Berlin Sampler

Théo Lessour
Berlin Sampler – From Cabaret to Techno: 1904-2012, a century of Berlin music
Ollendorff Verlag 2012
350 Seiten
18 €

9k=Der Klang der Familie, Nachtleben Berlin, Subkultur Westberlin, Die ersten Tage von Berlin, Berlin Wonderland – diese Veröffentlichungen zu subkulturellen Aspekten der Berliner Kultur, vor allem der Westberliner Szene vor dem Mauerfall und der Technoszene sind wahrscheinlich allen Leser_innen dieses Blogs zumindest schon einmal begegnet (wir haben sie und einige andere zu diesem Thema hier besprochen) und haben auch im deutschen Feuilleton genügend Aufmerksamkeit genossen. Es sind seit einigen Jahren Trendthemen, nicht zuletzt auch wegen des 25-jährigen Jubiläums des Mauerfalls – auch Ausstellungen und Filme, Konferenzen und Diskussionsrunden häufen sich (und führen eventuell bei manchen schon zu starken Ermüdungserscheinungen). Eine Veröffentlichung, die vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit bekommen hat, ist Berlin Sampler von dem französischen Journalisten Théo Lessour. In gut sortierten Buchläden steht dieses Buch manchmal neben den o. g. Titeln, ansonsten ist es aber eher selten zu finden. Woran das liegt? Auch wenn es im Berliner Ollendorff Verlag erschienen ist, gibt es nur Ausgaben in Französisch und Englisch, es wird in Deutschland über den Exberliner vertrieben, der englischsprachigen Zeitschrift für Expats in Berlin. Es richtet sich also nicht unbedingt an ein deutsches Publikum, sondern zuerst an diejenigen, die aus dem Ausland auf Berlin schauen bzw. nach Berlin ziehen und sich für die Musik und Kultur dieser Stadt interessieren. So gesehen ist es eine Art Reiseführer durch die Musik Berlins.

Während die o. g. Titel sich auf die letzten Jahrzehnte der Berliner (Musik-)Geschichte beschränken, reicht Berlin Sampler viel weiter in die Vergangenheit zurück – es beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts mit Cabaret, Revue, Dada und anderen wichtigen kulturellen Phänomenen, mit Arnold Schönberg und Kurt Tucholsky. Eingeteilt in die vier Kapitel „E-Musik“, „U-Musik“, „A-Musik“ und „Techno“ gibt es einen Überblick über spannende musikalische Entwicklungen und Phänomene, die das kulturelle Bild Berlins geprägt haben: Die Comedian Harmonists, Alban Berg, die Swingjugend, The Lords, Wolfgang Biermann, David Bowie, Einstürzende Neubauten, Westbam, etc. Grob wird hier ein (subjektiv geprägter und entsprechend lückenhafter) Kanon Berliner Musik entworfen, es gibt ausführliche Kontextualisierungen und Hintergrundinformationen und prägende Veröffentlichungen werden vorgestellt. Auffällig ist dabei, dass neben den großen Stars wie Marlene Dietrich, Nena oder Paul Van Dyk oftmals experimentelle Musik im Mittelpunkt steht, auch politische Musik (z. B. Hanns Eisler, Ton Steine Scherben oder Atari Teenage Riot) spielt eine große Rolle. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen haben die Musik aus Berlin entscheidend geprägt, dem Buch gelingt es gut, diese Zusammenhänge immer wieder aufzugreifen und so durch die Musik auch die Geschichte Berlins zu erzählen. Eigentlich also ein empfehlenswertes Buch nicht nur für Zugezogene, da hier viel zu entdecken ist, was auch Einheimischen fremd sein dürfte.

Was mich allerdings misstrauisch gemacht hat, waren die vielen Fehler, die mir an den Stellen aufgefallen sind, an denen es um Musik geht, mit der ich mich auskenne, also vor allem im Kapitel über Techno. Es sind meistens Kleinigkeiten – Moritz von Oswald heißt häufig (aber nicht immer) Maurizio von Oswald, das Frankfurter Label Playhouse ist angeblich nach Berlin gezogen, Ricardo Villalobos zweites Album wird als sein erstes ausgegeben, Dr. Motte hat Stücke produziert, mit denen er gar nichts zu tun hatte etc. Für sich alleine genommen wären das jeweils vernachlässigenswerte Fehler, aber die Häufigkeit, mit der sie zumindest in diesem Kapitel vorkommen (auf manchen Seiten sind es drei oder vier) zeigt, dass Lessour ziemlich schlampig gearbeitet hat (auch die häufigen Fehler in den Schreibweisen von Namen oder Songtiteln sowie Übersetzungsfehler sind Indizien dafür). Zusätzlich ruft die durch den persönlichen Fokus und das anscheinend selektiv angelesene Wissen geprägte Sicht auf Techno Stirnrunzeln hervor – z. B. wenn der heterogene und hybride ursprüngliche Techno aus Detroit (einem wichtigen Einfluss auf Berliner Techno) als „pure from the start“ („rein von Anfang an“) beschrieben wird oder wenn mit der Gründung von Ellen Aliens Label Bpitch Control 1999 der angebliche „Return of Techno“ eingeläutet wird. Durch die Fehler und die manchmal irritierenden Darstellungen und Bewertungen habe ich angefangen, alles, was ich in den vorherigen Kapiteln gelesen habe, zu hinterfragen – gibt es da auch Ungereimtheiten? Gibt es andere Fehler, die mir nicht aufgefallen sind, da ich kein ausreichendes Vorwissen habe? Ja, die gibt es (ich habe stichprobenartig Fakten aus den vorherigen Kapiteln überprüft und bin recht schnell auf weitere Fehler und Verfälschungen gestoßen) und es ist zu befürchten, dass es viele sind. Dadurch schwingt immer der Zweifel mit, ob das wirklich so war, wie es Lessour darstellt. So wird der zuerst positive Eindruck, den das Buch gemacht hat, doch massiv getrübt und ich kann Berlin Sampler nur sehr eingeschränkt empfehlen: Als Übersicht über hörenswerte Musik aus Berlin (bzw. irgendwie mit Berlin verbundene Musik) aus den letzten 100 Jahren ist es brauchbar und kann auch durchaus neugierig auf bisher unbekannte oder ignorierte Künstler_innen machen. Eine verlässliche Quelle ist es aber ganz offensichtlich nicht und die vielen Details und Anekdoten (die ich eigentlich als große Qualität des Buches hervorheben wollte) müssen leider mit großer Vorsicht genossen werden – der Reiseführer durch die Musik Berlins führt den Leser bzw. die Leserin vielleicht in die Irre.

Daniel Schneider

Es begann 1913

Arno Klönne
Es begann 1913. Jugendbewegung in der deutschen Geschichte
Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2013
107 Seiten
5 €

Arno Klönne zeichnet die Geschichte der Jugendbewegung vom „Freideutschen Jugendtag 1913“ auf dem Hohen Meißner bis zu ihrer Instrumentalisierung durch die FDJ nach 1945 nach.

Klaus Farin