„Gästepost Nr.1“ #IZM2021

Wir sprechen eine Triggerwarnung für diese Rezension aus, da in dem besprochenen Zine eine rassistische und sexistische Sci-Fi- Geschichte vorkommt.

Eigentlich wollten wir euch zum Ausklang des IZM2021 noch ein Zine of the Day empfehlen. Das können wir in der sonst üblichen Form an dieser Stelle aber nicht tun. Die entstandene Rezension muss kontextualisiert werden, da sich in dem Zine ein Text befindet, von dem wir uns inhaltlich klar distanzieren.  Wir nehmen jedoch diese Gelegenheit zum Anlass, euch Einblicke in unsere internen Diskussionen und Positionierungen im AdJ-Team zu geben.

Viele unserer Materialien aus über zwanzig Jahren des Sammelns und Bewahrens sind nach unserer Ansicht gespickt mit menschenfeindlichen, vor allem mit rassistischen und sexistischen Texten. Dazu gibt es intern seit längerer Zeit einen langwierigen, manchmal auch sehr zähen Prozess der Adressierung dieser Aspekte und viele Unsicherheiten bzw. verschiedene Meinungen, wie sich dazu verhalten werden kann.

Zum Hintergrund: Viele Jahre, sogar Jahrzehnte waren hier Menschen in der Verantwortung, die aufgrund ihrer privilegierten Positionierungen sich nie dazu verhalten haben. Das Archiv sammelt Zines aus den verschiedenen Szenen, aus verschiedenen Zeitphasen und aus verschiedenen Ländern, wobei ein Großteil aus dem deutschsprachigen Raum stammt.

Im Rahmen unserer intersektionalen Intervention in die Zine-Sammlung, die sich primär mit dem queeren Bestand des Archivs beschäftigt hat, ist unsere Perspektive auch auf den Gesamtbestand kritischer geworden, vor allem, was den Umgang mit triggernden Inhalten angeht. Aber auch wir wissen oft nicht, was sich in den einzelnen Heften verbirgt. Das kommt erst zum Vorschein, wenn ein „close reading“ Ansatz erfolgt. Dieser ist bei der Größe unserer Sammlung nur bedingt möglich.

Als unser Kollege Pascal aus dem Projekt „Pop- und Subkulturarchiv International“ sich ein Zine „Die Gästepost“ für die Vorstellung als „Zine of the Day“ ausgesucht hatte, konnte auch er noch nicht ahnen, was genau sich dort wiederfand. Das Zine enthält eine rassistische und sexistische Sci-Fi- Geschichte. Wir haben uns gemeinsam beraten und sind der Überzeugung, dass es wichtig ist, diesen Prozess öffentlich zu machen, da Archive keine neutralen Orte des Geschichte Bewahrens sind und es auch nie waren. Wie in vielen Gedächtnisorganisationen spiegeln sich auch in unserem Archiv Dominanzverhältnisse wider, die durch gesellschaftliche Unterdrückungssysteme entstanden sind. In der Sammlung des Archivs der Jugendkulturen dominieren immer noch weiße, cis-männliche und heteronormative Perspektiven, auch wenn wir seit Jahren daran arbeiten das zu verändern. Dies ist ein langer und prozessorientierter Weg. Unserer Sammlung enthält Materialien, die gesellschaftliche Machtverhältnisse und Unterdrückungsstrukturen reproduzieren, die rassistische Stereotype und Gewalt, sexistische Sprache und misogyne Denkmuster sowie die ganze Bandbreite von Hasssprache gegen sowie Diskriminierungen und Ausschluss von marginalisierten Menschen immer wieder reproduziert und dadurch Menschen, die vulnerablen Gruppen angehören, triggern können.

Wir machen das an dieser Stelle öffentlich, da wir eine kritischen Umgang mit unseren Materialien nicht nur vor Ort in direkten Interaktion mit Nutzer*innen für essentiell halten und die Unsichtbarmachung dieser Materialien für uns nicht die Lösung sein kann. Als Einrichtung müssen wir uns diesen Aspekten stellen, ohne direkt passende Lösungen dafür parat zu haben.

Hier nun Pascals Rezension zu „Gästepost Nr.1“


Gästepost Nr. 1

Als Archiv der Jungendkulturen bekommen wir häufig Post von Gäst*innen, die uns ihre aktuellen oder alten Fanzines spenden. Darüber freuen wir uns immer sehr, denn es hilft uns dabei die Sammlung zu erweitern und Lücken in den Beständen zu schließen. Heute soll es hier aber um andere Gästepost gehen, genauer gesagt um die Gästepost Nr. 1 dem selbsternannten „Mekkazine für Volxfrust“. Das Cover der Zeitschrift fällt der betrachtenden Person sofort auf, da es offenbar mit Farbe oder Lack bemalt worden ist, dies lässt sich auch sofort erfühlen wenn wir das Heft aufschlagen und auf der zweiten Seite zunächst einen Bericht über das Fußballspiel im DFB-Pokalfinale zwischen Bayer 04 Leverkusen und den Hertha B.S.C Amateuren lesen. Dieses Spiel fand im Jahre 1993 in Berlin statt und im selben Jahr und am selben Ort erschien die Erstausgabe der Gästepost.

Bei dem Heft handelt es sich aber keineswegs um ein Fußballfanzine, sondern um ein Zine aus dem Umfeld der sogenannten Social Beat und Underground Literaturszene der 1990er Jahre. In der Zeitschrift wird die Veranstaltung das „1. Erste Bundesweite Festival“ in zu Social-Beat-Literatur beworben, dass mit seinem Motto „Töte den Affen“ später als Geburtsstunde der Szene galt.[1] Im Text dazu, heißt es Social Beat sei ein „literarisches Suizidunternehmen. (…) „Blues-Stories, Rock ‚n’Roll u. Street-Prosa pur (…)“ Die Protagonist*innen sahen sich zum Teil inspiriert von der US-amerikanischen Beat Literatur mit ihren Autoren wie Jack Kerouac oder William S. Burroughs. Die deutsche Literatur und der etablierte Kulturbetrieb galten vielen als Inhalts- und Einfallslos, so erschufen die beteiligte Personen nach und nach eine bundesweite literarische Subkultur, mit eigenen Verlagen, Büchern und Zeitschriften.[2] Eine davon war die Gästepost, die in der Ästhetik und den Inhalten der ersten Ausgabe noch sehr einem Punk und Hardcore Fanzine ähnelt. Unter https://www.schauspielraum.at/TschikaChybulski/index.htm ist noch ein Eintrag zu finden, indem die Künstlergruppe Tschika Chybulski berichtet, die Zeitung Gästepost in der gemeinsamen WG in Berlin Prenzlauer Berg im Eigenverlag produziert zu haben. Jeder Umschlag war u.a. durch die Behandlung mit Schellack ein Einzelstück. Die Herausgeber*innen geben an nur drei Ausgaben aufgelegt zu haben und beschreiben den Inhalt als „witzigskurrilligent“

Nach dem Durchlesen des Fanzines kann diese Bezeichnung als durchaus treffend angesehen werden, wer sich z.B. schon immer für den „zusammenhang zwischen bier und zeit“ interessiert hat, findet hierzu eine lyrische Bearbeitung. Zwei Seiten später antwortet Prof. Bormann auf die Frage „Wann ist ein Konzert richtig schön?“ und berichtet von einem But Alive Konzert im Sportlertreff, dass diese Kriterien erfüllt hat, nämlich wenn: “der funke rüberspringt, wenn sich band und publikum gegenseitig anfeuern und zu einer einheit verschmelzen“. Das solche besonderen Momente auch in den 90er Jahren nicht alltäglich waren, merken die Leser*innen an der Konzertrezension vom Biohazard Konzert im Metropol.  Der Besuch des „Kommerzspektakel“ der Konzertagentur Jörg Lengauer endet mit der Überlegung zukünftig sein Geld lieber an die Knastkasse zu spenden und dem Aufruf solche Events zu boykottieren.

Eine Veranstaltung die (glückerweise) gar nicht erst boykottiert werden musste waren die Olympischen Spiele in Berlin 2000. Nicht zuletzt die Kampagne NOlympia trug mit ihrem Gegenprotest dazu bei, dass sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) am 23. September 1993 gegen Berlin und seine skandalträchtige Bewerbergesellschaft, die Olympia GmbH entschieden. Im Artikel „IOC in die Spree“ wird deutlich was die Herausgeber*innen der Gästepost über die Spiele und die Auswirkungen für Berlin dachten. Ihre Standpunkte lesen sich mit Stichpunkten wie Immobilen-Spekulation oder Verdrängung der angestammten Bevölkerung immer noch aktuell, insbesondere vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kritik an internationalen Sportverbänden und ihren Großveranstaltungen.

Das Berlin 1993 dann doch eine andere Stadt war, kommt dafür im Artikel „Menschen im Hotel“ zum Ausdruck. Der Autor beschreibt seine persönliche „Plündererstory“ im Gästehaus Johannishof. Bei seiner Erkundungstour durch das verlassene ehemalige Gästehaus des DDR-Ministerrates trifft er vom Keller bis zum Dachgeschoss auf die unterschiedlichsten Personen von „deutschen Biederleuten“ bis zu amerikanischen Tourist*innen. Alle suchen in den Räumen nach etwas Brauchbaren, wobei oftmals am Ende die Tatsache genügt, dass es gratis ist und selbst der Autor nicht so recht weiß was er mit seiner Ausbeute der „sackähnlichen Winterjacke“ im Hochsommer anfangen soll. Die Leser*innen der Gästepost haben aber Grund sich über die Plünderung zu freuen, denn der Artikel ist stillecht auf dem ehemaligen Briefpapier des Hotels gedruckt, zudem liegt dem Heft ein verpacktes Schuhputztuch des VEB Kunstblume Sebnitz bei.

Die Artikel in der Gästepost sind beinahe alle lesenswert, zu erwähnen sind hier noch der Bericht von einer missglückten Wanderung von Leipzig nach Berlin oder ein Interview dem Punk-Liedermacher Attila the Stockbroker. Leider befindet sich im Zine eine dystopische Science-Fiction Kurzgeschichte, „Slaughters“, die gewaltvolle rassistische und sexistische Sprache verwendet. Der Protagonist begeht darin eine rassische Gewalttat und wird schlussendlich selbst Opfer von Gewalt. Trotzdem ist die Intension der Geschichte nicht klar und auf deren Aufnahme in das Heft hätte verzichtet werden müssen. Neben den größtenteils klugen und politischen Texten wirkt die Kurzgeschichte vollkommen deplatziert. Nach der Lektüre der Gästepost hätte ich gerne eine uneingeschränkte Leseempfehlung gegeben, dass ist aufgrund der drastischen Darstellung von rassistischer Gewalt aber nicht mehr möglich.

Pascal


[1] Vgl. Schönauer, Michael. Kerenski, Boris (Hrsg.) : Was ist Social beat? Publikation zur Mailart-Aktion von Boris Kerenski. Killroy Media. Asperg 1998, S. 7

[2] Ebd. S.6

Punk Is Dead

Richard Cabut, Andrew Gallix (Hg.)
Punk Is Dead – Modernity Killed Every Night
Zero Books, 2017
337 S.
19,99 €

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Lektüreseminars „40 Jahre Punk“ an der Universität Oldenburg unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Binas-Preisendörfer enstanden.

Das Cover des Buchs "Punk is Dead"40 Jahre Punk! Anlässlich dieses Jubiläums im im letzten Jahr, sind wieder diverse Bücher erschienen. Dazu gehört auch die Anthologie „Punk is Dead – Modernity Killed Every Night“. Im Sammelband kommen Autor*innen zu Wort, die, wie die beiden Herausgeber, Richard Cabut und Andrew Gallix, selbst Teil der britischen Punk-Szene waren, noch bevor diese überhaupt „Punk“ genannt wurde. Sie vertreten die Position, dass Punk mit seiner Benennung gestorben sei. Es geht also weniger um die These, dass Punk heute tot ist, sondern eher darum, dass er einhergehend mit der begrifflichen Fixierung aufgehört habe zu existieren. Das Buch unternimmt den Versuch, Punk als Kaleidoskop verschiedener Perspektiven abzubilden, sich ihm also in seiner Multidimensionalität zu nähern.

Das Besondere an diesen Essays, Interviews und historischen Dokumenten ist, dass sie meist subjektive, persönliche und einander widersprechende Eindrücke des britischen Punk der 1970er Jahre schildern. Punk lässt sich, das legt der Sammelband nahe, nur in seinem vielfältigen Wirken und nicht durch eine einheitliche Charakterisierung greifen. Damit lässt sich erklären, warum beispielsweise Simon Reynolds 1986 von der Allgegenwärtigkeit des Punk in der Popmusik schreibt, Andy Blade hingegen bereits 1977 das Ende des Punks postuliert. Es kommen nicht nur Autor*innen zu Wort, die sich auf Malcom McLaren – Manager der Sex Pistols und Besitzer des Ladens SEX – und seinen Einfluss auf Mode, Musik und Punk als Kunst konzentrieren, sondern auch solche, für die dieser keinerlei Bedeutung hat. Für letztere, darunter Penny Rimbaud, ist Punk beispielsweise von Bedeutung, weil er totale Anarchie meint.

Es ist augenscheinlich, dass es in diesem Buch weniger um die Musik als vielmehr um die britische Szene der Punks in ihrer Gesamtheit geht. Dabei spielt Musik in den meisten Fällen eine Nebenrolle, ist eher ein Teil eines Ganzen, wie es zum Beispiel Rimbaud, ehemaliger Schlagzeuger der Band „Crass“, beschreibt:
Punk isn’t about music, it’s a way of life, a way of thought. Punk isn’t a fashion, it’s a way of being, it‘s anarchy in the UK, USA, wherever, and that isn’t tuned guitars and pretty lyrics (S. 178).
Weitere dargestellte, zentrale Bestandteile der Szene sind Mode, Medien, Kunst sowie der Raum (das Roxy, SEX, besetzte Häuser). Mal wird sich auf den Situationismus (Situationist International) und King Mob als Grundlage für die Ideen des ehemaligen Kunst-Studenten Malcom McLaren konzentriert, mal auf die politische Rebellion oder den Ruf nach Anarchie als Grundlage jugendlichen Handelns.

Die Anthologie ist nicht als eine weitere, neue Geschichtsschreibung zu lesen. Eher handelt es sich hier um eine, im wahrsten Sinne des Wortes, „eindrucksvolle“ Ergänzung der bisherigen Literatur über Punk. Zu den Autor*innen zählen neben den erwähnten Penny Rimbaud und Simon Reynolds, der 2005 ein Buch zum Post-Punk veröffentlichte, unter anderem auch der ehemalige Fanzine-Autor Jon Savage, der Autor des ersten Sex-Pistols-Interviews Jonh Ingham, der Journalist und Autor Barney Hoskyns und Paul Gorman, der 2019 eine Biographie über Malcom McLaren veröffentlichen wird. Unter den insgesamt 21 Autorinnen und Autoren befinden sich auch zwei Frauen: Judy Nylon, die 1970 aus Amerika nach London kam und dort unter anderem die Band „Snatch“ gründete, und Dorothy Max Prior, ehemalige Go-Go-Tänzerin, mittlerweile Performance-Künstlerin. Die Tatsache, dass lediglich zwei weibliche Ex-Punks zu Wort kommen, führt unweigerlich zu der Frage, ob Punk eine männlich dominierte Szene war, oder bisher meist aus männlicher Perspektive erzählt wurde.

Schließlich ist festzustellen, dass sich dieses Buch nur bedingt als Einstieg in die Beschäftigung mit dem weiten Feld Punk eignet, da sehr viel Hintergrundwissen über die britische Punk-Szene vorausgesetzt wird. So wird von Personen und Treffpunkten berichtet, die allerdings nicht weiter erläutert werden. Auch sind die Texte weniger wissenschaftlich als eher subjektiv und essayistisch gestaltet. Die dabei oftmals Verwendung findende Umgangssprache kann bei Nicht-Muttersprachlern durchaus zu Verwirrungen führen. Jedoch birgt dieser Sammelband auch die Chance, Themenfelder zu entdecken, die bisher noch nicht erschöpfend erforscht sind.

Veronika Volbers

Zine of the Day: I’m Johnny and I don’t give a fuck #4 (Kanada)

Der Juli ist wie immer International Zine Month (IZM). Aus diesem Anlass stellen wir euch wieder, wie in den letzten Jahren, einige aus unserer Sicht interessante Zines aus der Sammlung des Archivs der Jugendkulturen als „Zine of the Day“ vor…

Ist das noch ein Zine oder schon ein Buch? Ganze 220 Seiten umfasst diese aus Vancouver (Kanada) stammende 4. Ausgabe von I’m Johnny and I don’t give a fuck, die 1999 von Andy Healey herausgegeben wurde, der seinerzeit auch Bassist der Hardcore-Band Submission Hold war. Die Musikformation bestand von 1993 bis 2005 und tourte in dieser Zeit auch einmal durch Europa. Auf dieser Tour habe ich sie dann in irgendeinem AZ in irgendeiner Stadt auch mal selbst live gesehen. Bei diesem Konzert blieb mir vor allem mir die Sängerin von Submission Hold, Jen Thorpe, nachhaltig in Erinnerung – hochschwanger und mit dickem Bauch lieferte sie eine Performance ab, die an Kraft und Energie kaum zu überbieten war.

Ich weiß gar nicht mehr, ob ich mir I’m Johnny and I don’t give a fuck #4 damals auf diesem Konzert kaufte oder ob ich das Zine schon vorher in meinem damaligen Zine Distro vertrieb. Jedenfalls habe ich damals Unmengen dieses Heftes über meinen Fanzine-Mailorder verkauft – und das vollkommen zurecht! Denn dieses Zine stellte zum Zeitpunkt seines Erscheinens eine absolute Ausnahmeerscheinung in der internationalen Zine-Landschaft dar und ist es bis heute auch geblieben. Und mit dieser Ansicht stehe ich nicht allein. Das kanadische Magazin Broken Pencil bezeichnete Andys Heft sogar als

„one of the great Canadian zine of all time“.

Im Johnny And I Dont Give A Fuck #4

I’m Johnny and I don’t give a fuck #4 (Cover)

Andy verkaufte sein Zine (fast) ausschließlich auf den Konzerten von Submission Hold und war damit so erfolgreich, dass er nach der ersten Auflage von 1.000 Stück weitere 600 Exemplare nachdruckte. Solche erstaunlich hohen Verkaufszahlen für ein Zine sind bis heute eher eine Seltenheit – vor allem bei solchen Zines wie I’m Johnny and I don’t give, die die Genre-Grenzen klassischer Fanzines sprengen.

Von seiner Aufmachung ist I’m Johnny and I don’t give a fuck #4 eher unscheinbar daher. Das gesamte Heft besteht aus einem handschriftlich verfassten Text, der in mehrere Kapitel gegliedert ist. Zeichnungen finden sich nur äußerst spärlich auf dem Cover und an den Kapitel-Anfängen. Die Geschichte startet zunächst mit einer Erzählung aus der Ich-Perspektive über eine kanadischen Punk/Hardcore-Band, die sich mitten im Winter mit einem vollkommen runtergerockten Kleinbus auf Tour begeben habt – dabei werden so ziemlich alle nur möglichen Stories voller Pleiten, Pech und Pannen, die man von eben solchen reisenden Musikgruppen kennt, in höchst amüsanter und ironischer Weise detailliert ausgebreitet. Das erweckt zunächst den Eindruck, als handele es sich bei I’m Johnny and I don’t give a fuck #4 um das Perzine eines Band-Mitglieds von Submission Hold. Doch schon bald bekommt die Geschichte einen vollkommen anderen Spin. Eines der Bandmitglieder liest während der Fahrten im Tour-Van einen Roman über einen Fahrradkurier namens Henry O’Melin, der seit einer Kopfverletzung nicht mehr anders kann, als immer genau das sofort auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf geht – und was ihm natürlich im Zusammenleben mit den Menschen immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Beide Erzählstränge laufen zunächst parallel nebeneinander her, bis schließlich der real existierende Bassist der Band namens Andy tatsächlich auf die fiktive Person Henry trifft und das Drama seinen Lauf nimmt – in einer derart unterhaltsam absurden Weise, wie man es kaum erwarten würde. Spätestens an dieser Stelle des Zines wird klar: Das hier ist mehr als ein bloßes Perzine, aber auch mehr als eine reines Literatur-Zine. Hier verschränken sich fiction und non-fiction auf derart kurzweilige Art und Weise, dass man die 220 Seiten in einem Rutsch durchlesen mag.

Im Johnny And I Dont Give A Fuck #5

I’m Johnny and I don’t give a fuck #5 (Cover)

Leider erschien nach dieser herausragenden 4. Ausgabe mit I’m Johnny and I don’t give a fuck #5 einige Jahre später auch schon die letzte Ausgabe dieses Ausnahme-Zines von Andy Healey. Auch diese ist absolut empfehlenswert und greift den Grund-Plot mit Submission Hold wieder auf. Nur spielt die Geschichte diesmal vor allem in einem heruntergekommenen Punk-House in Vancouver. 2005 löste sich Submission Hold auf und Andy scheint seitdem auch kein weiteres Zine veröffentlicht zu haben, was ich sehr bedauere.

Immerhin erschien vor einigen Jahren unter dem Titel I’m Johnny and I don’t give a fuck noch ein Comic des französischen Zeichners Colonel Moutarde, der auf weiteren Geschichten von Andy Healey basiert. Das Heft gibt es als PDF hier zum Herunterladen.

Und wer sich die Original-Ausgaben von I’m Johnny and I don’t give a fuck #4 und #5 ansehen möchte, der kann dies im Archiv der Jugendkulturen tun. Nachdrucke der alten Ausgaben wird es laut Andy nicht geben, da sein Hund irgendwann mal alle Druckvorlagen zerfetzt hat.

Christian

Mehr Infos zum International Zine Month (IZM) sind hier zu finden.

#IZM2018 #Zines #Fanzines #Zineoftheday #Hardcore #Punk #DIY #Fiction #Non-Fiction

Zine of the Day: Heulsuse

Heulsuse

Heulsuse #7, 1995

Die Heulsuse aus Schwerin erschien in unterschiedlichen Formaten und kein Umschlag dieses Literatur-Zines gleicht dem anderen. Das macht jedes Heft zu einem Einzelstück und zeigt, wie viel Leidenschaft und Herzblut manche Herausgeber_innen in die Gestaltung ihres Fanzines stecken.

http://www.stolensharpierevolution.org/international-zine-month

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Christian Schmidt (Zine Nerd)