bands sangen auf Englisch, selbst wenn sie nicht so genau wussten, was sie da sangen – aber das war egal, denn es ging ja nicht um einen festen Sinn, sondern um Freiheit. Und wenn deutsche Künstler_innen dann doch auf deutsch sangen, war das oftmals kein Pop, sondern Schlager – eine Unterscheidung, die dem Autoren des Buches wichtig ist, denn die deutsche Sprache führte dazu, dass das befreiende Fremde (und eine positiv gedeutete Entfremdung) des englischen Pops in diesen Liedern wieder verschwand.

Das Buch ist – und das sagt der Autor auch gleich zu Beginn – vor allem eine polemische, antideutsche Gegengeschichte des Deutschpop, die „ebenso konstruiert ist wie die offizielle.“ Mit der offiziellen Geschichtsschreibung ist das gemeint, was heute oftmals in Bezug auf z. B. Krautrock, deutschem Postpunk oder Techno geschrieben wird oder auch in Ausstellungen zu diesem Thema behandelt wird. Da werden dann Kraftwerk zu den „Urvätern von Techno, House und Hip Hop“ (und Deutschland wird ein unverzichtbarer Teil der internationalen Popgeschichte), die Neue Deutsche Welle zur eigenständigen deutschen Jugendkultur oder Techno zum Sound der Wiedervereinigung – es findet eine Art Renationalisierung von Musiken statt, die gar nicht unbedingt deutsch sein wollten oder sogar eine Flucht vor diesem Deutschsein darstellten.

Der heutige Deutschpop, der kein Problem mehr mit dem Deutschen hat und „mit sich selbst einverstanden ist“, ist erst nach 1989 entstanden und Teil einer Bewegung hin zu einem entspannten, unverkrampften Deutschsein. Das ist dann aber laut Schneider kein Pop mehr, zumindest nicht im eigentlichen Sinne, da Pop keine nationale Identität hat. Gemeint ist mit Deutschpop allerdings nicht der deutschsprachige Diskurspop von Bands wie Tocotronic oder Blumfeld (zumindest nicht den frühen Blumfeld), sondern das, was danach kam – und an dem eine Band wie Tocotronic verhängnisvollerweise mit Schuld sein sollen, da sie ein Vorbild vieler der o. g. Deutschpopbands sind. Diese sind harmlos und stellen nichts in Frage – und ein positiver Bezug zur deutschen Heimat ist für sie oftmals kein Problem mehr. Auch gehört die Sprechweise von einem „Wir“ zum festen Repertoire vieler Deutschpopbands, was von Schneider im Sinne von „wir Deutschen“ verstanden wird und oft auch so gemeint ist. Schneider sieht deshalb eine Verbindung zu einer DeutschROCKband wie Frei.wild, die seiner Meinung ganz ähnliche Inhalte transportiert wie die DeutschPOPbands, im Gegensatz zu diesen aber als eindeutig eklig erkennbar ist (Schneider nennt Frei.Wilds Musik „strukturellen Rechtsrock“). Deshalb gibt diese Band ein wunderbares Feindbild ab, von dem sich die anderen Bands dann distanzieren und sich als die „Guten“ fühlen können.

Frank Apunkt Schneider zu folgen fällt manchmal schwer, da er ein umfangreiches Vorwissen über die behandelten Bands und Künstler_innen voraussetzt und man als Leser_in ganz viel Musik – also auch ganz viel schlechte und langweilige Musik – gehört haben muss, um zu wissen, worum es an manchen Stellen eigentlich geht – zum Beispiel scheint Tangerine Dream im Gegensatz zu anderen Krautrock-Bands irgendwie doof zu sein, warum bleibt aber unklar. Deutschpop halt’s Maul! ist insgesamt aber ein unterhaltsames und immer wieder wunderbar böses Buch, dass ein Gegengift gegen Wohlfühlpatriotismus und Vereinnahmung von Popmusik in irgendwie nationalem Sinne darstellt. Das ist nämlich, ganz platt ausgedrückt und abgesehen von irgendwelchen anderen relevanten Argumenten: uncool, einfach nicht schön, total langweilig. Und Popmusik, die damit kein Problem hat, ist – auch das ein Fazit des Buches – dann einfach keine gute Popmusik.

Daniel Schneider

Pop-Kultur

Seit zwei Tagen findet zurzeit im Berliner Berghain das neue Festival „Pop-Kultur“ statt. Die Nachfolgeveranstaltung der Berlin Music Week wird nun vom Berlin Music Board organisiert (und nicht mehr von den Kulturprojekten Berlin), es soll etwas ganz anderes und neues sein – und auch als Festival anders als andere Festivals. Von der Berlin Music Week unterscheidet es sich entsprechend sehr deutlich – während die BMW eigentlich eine Konferenz für Akteure der Musikwirtschaft war, scheint dieser Aspekt nun gar keine Rolle mehr zu spielen. Katja Lucker, die Chefin des Music Boards, betonte zu Beginn des Festivals auch, dass es um die Künstler geht und Björn Böhning, Chef der Senatskanzlei, wünscht sich, dass das Festival im Laufe der Jahre vielleicht zu so etwas wie die „Berlinale der Musik“ werden könnte.

Mit dem Berghain als Veranstaltungsort findet das Festival zumindest schon einmal vor beeindruckender Kulisse statt, es wird beispielsweise auch die Halle hinter dem Berghain genutzt, die bisher nur für die Zusammenarbeit von Berghain und Staatsoper („Masse“) und die Kunstausstellung von Berghain-affinen Künstlern („10“) genutzt wurde. Diese beiden Veranstaltungen deuten interessanterweise schon stark in die Richtung, in die sich auch „Pop-Kultur“ bewegt: die Verbindung von Pop und sogenannter Hochkultur, oder vielleicht auch eine bestimmte Form von Pop als neue Hochkultur. Denn Charts-Pop findet sich auf dem Festival nicht, sondern das, was auch in einer Zeitschrift wie der SPEX stattfindet. Und das Berghain arbeitet weiter an seiner Etablierung als Kultur-Institution im Sinne von Orten wie dem HAU oder der Volksbühne.

Das Programm des Festivals ist entsprechend anspruchsvoll und experimentierfreudig – es gibt neben einer großen Anzahl an Konzerten von ganz unterschiedlichen Bands und Künstler_innen sowie DJ-Sets auch Formate, die zwar „Talk“ oder „Lesung“ heißen, bei denen aber immer wieder der Hang zum Performativen spürbar ist. Die Lesung von Andreas Dorau und Sven Regener, die als Eröffnungsveranstaltung fungierte, bei der Doraus Biografie „Ärger mit der Unsterblichkeit“ vorgestellt wurde, war mehr als eine einfache Lesung: Während Regner aus der Biographie las (und dadurch zum Andreas-Dorau-Darsteller wurde) zeigte Dorau im Anschluss an die gelesenen Passagen Fotos und Filme, beispielsweise einen absurden Kurzfilm namens „Die kleine Frau“, den er an der Filmhochschule gedreht hatte, oder das Musikvideo zu „So ist das nunmal“. Eine ganz außergewöhnliche Veranstaltung war der „Talk“ von Sebastian Schipper, der die letzten 60 Minuten seines preisgekrönten Films „Viktoria“ zeigte, dabei meist ohne Ton, und dazu Platten auflegte, über die Dreharbeiten sprach und auf Fehler im Film aufmerksam machte. Außerdem rief er zwischendurch bei dem sich gerade in Island aufhaltenden Kameramann sowie einem der Schauspieler an, um ihm zu sagen, wie wichtig er für den Film gewesen sei. Das Ganze fand in der Halle am Berghain statt, einem riesigen Raum, wodurch die Situation noch außergewöhnlicher wurde. Ein Experiment war auch die Veranstaltung mit dem twitternden Philosophen Eric Jarosinski und der Musikerin Michaela Meise am Donnerstag, bei der zwei komplett unterschiedliche Dinge miteinander kombiniert wurden – ein Vortrag über Twitter und Philosophie mit trauriger Akkordeonmusik. So spannend diese Programmpunkte auch waren und auch die Auswahl der Gäste überraschend ist (z. B. waren auch der Neurologe Tom Fritz und der Maler Norbert Bisky zu Gast), ein wenig mehr Diskussion und Austausch über einzelne Aspekte von Pop wäre manchmal wünschenswert gewesen.

Ebenfalls auffällig „anders“ war der zeitliche Ablauf des Festivals, zumindest teilweise: Am Mittwoch war ich nach der Lesung von Dorau und Regner bei dem Technoliveact von Pantha du Prince (feat. Triad), das aus relativ hartem, okkultistisch angehauchtem Techno bestand (um 19:20), danach das eher experimentelle Konzert von Bianca Cassadys (CocoRosie) Soloprojekt mit Tanzperformance, danach eine Talkrunde zu Bühnenshows und zuletzt, um 12h nachts, die Veranstaltung mit Sebastian Schipper. Da man sich das Programm aus einzelnen Modulen zusammenstellen konnte, wäre allerdings auch ein weniger außergewöhnlicher Ablauf möglich gewesen.

Die Module – z. B. waren die Auftritte von Pantha du Prince und Bianca Cassady ein Modul, wodurch auch wieder eine außergewöhnliche Kombination von zwei sehr unterschiedlichen musikalischen Projekten entstand – müssen einzeln gekauft werden, was für Besucher_innen, die z. B. nur eine einzelne Lesung sehen wollen, wunderbar ist. Wer allerdings das Festival wie ein Festival besuchen möchte und entsprechend drei Tage lang viele verschiedene Sachen sehen will, muss dann unter Umständen ziemlich tief in die Tasche greifen.

Insgesamt kann man sagen, dass Pop-Kultur (vor allem wegen des nerdigen Programms) nicht Pop im Sinne von „populär“ ist. Das hat auch der wunderbare Auftritt von Neneh Cherry am Donnerstag unterstrichen – im Sinne von „fuck nostalgia“, wie Cherry dies ausdrückte, spielte sie ihre größten Hits – u. a. Buffalo Stance – in kaum wiedererkennbaren Versionen. So war auch der Auftritt des wahrscheinlich bekanntesten Popstars des Festivals ein Statement gegen Pop als Musik aus und für die Popmusikcharts. Deshalb stellt sich die Frage, was hier eigentlich mit Pop gemeint ist, das Programm ist zwar wunderbar, aber das Festival wirkt auch ein wenig elitär – was Pop doch eigentlich nicht sein sollte.

Daniel Schneider

Zine of the Day: scripti / buzz

scripti #7

scripti #7

buzz

buzz

Während die seit 1980 erscheinende Spex als vorbildlichin Sachen Poptheorie gilt, erschien ca. zeitgleich in Hagen das Magazin scripti (später buzz).

Die Mischung aus Bandinterviews, Musikanalysen, kunsttheoretischen Abhandlungen und politischen Artikeln bewegt sich auf gleichbleibend hohem Niveau.

Eine Lektüre dieser Hefte zeigt deutlich, dass intellektuelles Vergnügen (Artikel über Surrealismus), Lebensart (Aborte – Begegnungsstätte, Kulturträger oder Kultstätte?) und Genuss (der große Imbissbudentest) sich nicht ausschließen.

In New-Wave-Grafik gesetzt und trotzdem sachlich anmutend und vor allem: lesbar.

http://www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

#IZM2015 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Jugendkulturen #Popkultur #Poptheorie

– Peter Auge Lorenz

35 Jahre SPEX

35 Jahre SPEX – Dichter, Denker, Dissdenten
Juli / August 2015
130 Seiten
6,90 €

www.spex.de

Spex_362_Cover_180erDie SPEX wird 35 Jahre („älter als Jesus“, wie es auf dem Heftrücken heißt) und aus diesem Anlass gibt es natürlich mal wieder eine Sonderausgabe, dicker als sonst und mit einem Nachdruck der ersten SPEX von 1980 sowie zwei CDs mit Musik aus den letzten 35 Jahren als Beilagen. Auch wenn die SPEX manchmal nerven oder langweilen kann – besonders wenn mal wieder Tocotronic auf dem Cover sind – freuen wir uns immer wieder, wenn eine neue Ausgabe im Briefkasten liegt, irgendetwas interessantes steht eigentlich immer drin und auch diese Ausgabe ist ziemlich lesenswert. Vor allem die Artikel, die aus Anlass des Jubiläums von aktuellen und früheren SPEX-Autor_innen geschrieben wurden, thematisieren vieles, was uns auch gerade beschäftigt – von der gesellschaftlichen Relevanz der Popmusik und Popkritik in der heutigen Zeit (von Mark Terkessidis), der Ästhetik von politischem Pop in Anbetracht aktueller Notlagen (Tom Holert), der Zukunft von Clubs und Clubmusik (Hans Nieswandt), Sexismus im deutschen Indierock (Sandra Grether) bis zu einem Rückblick auf den Westberliner Untergrund und die „Genialen Dilletanten“ (Wolfgang Müller). Ansonsten gibt’s noch K.I.Z, Daniel Richter, Holly Johnson, PC Music und so weiter.

Alle bis heute erschienen SPEX-Ausgaben finden sich übrigens bei uns im Archiv, genauso wie fast alle Ausgaben der (grob gesagt) Vorgängerzeitschrift SOUNDS – wer also mal nachlesen möchte, was vor 10, 20 oder 30 Jahren nach Meinung der SPEX relevant war, kann gerne mal bei uns vorbeikommen und recherchieren.

Rolling Stone

Arne Willander, Sebastian Zabel, Heiko Zwirner (Hrsg.)
Rolling Stone – Das Beste aus den ersten 20 Jahren
Metrolit 2014
336 Seiten
30 €

metrolling-stoneDas 1967 in den USA gegründete Magazin „Rolling Stone“ ist bis heute ein interessantes Blatt geblieben. Autoren wie Lester Bangs und Hunter S. Thompson probierten den später so genannten „New Journalism“ aus und etablierten diese Arbeitsmethode als Stil. Die Inhalte waren nicht nur Popmusik, sondern auch Underground, große Politik und Alltag. Über die gesamte Erscheinungszeit wurden ihm Preise sowohl für Inhalt als auch Form verliehen.

1994 erschien der erste deutsche „Rolling Stone“, ab 2002 in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH. Zum 20. Jubiläum ist ein Band mit ausgewählten Texten im Metrolit Verlag erschienen. Das Themenspektrum bewegt sich zwischen etablierten Popveteranen wie Bob Dylan, den Rolling Stones und den Scorpions, aktuellen Musiker_innen wie Oasis und Joanna Newsom und Newcomern wie z. B. Kraftklub. Es gibt Texte über Maler, Mode, Fernsehserien, Schauspieler.

Leider sind die Vorbilder des New Journalism hier nur eine Schablone dafür, die Interviews sprunghaft zu führen, überheblich und oberflächlich Bands und ihre Fans abzukanzeln sowie die Empfindlichkeiten und Tätigkeiten der Journalist_innen zu beschreiben. Wurden hier wirklich die besten und charakteristischsten Beiträge für diese Festschrift ausgewählt? Wir wollen es nicht hoffen. Jeder Artikel ist mit Zusatzinformationen wie 10er-Listen oder Diskographien versehen, ergänzt durch briefmarkengroße Abbildungen.

Der eigentliche Mehrwert liegt dann auch im Anhang: sämtliche Cover besagter zwanzig Jahre: 16-mal sind die Rolling Stones zu sehen, 13-mal die Beatles, 13-mal Bruce Springsteen, 10-mal Bob Dylan. So gibt der schön schwer in der Hand liegende Jubiläumsband ein anschauliches Beispiel für ziemlich rückwärtsgewandten Popjournalismus. Die aktuellen Debatten finden woanders statt.

Peter Auge Lorenz

Gravitationsfeld Pop

Uwe Breitenborn, Thomas Düllo, Sören Birke (Hg.)
Gravitationsfeld Pop – Was kann Pop? Was will Popkulturwirtschaft? Konstellationen in Berlin und anderswo
Transcript Verlag 2014
463 Seiten
34,99 €

Bild Gravitationsfeld Pop

„No escaping gravity“ singt Brian Molko von Placebo im Song „Special K“. Kein Entkommen. Gravitation ist Kraft, wirkt anziehend, ist unausweichlich. Neben Placebo wählen die Herausgeber zum Einstieg noch weitere Musiker (James Brown, Eminem …) und Bands (Type O Negative, Yo La Tengo …), die sich musikalisch an der Gravitationsmethapher abgearbeitet haben. Als Fan der ersten Stunde bleibe ich jedoch unweigerlich bei Placebo hängen. Als wäre es gestern gewesen kommt mir Brian Molkos Stimme in den Kopf und das sich im Refrain immer wiederholende und in die Länge gezogene „Gravi(iiii)ty“. Das dazugehörige Video, in dem die Band auf Miniaturgröße geschrumpft in einem Raumschiff durch den menschlichen Körper fliegt, und auch so einige Konzerterinnerungen wechseln sich in meinem Kopf ab. No escaping pop memories.

Änhlich der Gravitationskraft kann man sich, jedenfalls geht es mir so, auch popkulturellen Einflüssen nur schwer entziehen. Ob im Alltag oder der Freizeit: Popkultur, und vor allem Popmusik, prägt und ist aus dem Leben vieler Menschen nicht wegzudenken. Pop schafft Erinnerungen und Emotionen. Und das auch viel stärker als jeder (minutiös) geplante Ausflug in die Hochkultur. Sprich: Man trifft mich definitiv öfter in Clubs, auf Konzerten oder Parties als in der Oper oder im Museum. Diese Aussage findet sich auch in einem Interview mit Olaf „Gemse“ Kretschmar (Vorstandsvorsitzender Berliner Club Commission) wieder, der den Club, neben Familie und Freunden, immer mehr zur Zivilisationsinstanz für Jugendliche erhebt. Doch obwohl Pop und Popkultur im Leben vieler Menschen einen größeren Einfluss und emotionalen Wert haben als Hochkultur, schwankt das Image und die Anerkennung von Popkultur immer noch sehr stark. Pop bewegt sich in der Wahrnehmung in einem Spannungsfeld. Für einige ist es „Avantgarde“ in der Tradition der Pop Art, für andere einfach nur „Mainstream“, also ein auf Massengeschmack ausgerichtetes und oftmals inhaltsleeres Produkt. Auch im Bereich der Kulturförderung fristet alles, was sich im Gravitationsfeld Pop bewegt, immer noch ein Schattendasein, da Popkultur nicht oder nur selten in die vorhandene Förderungslogik der Kulturpolitik passt.

Doch seit einigen Jahren bewegt sich etwas. Die Richtung und Auswirkung ist noch nicht genau erkennbar, aber die stetig wachsende Anerkennung von Pop und Popkultur im Bereich der Kulturförderung, aber auch die Wirkung und Impulse auf Stadtentwicklung, Club- und Musiklandschaft sowie die Ausformung neuer kreativer Ausdrucksformen schlagen sich in diesem Band nieder. Denn Gravitationsfeld Pop bietet auf über 400 Seiten Interviews und Beiträge, die sich in unterschiedlichen Facetten den Anziehungskräften und Sogwirkungen von Pop(-musik) und Popkultur widmen.

Fragen, die sich dabei stellen, sind: Welche Kräfte wirken im Bereich Pop? Welche Wechselbeziehungen gibt es zwischen Akteur_innen aus der Club- und Musiklandschaft und denjenigen aus der Kulturförderungspolitik und in welcher Konstellation stehen diese zueinander? Wie funktioniert und verändert sich Popkultur oder auch die mittlerweile in Berlin etablierte Szenewirtschaft unter sich immer mehr verschärfenden ökonomischen Aspekten wie der Gentrifizierung, die sich auf die Clublandschaft, Kreativwirtschaft und generell urbane Lebensstile auswirken? Diesen und vielen weiteren Fragen widmet sich der Band Gravitationsfeld Pop. Neben Interviewbeiträgen, in denen vordergründig Akteur_innen aus der Musik- und Clublandschaft zu Wort kommen und alltagspraktische Fragen beantwortet werden, gibt es auch Beiträge, die sich unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten mit den verschiedenen Aneignungspraxen von Pop und Popkultur beschäftigen.

Pop, so wird auch hier klar, scheint allgegenwärtig ohne dabei aber in festen Laufbahnen zu zirkulieren. Die einzelnen Beiträge umkreisen die mal mehr mal weniger scharfen Begriffe Pop, Popmusik, Popkultur und Populärkultur. Das macht zum einen die Fülle an Bezügen und Assoziationen deutlich, die man im Kopf hat, wenn das Wort Pop fällt, lässt mich als Leserin aber auch ab und an den Überblick verlieren, wovon denn gerade die Rede ist. Generell fällt der Band weniger durch Definitionsschärfe der verwendeten Begriffe auf, als mehr durch deren Kontextualisierung.

Und der Kontext lautet Berlin. Wer sich mit dem endlosen Treiben Berlins als „24- Stunden-Stadt“ und coole Musik- bzw. Technometropole auf einer analytischeren Ebene annähern will, kann bei Gravitationsfeld Pop beruhigt zugreifen. Der Vielfalt an Clubs (Berghain, Kesselhaus, Astra etc.), Kulturevents (Karneval der Kulturen, Fete de la musique etc. ) und Musikveranstaltungen (Balkan Beats Partyreihen etc.) bis hin zur Heterogenität der Musikinitiativen, wie der Berliner Club Commission, dem Berlin Music Board oder auch dem Verband unabhängiger Musikunternehmen (VUT), wird in den Beiträgen viel Platz eingeräumt oder aber die jeweiligen Akteur_innen kommen selbst in Interviews zu Wort. Berlin zu wählen erscheint aber auch nachvollziehbar, da Pop in der wirtschaftlich schwachen Hauptstadt zunehmend zum Motor der Stadtentwicklung wird, also als attraktives kulturelles und wirtschaftliches Gut immer stärker wahrgenommen wird.

Über die Anziehungskraft des Buches bin ich am Ende geteilter Meinung. Es gibt fundierten, kulturwissenschaftlich unterfütterten Einblick in die Club-, Musik-, Akteurs- und Förderungslandschaft Berlins. Da ist auch schon der Haken. Es ist (fast) alles auf dem scheinbaren Pop-Gravitationskern Berlin bezogen. Nach den „Konstellationen anderswo“, wie im Untertitel angekündigt, sucht man in diesem über 400 Seiten starken Band eher vergebens. Wer also gerne auch einen Blick auf die Entwicklung der Pop-Peripheriegebiete werfen möchte, wird leider eher enttäuscht sein. Für alle anderen, vor allem den an Berlin interessierten, werden Innenansichten in die vielfältige Party- und Clubkultur Berlins geliefert.

Giuseppina Lettieri

Kurzmitteilung

Summer of the 90s

An dieser Stelle mal ein Programmhinweis, auch ein wenig in eigener Sache: Auf Arte läuft vom 19. Juli bis zum 24. August die Reihe Summer of the 90s. Eine Flut an Sendungen über Mode, Pop- und Jugendkultur in den 90er Jahren, u. a. die neuproduzierte Dokuserie Welcome to the 90s, in denen verschiedene Expert_innen zu Wort kommen, darunter auch Gabi Rohmann vom Archiv der Jugendkulturen.

Vielversprechende Sendungen in diesem Zeitraum sind beispielweise die Dokumentationen Too Young To Die über Kurt Cobain (19. Juli, 21:55), Dance Culture (26. Juli, 21:40) und Willkommen im Club! (26. Juli, 22:45) über Techno und House. Als weitere spannende Themen stehen Boybands und Girlgroups (2. August), Riot Grrrls und andere subkulturelle Szenen (9. August), Hip Hop (16. August) und Brit Pop (23. August) auf dem Programm.

Ware Inszenierungen

Dietrich Helms und Thomas Phleps (Hrsg.):
Ware Inszenierungen – Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik
transcript 2013
230 Seiten
21,80 €

Bild

Der Arbeitskreis Studium Populärer Musik ASPM veranstaltete im November 2011 eine Tagung „Populäre Inszenierungen / Inszenierungen des Populären in der Musik“, als dessen Ergebnis dieses Buch entstand. Der Band untersucht das Verhältnis von „Echheit“, auch Authentizität genannt, zur Inszenierung, der bewußten Darstellungsweise von Image und Musik.

Philipp Auslander geht in seinem Text z. B. auf das Problem des Live-Erlebnisses bei elektronischer Musik ein, bei der die traditionelle Live-Darbietung einer handwerklich arbeitenden Musikerpersönlichkeit wegen der entweder vorproduzierten Tracks oder des nur mit Knöpfchen versehenen Equipments nicht stattfindet. Dennoch fordert das Publikum eine visuelle Umsetzung der dargebotenen Klänge, auch diese neuartige Musik braucht ein herkömmliches Konzerterlebnis.

Ralf von Appen setzt sich mit dem Verhältnis von Authentizität und Inszenierung auf der Bühne ein. Dabei geht er von vier Dimensionen der Authentizität aus: persönliche Authentizität (d. h. die Künstlerperson verwirklicht sich auch in einer Bühnenshow als kreative Persönlichkeit), sozio-kulturelle Authentizität (die Verkörperung der Werte und Normen der Subkultur, aus der die Künstler_innenkarriere hervorging), handwerkliche Authentizität („reale Musik“ wird von „realen Händen“ gemacht) sowie emotionale Authentizität (echte Gefühle und Emotionen, eigenes Erleben als Grundlage der Darbietung). Im Weiteren legt er dar, mit welchen Strategien diese Authentizität in einer effektiv organisierten und durchgeplanten Realität dargestellt, also inszeniert, wird. So sind spontan auf die Bühne geholtes Publikum und Wohnzimmertourneen der Toten Hosen, Unplugged-Konzerte oder die sorgfältig durchchoreographierten Zufälle in einer Adele-Show Mittel, um dem Publikum die geforderte „Echtheit“ zu präsentieren. Die „Inszenierung authentischer Inauthentizität“ ist da nur eine logische Folge: deutlich und bewusst die Künstlichkeit herauszustellen als Äußerung authentischen Künstlertums. Auf weitere Konzepte des Authentischen und Inauthentischen geht Christoph Jacke ein, insbesondere auf die inszenierte Natürlichkeit bei einigen Interviews mit so inszenierten Stars wie Lady Gaga.

André Doehring schreibt über den Wandel des Begriffs „Independent“ von einer wirtschaftlichen Kategorie über eine Haltung der künstlerischen Produktion bis hin zu einem Musikgenre. Auch die Texte über Pressekonferenz-Strategien (Anja Peltzer) und dokumentarische Strategien der (west)deutschen Populärkultur (Barbara Hornberger) widmen sich immer wieder dem Aspekt der „gemachten“ Echtheit. Besonders deutlich tritt diese Methode des Marketings am Beispiel der Tänzerin und Sängerin Josephine Baker zutage, die es in den Anfangsjahren des vorigen Jahrhunderts vom Tanzstar bis hin zu Sängerin und Filmstar brachte. Dies setzt Christian Diehmer in seiner Abhandlung über einen bewußt zwiespältig gehaltenen Titel der Band „Rammstein“ (Mann gegen Mann) fort: Ist das Authentische inszeniert, ist das eine authentische Inszenierung?

Diese Sammlung thematisiert, was Musik-Kund_innen gewiß nicht gerne hören: es ist harte Arbeit etwas „echt“ klingen zu lassen, es ist Kalkül, unverstellt zu wirken und es ist sorgfältige Inszenierung, eine Band spontan auftreten zu lassen. Diese Authentizitätswirkung ist ein hohes Gut der Rock- und Popmusik und zahlt sich (oft) aus, Horden von Manager_innen und PR-Agent_innen versuchen stets aufs Neue diesen  Eindruck von unverbrauchter Echtheit zu verkaufen. Ich habe jedenfalls meine Schallplatten nach der Lektüre des Buches noch einmal ganz anders gehört: als Produkte der Musikindustrie, und doch mit Schmerz und Wildheit eingespielt.

Peter Auge Lorenz

Hidden Tracks

Thorsten Schüller & Seiler Sascha (Hrsg.)
Hidden Tracks – Das Verborgene, Vergessene und Verschwundene in der Popmusik
Königshausen & Neumann 2012
220 Seiten
29,80 Euro

Hidden Tracks. Das Verborgene, Vergessene und Verschwundene in der Popmusik. € 29,80Auf die Suche nach den versteckten Perlen der Popkultur gehen in diesem Band: Jonas Engelmann, Till Huber, Jakob Christoph Heller, Benjamin Specht, Thorsten Schüller, Magnus Wieland, Ralf Dombrowski&Andreas Schumann, Johannes G. Pankau, Sascha Seiler, Jörg Pottbeckers, Torsten Hoffmann, Timo Obergöker, und Tom Liwa führt mit seinem Beitrag „Auszug aus Alcatraz“ auf poetische Weise den Reigen an.

Wer jemals eine CD bis zum Ende gehört hat und dann nach minutenlanger Stille über die plötzlich wieder einsetzende Musik erschrocken ist, der weiß, was ein „hidden track“ ist – kleine Zugaben, oft auch ganze Songs, die nicht auf dem Cover gelistet und auch in der Nummerierung nicht erkennbar sind. Um diese geht es in dem vorliegenden Band aber nur am Rande – erklärt werden sie erst im Beitrag von Wieland, der sich in erster Linie mit den B-Seiten von Singles auseinandersetzt.

Im ersten großen Abschnitt „Photos of Ghosts“ stehen Musikschaffende im Vordergrund, die sonst eher zu den „verborgenen, vergessenen und verschwundenen Künstlern“ zählen: Engelmann spürt dem mysteriösen Musiker Jandek nach und Huber analysiert das Werk Holger Hillers im Kontext der Neuen Deutschen Welle. Die immer ein bisschen jenseits von schlichtem Punk und hoher Kunst rangierenden unberechenbaren Projekte der Band Die tödliche Doris stehen im Fokus des Beitrags von Heller, bei Specht ist es die Kunstfigur PeterLicht und dessen utopische Texte. Schüller erweitert den Horizont mit seinem Blick auf afrikanische Popsongs und subversive afrikanische Musiker, die „Musik gegen das Vergessen“ kreieren.

Zu Beginn des zweiten großen Abschnitts „Vanishing Act“ erzählt Wieland seine bereits erwähnte „B-Side Story“ von den oft vernachlässigten Songs der Rückseiten alter Single-Vinyl-Schallplatten, die aber auch zum Ort musikalischer Experimente werden konnten. Dombrowski und Schumann beschäftigen sich mit einem weiteren verschwundenen Medium aus der popkulturellen Vergangenheit: In ihrer Auseinandersetzung mit den kurzlebigen artrockigen Konzeptalben der 1970er Jahre schreiben sie diesen letztlich eine konservative und systemerhaltende Haltung zu, die durch Punk attackiert wurde. Und im Anschluss forscht Pankau nach der „verborgenen Gesellschaftskritik in den Songs von Ray Davies und den Kinks“.

Mit dem ersten Beitrag „The Wilderness Downtown“ im dritten großen Abschnitt unter dem Titel „Into the Unknown“ richtet Seiler den Blick auch noch einmal auf ein Konzeptalbum, allerdings der untypischen Art, nämlich The Suburbs von der Band Arcade Fire aus dem Jahr 2010. Zentrale Aspekte sind hier Raum und Erinnerung, konkret bezogen auf das Aufwachsen in einem namenlosen Vorort von Houston und die verdrängte Vergangenheit. Weiter im Band geht es mit den Mutmaßungen über das Liebesleben von Morrissey, die selbst vor dem Hintergrund der kürzlich erschienenen Autobiografie des ehemaligen The Smiths-Sängers nichts an Spannung verlieren, forciert doch der Beitrag „Asexualität und Fetisch“ von Pottbeckers eine Betrachtung des Musikers im Spannungsfeld zwischen Selbstinszenierung und der Inszenierung des lyrischen Ichs. Nachfolgend nimmt Hoffmann sich mit „Du fehlst“ des großen Tabuthemas Tod und der verschiedenen Herangehensweisen in Popsongs an und den Abschluss bildet Obergökers Analyse zur „Darstellung der Shoah im französischen Chanson“ mit der „Songs als Orte kollektiver Erinnerung, Sichtbarmachung“ vorgestellt werden.

Die verschiedenen Beiträge sind, wie einzelne Songs auf einer Compilation-CD, unterschiedlich eingängig und für jede_n Lesende_n wohl auch unterschiedlich interessant. In ihrer gesamten Zusammenstellung bieten sie jedoch vielfältige Einblicke in die Seiten der Popkultur, die, im Gegensatz zur deren offensichtlicher Alltäglichkeit, Facetten aufzeigen, auf die man sonst vielleicht nie gestoßen wäre. Das macht den Reiz dieses Bandes aus und hält die Neugier auf jeden einzelnen Beitrag aufrecht, auch wenn auf den ersten Blick möglicherweise nur ein bestimmtes Thema ins Auge gefallen ist. Wer sich also nicht mit dem allseits Bekannten in den gängigen Musikzeitschriften zufriedengibt und auch seine Plattenkäufe nicht nur anhand der aktuellen Charts tätigt, sollte auch bei diesem Buch zugreifen.

Gabriele Vogel

Spex – Das Buch

Max Dax & Anne Waak (Hrsg.)
Spex – Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop
Metrolit 2013
480 Seiten
28 €

Der Sammdaxwaakelband enthält 73 „Schlüsseltexte“ aus der wahrscheinlich wichtigsten deutschen Pop(kultur)zeitschrift Spex, zusammengestellt vom ehemaligen Spex-Chefredakteur Max Dax und der ehemaligen Spex-Redakteurin Anne Waak. In chronologischer Reihenfolge abgedruckt beginnt das Buch mit einem Artikel aus der ersten Spex-Ausgabe aus dem Jahr 1980 (über Joy Division, von Peter Bömmels) und endet mit einem Text über Penny Martin, Chefredakteurin der Zeitschrift Gentlewoman, aus dem Jahr 2012 (von Anne Waak). Dazwischen finden sich Beiträge von Autor_innen wie Clara Drechsler, Diedrich Diederichsen, Rainald Goetz, Joachim Lottmann, Clara Drechsler, Mark Terkessidis, Sandra Grether, Hans Nieswandt, Dietmar Dath, Georg Seeßlen und vielen anderen. Der Großteil der Texte dreht sich um Musik – beispielsweise um Bands und Künstler_innen wie Madonna, Beastie Boys, Guns’n’Roses, Aphex Twin, Kurt Cobain oder die Pet Shop Boys – aber auch um andere Themen, von Kunst über Mode bis Politik, die zeigen, dass die Spex immer mehr war (und bis heute ist) als eine Musikzeitschrift.

Daniel Schneider

Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950

von Gabriele Vogel (aus dem Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)

Tagungsbericht

Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg veranstaltete am 29. und 30. September 2011 eine Konferenz zur Frage nach der Kategorie „Männlichkeit“ im Kontext der deutschen Musikkultur nach 1950. Ausgehend von der Feststellung, dass sich die Forschungen im Bereich der Musik bisher zumeist mit der kulturellen Anteilnahme von Frauen befassten, erscheint es gleichwohl mehr als angebracht, sich ebenso der Konstruktion und Darstellung von Männlichkeiten in weit gefächerten musikalischen Kontexten zu widmen. Das Ziel ist hier eine im Idealfall symmetrische Musikgeschichtsschreibung, eine gendersensible Musikpädagogik und Soziale Kulturarbeit.

Grundlage der aktuellen Forschung zu „Männlichkeit“ ist es, diese als ein relationales Konzept zu betrachten. Männlichkeit existiert folglich nicht „an sich“, sondern immer nur in Abgrenzung und im Gegensatz zu einer – ebenfalls gesellschaftlich konstruierten – Weiblichkeit. Weiterhin kann nicht von einer singulären, unveränderlichen Männlichkeit gesprochen werden, da diese in diversen (sub‑)kulturellen und historischen Kontexten in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu beobachten ist.

Seit sich Raewyn Connell in den 1980/90er Jahren ausführlich mit Masculinities (so der Originaltitel ihres 1995 erschienen Buches, deutscher Titel: Der gemachte Mann) auseinandergesetzt hat, wird in der kritischen Männlichkeitsforschung zumeist das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit miteinbezogen. Connell zufolge stehen Männlichkeiten in einer hierarchischen Ordnung zueinander, innerhalb derer die Hegemoniale Männlichkeit die zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptierte Form von Männlichkeit darstellt. Andere, so genannte Untergeordnete Männlichkeiten – untergeordnet z. B. aufgrund ihrer (nicht hetero‑)sexuellen Orientierung – oder Marginalisierte Männlichkeiten – marginalisiert z. B. aufgrund ihrer (nicht weißen) Hautfarbe – existieren laut Connell nachrangig. Gemeinsam jedoch ist sämtlichen Männlichkeiten eine Komplizenschaft untereinander, die dazu führt, dass alle Männer von der so genannten patriarchalen Dividende profitieren, die sich aus der allgemeingesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen ergibt und sich beispielsweise in der Ausgrenzung und Unsichtbarmachung von Frauen in bestimmten, als „männlich“ konnotierten Domänen auswirkt. Der Bereich der Musik ist eines der Felder, in dem dieses Phänomen nach wie vor hohe Gültigkeit erlangt. So war es ein Anspruch der Tagung, die in diversen Musikgenres erscheinenden Formen von Männlichkeit nicht als selbstverständlich gegeben hinzunehmen, sondern genau diese zu untersuchen und zu hinterfragen.

Die vorgestellten Beiträge beschäftigten sich sowohl mit Bereichen der so genannten E‑Musik (von Beethoven bis Stockhausen) als auch der U‑Musik (von Volksmusik über Heavy Metal bis Gangstarap). Thematisiert wurden Aspekte der unterschiedlichen Rezeption von Musik im geteilten Deutschland der Nachkriegszeit ebenso wie einzelne Instrumente „am Manne“, wie die Trompete oder die Gitarre, bis hin zu der Relevanz von Genderaspekten bei musikbegeisterten Jugendlichen und in der Jugendkulturarbeit. Der geplante Ablauf gliederte sich, nach einer Begrüßung und einem Eröffnungsvortrag, in Sektion 1: Die Kategorie Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert und ihre Relevanz für die Musik in Ost‑ und Westdeutschland am Donnerstag, am Freitag folgten Sektion 2: Instrument – Institution – Männlichkeiten, Sektion 3: Männlichkeit(en) in popularmusikalischen Gattungen und Sektion 4: Männlichkeiten und ihre Relevanz für die Musik‑ und Sozialpädagogik.

Nach der Begrüßung durch den Dekan Dr. Matthias Pape, die Gleichstellungsbeauftragte Prof. Dr. Sabine Stövesand und die Tagungsleiterin Prof. Dr. Marion Gerards eröffnete Prof. Dr. Stefan Horlacher die Vortragsreihe mit dem Beitrag „Von den Gender Studies zu den Masculinity Studies. Aktuelle Konzepte der Männlichkeitsforschung im Überblick“. Das Referat bot einen Einblick in den aktuellen Stand der Masculinity Studies, die, so wurde betont, keineswegs in Konkurrenz zu den Gender Studies stünden, als vielmehr diese ergänzend unterstützen würden, da die Geschlechterforschung in ihren Anfängen den Fokus zunächst zentral auf Weiblichkeit bzw. Frauen gerichtet hätte. Dass jedoch der Status der Männlichkeit, wie auch immer dieser definiert sein mag, ausgesprochen mühsam zu erreichen sei und „Mann“ diesen nicht selbstverständlich zugesprochen bekäme, rechtfertige die intensive und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Männlichkeitskonzepten. Diese erscheinen zudem, je nach wissenschaftlicher und auch politischer Ausrichtung, unterschiedlich und streitbar. So gebe es durchaus die Kritik an Connells Ansatz, er löse sich nicht ausreichend von einer patriarchalen Geschlechterkonzeption und bipolaren Geschlechterkonstruktion. Weitere Ansätze, die im Eröffnungsvortrag nur angerissen wurden, wie beispielsweise die der Männerrechtsbewegung oder auch spirituelle, moralisch‑konservative oder soziobiologische Perspektiven, zielen zudem auf eine weit essentiellere Ausrichtung von Männlichkeitskonzeptionen.

Die beiden nachfolgenden Vorträge, „Rückblicke. Ausblicke: Der Komponist als gottgleiche Gestalt“ von Prof. Dr. Beatrix Borchard und „Beethoven 1970: Männlichkeitsinszenierungen als politische Strategie in Ost und West“ von Dr. Nina Noeske widmeten sich dem Bereich der klassischen Musik und hier vor allem dem Komponisten Ludwig van Beethoven. Prof. Dr. Beatrix Borchard referierte zu Beethoven als „Tonschöpfer“, einer Art Gottgestalt im jüdisch‑christlichen Sinn, die bis vor kurzem nur männlich gedacht werden konnte und kam damit zu der Frage, auf welchen Denkmustern diese Analogie zwischen Genie und Gott beruhe und ob dieses Rollenmodell auch heute noch Gültigkeit erlange. Auch der nachfolgende Beitrag beschäftigte sich mit der Rezeption von Beethoven, dessen 200. Geburtstag in den 1970er Jahren sowohl in der BRD als auch in der DDR vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer und kultureller Vereinnahmung inszeniert wurde.

Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete das Thema „Männlichkeit/en in populärer Musik – Artikulationsmuster in den Deutschlands der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Dr. Monika Bloss fragte in diesem Kontext nach der Beständigkeit konservativer Geschlechterbilder und richtete den Fokus zunächst auf den deutschen Schlager in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Während die Darstellung einer bürgerlichen Idylle und die Präsentation einer solidarischen Männergemeinschaft im westdeutschen Mainstream vorherrschten, wurden zunehmend außerdeutsche Traditionen vor allem nach US‑amerikanischem Vorbild übernommen, wobei das Erscheinungsbild männlicher Interpreten im normierenden Anzug und mit zurückhaltenden Bewegungen auf der Bühne relativ ungebrochen blieb. Jedoch entsprach das im Schlager vermittelte Männlichkeitsbild immer weniger den Vorstellungen der Jugendlichen, wie die in der Bravo veröffentlichten Hitlisten belegen. Zur Mitte der 1970er Jahre hin fanden sich kaum noch deutsche Interpreten und Schlagertitel in den Bravo‑Charts, welche den Hörergeschmack stärker repräsentierten als die von der Musikindustrie erstellten Hitparaden. Ursächlich war hier nicht nur ein verändertes Männlichkeitsbild, auch das Rezeptionsverhalten der Jugendlichen hatte sich stark in Richtung internationaler Pop‑ und Rockmusik orientiert. Darin manifestierte sich der eigentliche Protest gegen die Schlagerwelt und damit auch gegen das Denken und die Spießbürgerlichkeit der Eltern. Junge Männer erlaubten sich hier, eigene Ansprüche zu formulieren und gegen Erwartungsmuster aufzubegehren, sei es mit langen Haaren oder mit lauten Gitarrenklängen und anzüglichen Hüftbewegungen.

Die Situation in der DDR erschien in den 1950er Jahren kaum unterschiedlich zu der im Westen. Nach dem Mauerbau waren US‑amerikanische Künstler über das Radio präsent und über verfügbare Schallplatten, die unter Jugendlichen zirkulierten. Die allgemeine Empörung über den Rock’n’Roll ähnelte der im Westen. Die Distanzierung zur US‑amerikanischen Kultur hatte jedoch in Ostdeutschland Konsequenzen, die nicht nur ideologisch, sondern auch ökonomisch motiviert waren. So trat 1958 die so genante 60:40‑Regelung in Kraft, die vorschrieb, dass der überwiegende Teil von Veranstaltungen und Sendungen von Komponisten stammen musste, die den Wohnsitz in der DDR, Sowjetunion oder in Volksdemokratien hatten und im sozialistischen Alltag verwurzelt waren. Vorgabe war es, die Texte frei von bürgerlicher Dekadenz und sentimentalem Kitsch zu halten. Darüber, wie dies musikalisch oder anhand des Künstlerimages hergestellt werden sollte, gab es nur vage Vorstellungen, vor allem sollte eine „saubere“ Lebensweise abgebildet werden. Unklar war auch, wie diese Vorgaben in quantitativer Hinsicht bedient werden sollten, geschweige denn, wie geschlechtsrelevante Aspekte darin Platz finden sollten.

Am Beispiel des Soul kann schließlich aufgezeigt werden, wie groß die Diskrepanz zwischen einer sinnlichen, sexualisierten Musik und dem kopflastigen Männerbild in Deutschland war. Hier ließ sich eine auffallende Reserviertheit selbst der Jugendgeneration gegenüber amerikanischen Musikern erkennen, da anfangs fast gänzlich darauf verzichtet wurde, diese Musikrichtung zu imitieren und nur wenige Bands Soultitel in ihr Repertoire aufnahmen. Etwas breiter gelangte Soul erst im Laufe der 1970er Jahre in den popmusikalischen Alltag, als verschiedene Synthesen von Rockstilen praktiziert und Jazzrock, Funk und Soul zu einem Konglomerat vermischt wurden. Ein wichtiges zentrales Prinzip von Männlichkeit, nämlich Kontrolle, hier im Sinne von Kontrolle über den eigenen Körper, zeigte sich in Deutschland eher als ein Ausblenden des Körpers denn als körperliche Bewegung, kontrolliert in Form des Tanzens. Ein weiteres Beispiel des Umsetzens von Kontrolle im Kontext von Musik war, dass sie, kombiniert mit Leistungsfähigkeit, in Deutschland eher perfektes Handwerk bedeutete als freudiges Musizieren.

trompeterDen Einstieg in den zweiten Konferenztag umriss die Frage „Ist das Männliche das Allgemeine?“. Hierzu referierte Prof. Dr. Dörte Schmidt über „Komponisten zwischen Abstraktion und Konkretion im Umfeld der Darmstädter Avantgarde mit einem Seitenblick auf Stockhausens Originale“. Im Anschluss ging Dr. Verena Barth speziell auf „Männlichkeitsinszenierungen im Umfeld der Trompete“ ein und führte aus, inwieweit sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen zum männlichen Bereich am Instrument Trompete traditionell manifestierten. Anhand von Stereotypen lässt sich eine spezifische Form von Männlichkeit erkennen, die der Trompete klischeegemäß zugeschrieben und akustisch, optisch und in Interaktion dargestellt wird. Die Männlichkeitsinszenierung des Trompeters zeichnete sich durch Männerbündelei, Trinkfestigkeit, hohe Körperkraft und eher geringeren Intellekt aus, zudem folgte ihm der Ruf, ein ausgesprochener Fraueneroberer zu sein. Im Gegensatz dazu war z. B. die Geige ein Instrument der Akademiker, aber auch Flöte war schon an Musikhochschulen studierbar, während Trompete noch lange als Lehrberuf galt.

Sowohl in vorchristlichen als auch in außereuropäischen Kulturen war die Trompete im Kontext von Militär oder Ritualen präsent und zumeist Männern vorbehalten. Zudem galt sie als Führungsinstrument. Ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden Trompeten zunehmend auch von Frauen gespielt. Unter Blechbläsern, die allgemein in Gruppen auftraten, wurden Trompeterinnen zunächst als „die Harmonie störend“ empfunden. Leichter hatten es hier Frauen, die relativ maskulin auftraten. Nach und nach änderten sich jedoch der Klang und die Spielweise der Trompete. Dämpfer wurden eingesetzt, der Ton der Trompete wurde weicher. Bisherige Normen verloren ihre Gültigkeit. Erkennbar sind hier Aushandlungsprozesse, die sowohl stereotype Repräsentationsmuster als auch soziale Praktiken betreffen. Die künstlerische Selbstdarstellung beinhaltet immer wieder auch eine interaktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität und gesellschaftlichen Gendernormen.

Den zweiten Beitrag zu einem spezifischen Musikinstrument bot Dr. Birgit Kiupel mit dem Vortrag „E=XY? Die E-Gitarre und die Inszenierungen von Männlichkeiten“. Anhand von Interviews mit dem Gitarristen Ladi Geisler, der im Nachkriegsdeutschland die erste E‑Gitarre bastelte und Achim Reichel, der von seiner Suche nach musikalischem Ausdruck in der deutschen Rockmusik erzählt, werden Versuche aufgezeigt, sich auf musikalischem Wege einer erfolgreichen männlichen Identität zu versichern. Auch der Sänger und Songwriter Carsten Pape konnte feststellen, dass ansonsten eher unscheinbare junge Männer dank des Gitarrenspiels Anerkennung finden können. Kritisch hinterfragt wurden starre Rollenerwartungen am Beispiel der transsexuellen Gitarristin Carola Kretschmer. Sie spielte in Udo Lindenbergs „Panikorchester“, das im sonst eher geschlechterunflexiblen Musikbusiness eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt.

Mit Dr. Florian Heeschs Referat „Männlichkeitsperformanz mit hoher Stimme? Zum Heavy Metal in den 70er und 80er Jahren“ wurde die Reihe der Beiträge zu popularmusikalischen Gattungen eröffnet. Im Bereich des Metal, der ganz besonders von einer Dominanz der Männer geprägt ist, stehen die oft hohen Stimmlagen in einer bemerkenswerten Diskrepanz zum vorgestellten kernigen Männlichkeitsbild des Metal‑Rockers, zumal auch das Kreischen und Schreien gemeinhin eher mit Weiblichkeit assoziiert wird. Ebenso überschreitet das Erscheinungsbild der Musiker mit langen Haaren und Make‑up – und das nicht nur im Glamrock – alle Grenzen, die für eine klassische Männlichkeitsperformance gelten. Wie ambivalent kulturelle Normen ausgelegt werden können, zeigt sich an diesem Beispiel deutlich. Erklärt man die lange Mähne als wild, die Schminke als Kriegsbemalung und das Schreien als aggressiv, kombiniert mit der Herausstellung der Virtuosität eines hohen Gesangs, wird das, was sonst als weibisch verrufen ist, zu Attributen höchster Männlichkeit umdeklariert. Andere Vokalstile, wie das so genannte Growling, standen wiederum bei Metalsängerinnen zunächst im Widerspruch zur weiblichen Rolle, wurden jedoch sukzessive akzeptiert. Spannungsverhältnisse zur kulturell dominanten Zuordnung von Stimmregister und Geschlecht können folglich aushandelbar sein, ohne die herkömmliche Geschlechterhierarchie allzu weitreichend in Frage zu stellen.

Die eingangs gestellte Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“, so stellte Dr. Martin Loeser zu Beginn seines Vortrages „Männlichkeitskonstruktion in westdeutscher Pop‑ und Rockmusik am Beispiel von Marius Müller‑Westernhagen und Herbert Grönemeyer“ fest, könne auch er nicht endgültig beantworten. Was als männlich gelte, müsse immer wieder ausgehandelt werden, sowohl im eigenen Bereich als auch in der Gesellschaft. Im Werk beider genannten Rockbarden werden anhand verschiedener Medien wie Liedtexte, Musik, Bilder oder Videoclips durchaus unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe vorgestellt. Da gerade die Rock‑ und Popmusik seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine große und vielschichtige Verbreitung in einer weit gefächerten Zielgruppe und fast allen Alterskategorien gefunden hat, wird dieser Musikrichtung eine beachtliche Relevanz für die soziale Vermittlung von Geschlechterbildern zugesprochen. Diese können mithilfe populärer Musik sowohl konserviert als auch in Frage gestellt und neu entworfen werden. Anhand der deutschsprachigen Musik weithin rezipierter Interpreten wie Westernhagen und Grönemeyer ist feststellbar, dass Kunst gesellschaftliche Prozesse widerspiegelt und ob und inwieweit diese ein Veränderungspotential enthält. Im Hinblick auf die von den beiden Musikern skizzierten Männlichkeitskonzepte kann zudem speziell nach dem Verhältnis zwischen der Intention der Künstler und der vermutlich differenten und differenzierten Rezeption eines heterogenen Publikums gefragt werden.

Im Anschluss widmete sich Martin Seeliger mit dem Thema „Zwischen Affirmation und Empowerment – Gangstarapimages als umkämpfte Bilder“ einem Subgenre des Rap in Deutschland. Vorläufer war der ursprünglich in den USA der Endsiebziger Jahre entstandene Hip Hop, der vor dem Hintergrund ansteigender Ressentiments gegenüber Zuwanderern in den frühen 1980er Jahren auch in Deutschland ankam. Diese Musikrichtung zentriert sich um eine Männerwelt mit einem Männlichkeitskult, der auf einer traditionellen Geschlechterhierarchie basiert, beinhaltet eine Verschränkung der Klassen‑ und Ethnizitätsdimension mit dem Merkmal ausgeprägter Randständigkeit und fokussiert auf den Körper als Ort der Zurschaustellung von Symbolen und Artefakten, der zudem sexualisiert und als Hort von Dominanz und Stärke dargestellt wird. Während im Hip Hop jedoch Schwulen‑ und Frauenfeindlichkeit nicht zwangsläufig inbegriffen sind, bilden diese im Gangsterrap zentrale Grundlagen für musikalische Auseinandersetzungen, auf denen männliche Rangordnungskämpfe ausgetragen und Dominanzansprüche gegenüber Frauen zementiert werden. Zugehörige Assoziationsfelder sind das Leben „im Ghetto“ inklusive Migrationshintergrund und damit verbundenem Bildungsverlierertum als Begründungen für geringe Erwerbschancen und abweichende Verhaltensweisen. Bezeichnend ist der im Gangstarap auf sozialdarwinistischer Grundlage beruhende Wertekodex des „do or die“, das Überleben des stärkeren und autonomeren Individuums. Musikalisch thematisiert werden Ausgrenzungserfahrungen, das Leben auf der Straße, die Geschehnisse im eigenen, sozialräumlich benachteiligten Stadtteil. Der Rapper inszeniert sich dabei als Sprecher im Ghetto. Dadurch findet, neben der Abwertung anderer Personen und Gruppen, eine Selbstüberhöhung statt, welche die Aufstiegschancen für das eigene, erfolgreiche biografische Projekt zu verbessern verspricht.

Die Auseinandersetzung mit dem Gangstarap kann unter verschiedenen Gesichtspunkten geschehen. Neben einer subjektiven Dimension, in der danach gefragt wird, warum Menschen zu Gangstarappern werden und wie Adressaten mit den vorgestellten Identifikationsangeboten umgehen, kann in einer kulturindustriellen Dimension die Frage nach dem Warencharakter von Kulturprodukten gestellt werden und nach der Rolle, die die Musikindustrie bei der Konstruktion der Bildwelten des Gangstarap spielt. Eine dritte Dimension fragt nach der Bedeutung von Gangstarap innerhalb der symbolischen Ordnung eines gesellschaftlichen Repräsentationsregimes und nach der Relevanz von Gangstarapimages als Bezugspunkte für die Selbstverortung und Fremdzuschreibung von Sprechern in Bezug zu sozialstrukturell verpackten Ungleichheiten.

Interpretiert werden kann Gangstarap als Versuch der Aktualisierung hegemonialer Männlichkeit, indem der Rapper zeigt, dass er trotz schlechter Voraussetzungen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und geringer Bildung schließlich doch Erfolg, Wohlstand, sexuelle Potenz und Durchsetzungsfähigkeit besitzt. Als Verweis auf die eigene Leistungsfähigkeit, ein Kernelement der hegemonialen Männlichkeit, wird betont, dass man es nicht von der Mitte aus, sondern von ganz unten nach oben geschafft hat. Ebenso kann Gangstarap aber auch als einem „Klassenkampf von oben“ dienlich wahrgenommen werden. Indem unliebsame Eigenschaften wie Faulheit, Delinquenz, Amoralität und Homophobie dem generalisierten Anderen, der Unterschicht zugeschrieben werden, kann sich die bürgerliche Mitte beruhigt ihrer selbst vergewissern.

Eine weit weniger urbane musikalische Gattung wurde von Prof. Dr. Gerlinde Haid vorgestellt. Ihr Vortrag: „Von Männlichkeiten und vom Umgang mit deren Symbolen in der alpenländischen Volksmusik“ führte in die Traditionen der österreichischen Tanzmusikgruppen ein, deren Besetzung bis in die 1950er Jahre – mit Ausnahme von weiblichen Familienmitgliedern – nur aus Männern bestand. Gleiches galt in Vereinen und bei Faschingsbräuchen. Selbst so genannte „Trommelweiber“ waren ausschließlich kostümierte Männer. Erst in den 1970/80er Jahren kam langsam Veränderung in die Szene, Musikerinnen traten zunehmend selbstbewusst auf, spielten in der Volksmusik mit und durften sogar Hüte tragen, was zuvor ebenfalls nur Männern vorbehalten war.

Den letzten Teil der Konferenz bildeten zwei Beiträge zur Sozialen und Kulturellen Arbeit mit Jugendlichen. Prof. Dr. Marion Gerards Vortrag „Inszenierung von Männlichkeiten in musikalischen Lebenswelten von Jungen und Mädchen“ befasste sich mit nach wie vor männlich dominierten Jugendkulturen und Musikszenen, in denen trotz diverser Gegenbewegungen und Fördermaßnahmen heteronormative Geschlechterbilder vorherrschen. Ziel der Sozialen Arbeit mit Musik ist es, das Leben selbstständig und eigenverantwortlich zu bewältigen. Gerade bei Jugendlichen sollte die Bedeutungsdimension von Musik nicht unterschätzt werden. Der Musikgeschmack spielt eine wichtige Rolle bei der Selbststilisierung und damit der Identitätsbildung, auch bei der Bildung der Geschlechtsidentität. Anhand von Musik können Jugendliche sich unter Gleichaltrigen zugehörig fühlen, aber auch abgrenzen, sie hilft bei der sozialen Orientierung und der Partnerwahl.

Die Begeisterung für problematische Musikstile wie dem so genannten Porno‑Rap wirft die Frage auf, inwieweit homophobe und misogyne Songs Einfluss auf Jugendliche und deren soziale Wirklichkeit haben. Es hat sich gezeigt, dass die Vorbildfunktion von Musik abhängig von der subjektiven Bedeutungszuschreibung ist. Eine entsprechende Orientierung findet meistens nur dann statt, wenn Einstellungen und Verhaltensstrukturen bereits ausgeprägt sind, denn das familiäre und soziale Umfeld ist entscheidend für die sexuelle Sozialisation. Gerade Mädchen erleben jedoch in Musiksubkulturen eine Ausweitung der traditionellen Frauenrolle, sie lernen, sich Respekt und Raum zu verschaffen. Insbesondere das aktive Musikmachen bringt Selbstbestätigung, die zu mehr Selbstbewusstsein verhilft – gerade auch in der Geschlechterrolle, die bei Mädchen doch eher zurückhaltend angelegt ist. Wünschenswert ist daher eine gendersensible Jugendarbeit. Beinhalten sollte diese eine Medienkritik mit Reflexion der Textinhalte und eine Sozialraum‑Analyse ebenso wie Genderprojekte, speziell Musikprojekte für Mädchen in „Männermusikszenen“ und zudem Evaluation und Forschung.

Judith Müller erklärte anschaulich die “Inszenierungen von Musik und Männlichkeit – Konsequenzen für die Jugendkulturarbeit” und berichtete aus der Praxis. In der Arbeit mit Mädchen‑ oder auch gemischten Bands lassen sich gerade bei jungen Frauen Kompetenzen fördern, da häufig Rollenstereotype unreflektiert fortgesetzt werden und Mädchen dazu neigen, sich selbst aufgrund männlicher Dominanz und fehlender weiblicher Vorbilder einzuschränken, indem sie z. B. klischeegemäß den Gesangspart übernehmen anstatt zur unbekannten E‑Gitarre oder gar zum Schlagzeug zu greifen. So wird in der Bandarbeit Jugendlichen Raum geboten zu experimentieren und dabei auch gängige Rollenbilder zu hinterfragen. Ebenso kann über kontroverse Inhalte von Texten diskutiert werden. Aufgabe einer pädagogischen Fachkraft ist es hier, unterschiedliche Lebenswelten der Jugendlichen zu kennen und zu berücksichtigen und allen einen gleichberechtigten Zugang zu einem Bandprojekt zu ermöglichen. Alternatives Denken und Handeln von Jugendlichen sollte erkannt und gefördert werden, da unkonventionelle Jugendliche häufig angreifbarer sind und daher besondere Unterstützung durch Pädagog_innen benötigen. Letztlich gilt es, mit der Jugendkulturarbeit ein Umdenken und einen gleichberechtigten Umgang mit (Geschlechter‑)Differenzen zu fördern.

Mit einer allgemeinen Abschlussdiskussion wurde die Konferenz beendet. Insgesamt gestaltete sich die Tagung ausgesprochen facettenreich und inspirierend. Bedauerlich war nur, dass nach den einzelnen Beiträgen oft nicht genug Zeit für Fragen und Diskussion blieb. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn ein Tagungsband zum Nachlesen und Vertiefen der vorgestellten Themen erscheinen würde.

(Ergänzung 25.09.2014: Es ist in der Zwischenzeit ein Tagungsband erschienen, erhältlich beim Allitera-Verlag)

Die diesem Bericht beigefügte Fotografie ist nicht im Umfeld der Tagung entstanden und bildet keine der hier erwähnten Personen, Ereignisse und Musikgenres ab. Sie dient lediglich der Illustration. Für die Zurverfügungstellung des Fotos danke ich Eric Sagot und Frank Daubenberger.

They Say I’m Different …

Rosa Reitsamer & Wolfgang Fichna (Hrsg.)
„They Say I’m Different …“ – Popularmusik, Szenen und ihre Akteur_innen
Löcker 2011
330 Seiten
22 €

they say i'm differentDie Soziologin Rosa Reitsamer und der Historiker Wolfgang Fichna liefern mit They Say I’m Different … eine Sammlung von theoretischen Analysen und empirischen Studien zu lokalen, transnationalen und virtuellen Musikszenen aus den Bereichen der Soziologie, der Cultural Studies und der Geschichts und Medienwissenschaft.

Das Buch ist Ergebnis eines vom FWF Wissenschaftsfond geförderten Projekts Entstehung und Bestand von Wiener Musikszenen der Universität für angewandte Kunst Wien. Die Autoren versuchen nicht, einzelne Musikszenen inhaltlich umfassend darzustellen, sondern greifen ausgewählte Aspekte auf, wie Älterwerden und Popmusik (Bennett), die Aneignung „fremder“ Musik und ihre Legitimation am Beispiel der Balkanclubszene (Brunner und Parzer), Inszenierungen von Blackness in deutschen Hip Hop und antirassistischen Skinhead Szenen oder Kompetenzentwicklung in Jugendszenen (Pfadenhauer). Die Autoren knüpfen häufig an bereits bestehende Diskurse und Theorien an, was den Einstieg in einige der Themenkomplexe ohne Vorkenntnisse (Simon Reynolds „Hardcore Kontinuum“, dezidierte Auseinandersetzung mit Kommunikationsebenen der Popmusik und poptheoretische/poststrukturalistische Diskurse der Cultural Studies) erschwert.

Als sehr informativ hervorzuheben ist der Artikel von Christoph Jacke und Sandra Passaro, die Expert_inneninterviews mit Akteuren der Musikindustrie aus den Bereichen Produktion, Distribution, Rezeption und Weiterverarbeitung durchführten und damit eine Bestandsaufnahme liefern bezüglich veränderter und sich ändernder Rahmenbedingungen in der Entwicklung und Rolle transnationaler Popmusikindustrien durch neue digitale Technologien und Techniken und Verschiebungen der Rezeptionsorientierung an musikjournalistischer Kanalisierung hin zu usergenerated content. Aufschlussreich sind auch die Interviews von Sabrina Rahmann mit Rye Coalition und Dälek aus New Jersey, die sich durch ihr Wirken in der „unhip“ geltenden Peripherie gezwungen sahen, ein alternatives Verständnis von Community und Authentizität zu entwickeln, in Abgrenzung zu dem als Künstlerparadies geltenden oberflächlichen New York. Auch die weiteren Artikel zu Ladyfesten, Szenen in Montreal, Beirut, Tanzania und natürlich Wien sind allesamt wertvolle, von Experten detailliert recherchierte Beiträge zum Thema Jugendszenen.

Einzig der Artikel von Michaela Pfadenhauer „Lernort Techno Szene“ hinterlässt einen faden Beigeschmack. Zu bemüht und beinahe rechtfertigend wirkt ihre Schreibe, den Wert von Jugendszenen als außerinstitutionellen Lernstätten von hard und soft skills für den kapitalistischen Verwertungsprozess zu betonen. Damit folgt sie – bewusst oder unbewusst – dem neoliberalen Usus, subkulturelle Lebensläufe als besonders wertvolles Füllmaterial für pfiffige Bewerbungen oder Grundlage für Ich AGs zu behandeln. Dabei läge nur eine Abstraktionsebene höher das Potential einer kritischen Reflexion des (leider auch hier implizierten) gesellschaftlichen Imperativs zu konstanter zwanghafter Selbstverwirklichung/Selbstdarstellung.

Manuel Wagner

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)