Geniale Dilletanten in Hamburg

00004034.jpgDie Sonderausstellung im altehrwürdigen Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Wer den Raum im zweiten Stock betritt, befindet sich in einer mit Musik unterlegten, begehbaren Installation. Diese kreist um acht bekanntere Bandprojekte der 1980er Jahre, u.a. D.A.F., Einstürzende Neubauten, Die tödliche Doris, Der Plan oder F.S.K. Geografisch spielt sich das meiste in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und München ab. Die Bands und ihr Umfeld (Vertriebe, Fanzines, Buchhandlungen und andere Orte etc.) werden mit dokumentarischen Fotos und Filmen und durch künstlerische Bilder und andere Objekte, etwa selbstgebaute Möbel, vorgestellt. Die Ausstellung versteht sich nicht als Musik- oder als Punk-Ausstellung, sondern möchte einige avantgardistische Splitter herauslösen. Produziert wurde sie vom quasi-staatlichen Goethe-Institut. Sie wird vor allem als Tourneeausstellung im In- und Ausland eingesetzt, bisher war sie in Minsk und München zu sehen und ist aktuell auch in Melbourne zu Gast. In Hamburg wird sie in einer erweiterten Fassung mit zusätzlichem Material gezeigt.

Die musikalische und ästhetische Produktion jener Jahre beruhte auf billigen Mieten in Wohnungen mit Kohlenheizung und Außentoiletten, auf einem kreativen Umgang mit dem Urheberrecht und selbstverständlich auf auch heute wieder angesagten Prinzipien wie Kollaboration, Bricolage, DIY und Kreativität, befeuert vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit. Diese Szene hatte mit der damaligen Alternativ- und auf Innerlichkeit abonnierten Ökopax-Bewegung wenig zu tun und mehr Schnittmengen mit Punk. Bevor aus der Neuen Deutschen Welle kommerziell erfolgreiche Popmusik wurde, war es diese Musik, die darunter zusammengefasst wurde.

Die Ausstellung zeigt nun Objekte und Dokumente, die in einer traditionellen Zuordnung der Musik, der Malerei, dem Design, der Videoproduktion entstammen. Sie vermag es, die Stimmung jener Zeit gut zu transportieren. Sie lädt dazu ein, nochmals über Dissidenz und ihre Rolle bei der Herausbildung des Postfordismus nachzudenken, sind doch die Topoi der Revolte jener Jahre, wie Kreativität, Expressivität, Individualität heute längst Bestandteil des neoliberalen Imperativs der Selbstverwirklichung, wie er im Coaching, im Management und anderswo common sense ist: Das klischeehafte Bild vom Künstler als Blaupause zeitgenössischer Arbeitsverhältnisse. Chapeau! Wem das alles zu viel ist, kann sich ja wiedermal „Tanz Debil“ von den Neubauten anhören oder in seinen/ihren alten Kassetten oder Platten stöbern! Oder vor Ort im MKG in der jetzt bis zum 28. Februar verlängerten Ausstellung zum Jugendstil nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten dieser Bewegungen fahnden.

Geniale Dilletanten – Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland
noch bis 30. April 2016
MKG Hamburg, Steintorplatz 1, 20099 Hamburg
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag: 10-18 Uhr, Donnerstag: 10-21 Uhr
Preise: 12 Euro, ermäßigt 8 Euro, Do ab 17 Uhr 8 Euro, bis 17 Jahre frei

Der gleichnamige Katalog ist bei Hatje Cantz erschienen (160 Seiten, 24,00 €)

Geniale Dilletanten in Hamburg bei Google Maps: Die laufend erweiterte Karte zeigt rund 60 Orte in Hamburg, die für die Subkultur der frühen 1980er Jahre von besonderer Bedeutung waren: ehemalige und noch existierende Konzert-Locations, Platten- und Buchläden, Kneipen und Cafés, Theater und Galerien, Musik-Studios und -Verlage werden verortet und ausführlich kommentiert.

Bernd Hüttner

Dieser Text ist zuerst auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen.

Slime

Daniel Ryser
Slime – Deutschland muss sterben
Heyne 2013
288 Seiten
19,90 €

Eine Band-Biographie über Slime? Für Fans ein Muss, sollte man meinen. Der spontane Eindruck beim ersten Durchblättern war jedoch gleich etwas enttäuschend. Es ist sehr groß geschrieben, enthält wenige Abbildungen und in der Band-Diskographie sind nicht alle Scheiben mit Cover abgebildet.

Dennoch habe ich es natürlich gelesen. Der Text erinnert an einen Spiegel-Artikel: Er ist faktenreich, journalistisch gut aufgearbeitet und sehr gut lesbar verfasst. Weitgehend chronologisch arbeitet der Autor, ein Journalist aus St. Gallen in der Schweiz, Jahrgang 1979, die ebenfalls 1979 beginnende Band-Geschichte von Slime auf. Er stützt sich dabei vor allem auf nachträglich getätigte Aussagen der (ehemaligen oder immer noch aktiven) Band-Mitglieder sowie von Menschen, die im Laufe ihres Lebens mit Slime in Berührung gekommen waren. Und es ist durchaus reizvoll, Beobachtungen von Musikern wie Schorsch Kamerun, Rocko Schamoni, Jan Delay und zahlreichen anderen zu hören: prominente Musiker, die man nicht automatisch mit Slime in Verbindung gebracht hätte.

Weiterhin interessant ist der Hintergrund zum „Deutschland muss sterben“-Text. Dieser spielt auf das Kriegerdenkmal aus der Nazizeit an, das immer noch in Hamburg steht, obwohl es nach dem Krieg eigentlich hätte geschleift werden sollen. Ebenfalls spannend natürlich die Geschichten zum frühen Punk in Hamburg, der Hamburger Hafenstraße und zum FC St. Pauli: alles Entwicklungen im direkten Umfeld von Slime. Und die Band-Entwicklungsgeschichte selbst: die Ur-Besetzung (zu der weder Dirk Jura noch Stephan Mahler gehörten), die Umbesetzungen, die Indizierungen und darauf folgenden (Selbst-) Zensierungen, der Kommerz-Vorwurf (thematisiert mit dem Album Alle gegen Alle), Hintergründe zur ersten Auflösung 1984 und der legendären „Ansage“ zum Konzert in Berlin/Pankehallen 1984: Mit dieser war also eine Gruppe Nazis gemeint, die sich eingeschlichen hatte. Die Reunion 1992 mit den beiden LPs Viva La Muerte und Schweineherbst und der erneute Split danach. Die erneute Reunion-Tour 2010, bis zur neuen LP mit Texten von Erich Mühsam. Diese Erzählungen bringen interessante Hintergründe zutage, und die Lektüre lässt einen neu überlegen, für was die Band stand.

Daniel Ryser hat die geführten Interviews in einer ansprechenden Form zusammengetragen. Deutlich wird jedoch eine spürbare Distanz zur Band und zu ihrem Umfeld, er dürfte sich keineswegs als Punk oder Linksradikaler begreifen. Ein Satz von ihm mag das auf den Punkt bringen: „Es gibt ein Konzept, man kann es bürgerlich nennen oder einfach nur vernünftig: zuerst eine Ausbildung abschließen und sich dann ordentlich austoben. Dieses Konzept hatte Dirk nicht verinnerlicht.“ (S. 23)

Letztendlich bleibt eine Schwäche des Buches, dass ein außenstehender, deutlich jüngerer Autor die Band-Geschichte von Slime zu schreiben versucht. Es ist nicht zu spüren, dass der Autor ein Gefühl für die Bedeutung der Band in der Punk- sowie der linksradikalen Szene und für die Umstände der Zeit hat. Er schreibt seinen Text aus heutiger Sicht und mit heutigen (bürgerlichen?) Wertungen.

Dieser Blick von außen gibt ihm natürlich auch etwas Besonderes. Interessant sind unter anderem seine Charakterisierungen der Band-Mitglieder (u. a. Dirk Jura als das proletarische Element der Band und Elf als der ewige Rock’n’Roller – schlechter kommt der als unbeständig und selbstherrlich charakterisierte Stephan Mahler weg). Dennoch hätte man sich als Fan einen Band-Biographen gewünscht, der näher an der Zeit und mehr Teil des Geschehens war.

Rein punkhistorisch wäre es auch interessant gewesen, der Frage nachzugehen, wie Slime ihre besondere Stellung in der Punk-Szene erreichen konnte, es gab um 1982 (DER klassischen Deutschpunk-Ära) viele weitere Bands mit radikalen, eindeutigen Texten: Warum wurden Slime bedeutender als Toxoplasma oder Canal Terror? Auch bleibt die direkte Nachfolgeband von Slime, Targets, völlig unerwähnt.

Vor allem auch formal hätte dem Buch eine gute Prise mehr Punk-Spirit gut getan. In den letzten Jahren boomte die Punk-Rückblicksliteratur, deren herausragende Exemplare gerade dadurch bestechen, dass sie Originaldokumente wie Zeitungs- und Fanzineartikel, Flyer, Poster u. ä. dokumentieren. Dies alles fehlt schlicht. Bei genauer Betrachtung fallen auch in der Diskographie schwerwiegende Lücken auf.

So bleibt der Eindruck, dass das Buch etwas schnellfertig abgeschlossen wurde. Die Band (außer Stephan Mahler) scheint mit dem Buch aber zufrieden zu sein, schließlich tourte sie im April mit dem Autor und führte eine Lesereise incl. Akkustik-Set durch. Vorgelesen (übrigens in einem durchaus passenden, da Distanziertheit ausdrückenden, monotonen, aber forschen Ton) entwickeln manche Anekdoten doch einen neuen Reiz.

Im Ganzen bleibt jedoch der Eindruck, es wäre deutlich mehr drin gewesen, bei einer Biographie über die bis heute wichtigste deutsche Punk-Band. Insbesondere stört mich weiterhin die recht lieblose Aufmachung. Und vielleicht ist da in einer eventuellen Neuauflage mehr möglich.

Andreas Kuttner