BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003-2021

Reclaim Your City
BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021
Assoziation A 2022
480 Seiten
38,00 €

Was für ein Wälzer! Mit „BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003-2021“ hat das Reclaim-Your-City-Kollektiv einen fast 500 Seiten starken Band über Berliner Urban Art, Clubkultur und die Recht-auf-Stadt-Bewegung vorgelegt, der an dieser Stelle nur wärmstens empfohlen werden kann. Bebildert mit einer riesigen Menge an Fotos und illustriert mit einer Reihe an Karten, dokumentiert das Buch die Aktivitäten der Szenen seit Beginn der 2000er Jahre und zeigt, wie sehr sie das kulturelle Leben und die sozialen Proteste Berlins mitgeprägt haben. Ein Ausgangspunkt ist die Street-Art-Ausstellung Backjumps von 2003, die neue Formen von Kunst im öffentlichen Raum in Berlin populär gemacht hat. In dieser Zeit begannen auch Kollektive zunehmend unangemeldete Partys in Parks, auf Brachen oder leerstehenden Räumen zu veranstalten und etablierten alternative Formen der Clubkultur in Berlin. Und auch die Proteste gegen den Ausverkauf der Stadt nahmen in den 2000er Jahren zu, beispielsweise mit den Protesten gegen die Privatisierung des Spreeufers in Friedrichshain-Kreuzberg unter dem Motto „Mediaspree versenken“ sowie den später folgenden Mietenprotesten. Immer geht es um nicht-kommerzielle Kultur und das Schaffen und Bewahren von Freiräumen, um eine lebenswerte Stadt für alle. Zugleich können diese Aktivitäten aber auch dem Stadtmarketing in die Hände spielen und gelten als „weiche Standortfaktoren“, sie können Verdrängung und Verteuerung beschleunigen. All diese Themen werden in „BITTE LEBN“ behandelt und machen das Buch zu einer beeindruckenden Dokumentation der letzten 20 Jahre Berliner Subkultur und ihren überregionalen und internationalen Netzwerken.

Malaktionen von 1UP, ÜF und Paradox an einem Haus am Hermannplatz
Aus Protest gegen die Räumung der Kreuzberger Cuvry-Brache und den Investor, der das Gelände gekauft hat, werden die Wandbilder mit Einverständnis des Künstlers Blu übermalt.
Um neue Orte für Kunst und Partys zu finden, wird die Stadt erkundet.
Die Räuberhöhle auf dem Fusion-Festival (oben) und der Club Mensch Meier (unten).
Eine ganze Reihe an Karten verorten die Aktivitäten der Künstler*innen und Aktivist*innen, die Clubs und Hausprojekte in der Stadt.

Erhältlich ist das Buch im Buchhandel und bei Hitzerot. Bei uns im Archiv sind außerdem vielfältige Materialien aus den im Buch thematisierten Kontexten gesammelt.

Daniel Schneider

Kurzmitteilung

„Man fragt nicht, man bezahlt nicht, man macht!“

Interview mir dem Graffiti-Team des Archivs

HPlogo_cutIn dem sehr empfehlenswerten Online-Magazin Migrazine ist vor kurzem ein ausführliches Interview mit Martin Gegenheimer, Matze Jung und Carsten Janke, Graffititeamer und Macher des Graffitiarchivs im Archiv der Jugendkulturen, erschienen. Sie sprechen darin über ihre Arbeit im Archiv und über aktuelle Entwicklungen von Graffiti und Street Art.

www.graffitiarchiv.org
www.migrazine.at

Extrem is mus(s)?

Veranstaltungsreihe zu Jugend, Protest und Politik

Diese Woche startet der zweite Teil unserer Veranstaltungsreihe „Extrem is mus(s)“. Am Freitag findet als Auftakt eine Veranstaltung zum Thema Populismus in Europa statt, ab 15 Uhr im Jugendkulturzentrum Linse in der Parkaue 25 in Berlin-Lichtenberg. Anmeldung gerne an linse@sozdia.de.

Weitere Veranstaltungen drehen sich um die Aneignung des öffentlichen Raumes, um politische Satire und um radikalen Protest. Ergänzend gibt es Workshop-Angebote für Jugendliche ab 12 Jahren zu den Themen Graffiti, Poetry Slam und Rap. Diese Veranstaltungen und Workshops finden im Archiv der Jugendkulturen, Haus A, in der Fidicinstr. 3 in Berlin-Kreuzberg statt. Alle Veranstaltungen sind kostenfrei, Anmeldungen bitte an archiv@jugendkulturen.de.

Ausführliche Informationen zu allen Veranstaltungen und Workshops finden Sie hier.

Bild

Galerie

Das Graffiti-Team unterwegs

Aktuelle Informationen zu den Aktivitäten des Graffitiarchivs im Archiv der Jugendkulturen finden Sie hier: www.graffitiarchiv.org und hier: www.facebook.com/graffitiarchiv

Revolutionäre Frauen

Queen of the Neighbourhood Collective
Revolutionäre Frauen – Biografien und Stencils
Edition assemblage 2011
128 Seiten
12,80 €

queen_revolutionaere_frauen_rgb_web-189x300Sie sind Aktivistinnen, Anarchistinnen, Feministinnen, Freiheitskämpferinnen, Visionärinnen: Dreißig Frauen, deren Geschichten mehr oder weniger – eher weniger – bekannt sind, werden in diesem Buch in kurzen Porträts vorgestellt und anhand von so genannten Stencils optisch präsentiert. Stencils, das sind die in der Streetart bekannten Schablonen zum Sprühen von Graffitibildern. Praktisch könnte man sie hier direkt ausschneiden, um selbst aktiv zu werden, wäre dieses Buch nicht viel zu schön zum Zerschneiden.

Ausgangspunkt dieser Zusammenstellung war die Feststellung, dass revolutionäre Ikonen eigentlich immer ein männliches Antlitz haben. Ches verträumter Rebellenblick prangt ohne Ende auf schwarz‑roten T‑Shirts alternativer oder auch nur trendbewusster Jugendlicher und an künstlerisch umgestalteten Hauswänden. Aber Frauenköpfe? – Fehlanzeige. Ihre Bilder und ihre Geschichten bleiben meist im Verborgenen. Das Queen of the Neighbourhood Collective, ein Frauenkollektiv aus Autorinnen, Forscherinnen und Künstlerinnen in Aotearoa, Neuseeland, hat sich mit der vorliegenden Publikation zum Ziel gesetzt, dies zu ändern, den Che‑Glamour zu entlarven und gleichzeitig einen Kommentar zur Pop‑Kultur abzugeben. Stellvertretend für die Kollektiv‑Autorinnen (u. a. Hoyden, Melissa Steiner, Anna Kelliher, Rachel Bell, Anna‑Claire Hunter, Janet McAllister) schreibt Tui Gordon im Vorwort:

In Revolutionen geht es um Umkehr, um Umbruch, darum, einen radikalen Wandel in unserem Denken und Handeln zu initiieren. […] Alle Frauen dieses Buches handelten – bzw. wurden zum Handeln gezwungen – aufgrund eines tiefgehenden Gespürs für Ungerechtigkeiten und dem Drang, diese anzugehen oder ihnen zu entfliehen. Alle vorgestellten Frauen sind radikale, außergewöhnliche und nonkonformistische Freidenkerinnen; Menschen, die die Regeln der Gesellschaft zwar kennen, aber nicht nach ihnen leben; „Outlaws“, die sich nicht notwendigerweise selbst für ein Leben außerhalb der Konventionen entschieden haben, die aber in ihrem Sein schlichtweg unkonventionell sind.

Auf der Grundlage des ursprünglichen Zines Revolutionary Women Stencil Book werden sie vorgestellt: Harriet Tubman, Louise Michel, Vera Zasulich, Emma Goldman, Qui Jin, Nora Connolly O’Brien, Lucia Sanchez Saornil, Angela Davis, Leila Khaled, Comandante Ramona, Phoolan Devi, Ani Pachen, Anna Mae Aquash, Hannie Schaft, Rosa Luxemburg, Brigitte Mohnhaupt, Lolita Lebron, Djamila Bouhired, Malalai Joya, Vandana Shiva, Olive Morris, Assata Shakur, Sylvia Rivera, Haydée Santamaría, Marie Equi, Mother Jones, Doaria Shafik, Ondina Peteani, Whina Cooper und Luci Parsons. Es sind Frauen mit unterschiedlichsten Anliegen, Philosophien und Handlungsmaximen. Einige anerkannt, andere höchst umstritten. Das Buch versteht sich auch nicht als Mittel, Heldinnen zu schaffen. Die Intention des vorliegenden Bandes ist vielmehr, ein „satirisches Spiel mit dem Konzept von Ikonen und Held_innenverehrung“ anzubieten.

Klargestellt wird zu Beginn auch, dass die Mitwirkenden nicht unreflektiert an ihr Projekt herangegangen sind. Zunächst wurde kritisch hinterfragt, ob es überhaupt im Sinne aller Porträtierten sei, in einem Buch, das unvermeidbar auch dem Konsum der Kaufkräftigen dient und anteilmäßig trotz globaler Perspektive tendenziell mehr Geschichten weißer Frauen beinhaltet, vereint zu werden. Weitere Aspekte waren die Frage nach dem unterschiedlichen Stellenwert von Militanz und Pazifismus unter den Rebellinnen ebenso wie ihre divergierenden kulturellen Hintergründe, die deren Auffassungen von Feminismus durchaus ambivalent erscheinen lassen. Letztlich bleiben, so Tui Gordon, „zwei zentrale Punkte: Erstens der tief verankerten patriarchalen Geschichte eine Tritt in die Eier zu verpassen und zweitens die Freude über starke Frauen zu verbreiten und Lust auf Revolution zu machen“.

Herausgekommen ist ein wunderbares Stöber‑ und Lesebuch für alle Altersklassen und Gender. Die einzelnen Geschichten sind spannend und informativ geschrieben und die beigefügten Stencils kleine Kunstwerke – hervorragend dazu geeignet, kopiert zu werden und damit, wie augenzwinkernd im Buch empfohlen wird, „Aufnäher, T‑Shirts, Geschirrtücher“ zu gestalten oder den Schlafzimmerwänden „eine schicke revolutionäre Ästhetik“ zu verleihen. Schön zu sehen, dass Feminismus nicht immer spaßfrei sein muss und so originelle Projekte und gelungene Umsetzungen hervorbringen kann.

Gabriele Vogel 

(Diese Rezension erschien zuerst im Journal der Jugendkulturen #17, Winter 2011)